Stell Dir vor, Du würdest von Deinen Arbeitgeber*innen angewiesen, ein Produkt herzustellen, mit dem Du Krieg führen oder sogar das Leben anderer beenden könntest. Stell dir vor, sein Zweck wurde Dir erst offenbart, nachdem Du schon zu seiner Entstehung beigetragen hast. Hättest Du es vorab gewusst, wärst Du dann trotzdem dazu bereit gewesen? Und was würdest Du tun, wenn Du gebeten würdest, mit niemandem außerhalb des Unternehmens über diese Situation zu sprechen? Würdest Du als normale Zivilist_in immer noch für ein Unternehmen arbeiten wollen, welches Krieg, das Leid und den Tod anderer vereinfacht? Dies war die Situation, in der sich jüngst Hunderte von Mitarbeiter*innen von Technologieunternehmen im Silicon Valley befanden.


Das US-Militär ist bekannt dafür, weltweit führend in der Entwicklung fortschrittlicher Technologien zu sein. Tatsächlich wird ihm weithin schon die Entwicklung des Advanced Research Projects Agency Network oder ARPANET zugeschrieben, das allgemein als Prototyp des Internets angesehen wird. Andere Technologien, wie GPS oder Satellitenbilder, die ursprünglich für und vom US-Militär entwickelt wurden, sind inzwischen für den Alltag von Durchschnittsbürger*innen revolutionär geworden. In den letzten zehn Jahren allerdings wurde das US-Militär von der privaten Technologieindustrie von seinem Sockel der technologischen Innovation gestoßen. Um mit seinen Gegnern auf Augenhöhe zu bleiben, blieb dem Pentagon kaum eine Alternative, als eine höchst eigene Beziehung zum Silicon Valley zu entwickeln.Um diese Beziehung aufrechtzuerhalten, stehen den Regierungsbehörden ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung. Im Jahr 2020 gaben die Staatshaushalte der Nationen auf der ganzen Welt 1.981 Billionen US-Dollar für ihre militärischen Aktivitäten aus. Mit einer Steigerung von 2,6 % gegenüber dem Vorjahr setzt diese Entwicklung nicht nur einen langjährigen Trend weltweit steigender Militärbudgets angesichts einer anhaltenden Pandemie fort; es festigt sich auch die Position der USA als unübertroffener Spitzenreiter auf der Liste mit geschätzten 778 Milliarden US-Dollar und 39 % der weltweiten Militärausgaben.[1] Unternehmungen wie Project Maven[2] und die Joint Enterprise Defense Infrastructure (JEDI)[3] veranschaulichen nicht nur die verstärkte Orientierung des US-Militärs auf künstliche Intelligenz bei der Entwicklung neuer, entscheidungsorientierter Militärstrategien, sondern auch die Tendenz großer Technologieunternehmen, zu diesen Bemühungen beizutragen. Im Dienste dessen werden selbstauferlegte ethische Verpflichtungserklärungen wie Googles „Do no Evil“ zugunsten eines Anteils an lukrativen Staatsaufträgen geschickt umgangen.[4] In den Jahren 2004 bis 2021 haben allein das Heimatschutzministerium (Department Of Homeland Security, DHS) und das Verteidigungsministerium (Department Of Defense, DOD) mehr als 44 Milliarden US-Dollar in die Dienstleistungen von Google, Amazon, Facebook, Microsoft und Twitter investiert.[5] Die Ambitionen des Silicon Valley, enge Beziehungen zu staatlichen Auftragnehmern aufzubauen, sind jedoch nicht an Staatsgrenzen gebunden. Dies zeigt ihr Beitrag zur europäischen Cloud-Computing-Initiative GAIA-X unter der Führung von Frankreich und Deutschland.


Umso mehr Grund, darüber zu sprechen und zu schreiben – in diesem Artikel wollen wir veranschaulichen, wie einige der lukrativsten Verträge zwischen großen Technologiefirmen und dem US-Militär zum Bau von Kriegsmaschinen beitragen, warum wir uns in Deutschland und Europa um dieses Thema kümmern sollten und wie sich Menschen zuvor organisiert haben, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.

Ethische Bedenken gegenüber dem Versuch, die Nadel im Heuhaufen zu finden– Project Maven 

Derzeit ist Project Maven eines der bekanntesten Beispiele für die Zusammenarbeit von Giganten aus dem Silicon Valley mit dem US-Militär. Im Fall von Maven zielt diese darauf ab, „Objekte von Interesse“ durch die automatisierte Analyse riesiger Bild- und Videodatenpools autonom zu identifizieren.[6] Mit einem geschätzten Wert von 250 Millionen US-Dollar pro Jahr[7] erlangte das Projekt 2018 Berühmtheit, als Mitarbeiter*innen von Google LLC einen Streik organisierten, um gegen die Unterstützung ihres Arbeitgebers für die Initiative zu protestieren. In dieser sahen sie einen Verstoß gegen die ethische Selbstverpflichtung Googles zur Unterlassung jedes aktiven Beitrags zu Technologie mit Potenzial der Kriegsanwendung.[8]


Im April 2017 begann der damalige stellvertretende Verteidigungsminister Bob Work mit der Zusammenstellung eines funktionsübergreifenden Algorithmic Warfare Teams. Sein selbsterklärtes Ziel war es, Technologien der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens effizienter in bestehende DOD-Ressourcen zu integrieren, um „[ihre] Vorteile gegenüber immer leistungsfähigeren Gegnern und Konkurrenten“[9] aufrechtzuerhalten. Auch Drew Cukor, Colonel (Oberstleutnant) des Marine Corps und Leiter des neu gegründeten Teams, verlautete bei einer Präsentation im Jahr 2017, dieses Unterfangen könne nur „mit kommerziellen Partnern an unserer Seite“[10] verwirklicht werden.


Einer dieser kommerziellen Partner war Google. Das Unternehmen unterstützte die Initiative, indem es dem Pentagon seine Open-Source-KI-Software TensorFlow zur Verfügung stellte. „Das US-Militär verwendet [TensorFlow] nicht in Waffensystemen, und schon gar nicht in vermeintlich autonomen. Aber allein die Tatsache, dass Google mit dem US-Militär zusammenarbeitet, hat zu Mitarbeiterprotesten geführt, und letztlich dazu, dass das Unternehmen seinen bestehenden Vertrag mit dem Verteidigungsministerium nicht verlängerte“, sagt der US-Sicherheitsexperte und Senior Fellow am Center for a New American Security, Paul Scharre, im Jahr 2018.[11] Im Sinne weiterer Schadensbegrenzung versprach Google-CEO Sundar Pichai in einem Blog-Beitrag von 2018 unter dem Titel „KI bei Google: unsere Prinzipien“ , im Bereich von „Waffen oder anderen Technologien, deren Hauptzweck oder Anwendung darin besteht, Menschen zu verletzen oder dies zu erleichtern“, „KI nicht zu entwickeln oder einzusetzen“[12]. Dass Google die Verbindungen zu Project Maven abbrach, während gleichzeitig die Arbeit an einer Suchmaschine im Einklang mit der Politik der chinesischen Regierung fortgesetzt wurde, betrachtete Paypal-Mitbegründer und Trump-Spender Peter Thiel als „dem Anschein nach verräterisch“[13] - eine Kritik, die vom Vorsitzenden der Stabschefs der Teilstreitkräfte, Marine Corps General Joseph Dunford,[14] wiederholt wurde. 


Eine aktuelle Analyse des Forbes-Mitherausgebers Thomas Brewster ergab, dass inzwischen Amazon Web Services Inc. (AWS) und die Microsoft Corporation (Microsoft) die von Google im Jahr 2019 hinterlassene Lücke geschlossen und sich seitdem insgesamt 50 Millionen US-Dollar an Pentagon-Verträgen gesichert haben.[15] Brewster stellte zudem fest, dass trotz des verstärkten ethischen Engagements von Pichai als CEO von Google dessen Muttergesellschaft Alphabet Inc. Ende 2019 Investitionen in Startups wie Orbital, Planet und ClarifAI unternahm – dies sind Firmen, die über Alphabets Venture-Capital-Flügel GV dem Militär Satellitenbilddaten und Analysedienste anbieten.[16] Nicht nur, dass ihr Fachgebiet an Googles Project Maven-Beitrag erinnert – Orbital hat offenbar sogar einen Auftrag unter dem Maven-Schirm erhalten, der insgesamt 1,8 Millionen US-Dollar für die Entwicklung von „Multispektralen Modellen für Standbilder in großer Höhe“ erhielt.[17]


Mit Rebellion Defense tritt zu Orbital ein weiteres Startup hinzu, das an Maven arbeitet und direkte Verbindungen zum Tech-Giganten aus Mountain View hat. Rebellion Defense wurde von Eric Schmidt[18], dem ehemaligen CEO von Google, gegründet und verpflichtet sich, „KI-Produkte zu entwickeln, die speziell für Verteidigung in einer Zeit entwickelt wurden, in der überlegene Software den nationalen Sicherheitsvorteil bestimmen wird“.[19] Schmidt hat sich einen Namen gemacht, die Kluft zwischen dem Silicon Valley und dem Verteidigungssektor zu überbrücken. Indessen erregte seine Mitgliedschaft in zwei DOD-Beiräten zur Verbesserung seiner KI-Technologien, während er gleichzeitig weiterhin technischer Berater bei Alphabet ist und darüber hinaus 5,3 Milliarden US-Dollar in Aktien der Google-Muttergesellschaft hält, Bedenken in Bezug auf Interessenkonflikte.[20]


Chris Lynch ist CEO und Mitbegründer von Rebellion Defense und ebenso Gründungsdirektor des Defense Digital Service (DDS), jenem „Schnellen Eingreifteam“[21] des Pentagon, das JEDI initiiert hat. JEDI ist vor allem für die rechtliche Pattsituation bekannt, die sie bezüglich des 10-Milliarden-US-Dollar-Projekts zwischen Google und AWS verursacht hat.[22] Auch die Gründungspartner von Lynch, Nicole Camarillo und Oliver Lewis, teilen beide seine langen Erfahrungen im Sicherheitssektor.[23]


Diese Dynamik fügt sich nicht nur in Googles Geschichte aktiv dem Geld der Pentagon-Verträge zu folgen und gleichzeitig engagiert daran zu arbeiten, ein Image als „Do no Evil“-Verbrauchertechnologie-Innovator aufrechtzuerhalten; es ist auch ein Hinweis auf die wieder und wieder zu beobachtende Einstellungspraxis einer Drehtür zwischen dem US-Verteidigungssektor und dem Silicon Valley.[24]

Die Macht in die Cloud bringen – das Joint Enterprise Defence Infrastructure Project (JEDI)[25] 


Noch bevor das Joint Enterprise Defense Infrastructure (JEDI)-Projekt Aufmerksamkeit wegen des Rechtsstreits darum erregte, stand es für einen weiteren wichtigen Entwicklungsbereich, für den das DOD Unterstützung von großen US-Technologieunternehmen suchte. JEDI war ein Multi-Cloud-Computing-Projekt, das darauf abzielte, eine verbesserte Verständigung zwischen dem Pentagon und Soldaten im Feld sowie zwischen den verschiedenen Verteidigungsbehörden zu unterstützen. Der Auftrag, für den als Zuschlagsempfänger AWS erwartet worden war, wurde schließlich an Microsoft übertragen, eine Entscheidung, die AWS später vor Gericht anfocht.


Im Juli 2021 gab das Verteidigungsministerium jedoch bekannt, dass es den JEDI-Vertrag im Wert von 10 Milliarden US-Dollar auflösen werde. Die Begründung war, dass er die Bedürfnisse des Ministeriums nicht mehr erfülle. In Wirklichkeit beruhte diese Entscheidung auf Erwägungen dahingehend, dass sich die Anforderungen des Verteidigungsministeriums schnell ändern, der Rechtsstreit zwischen den Anbietern die Lieferfrist aber über ein akzeptables Limit hinausschieben würde. Unmittelbar nach der Absage gegenüber JEDI wurde vom DOD das Projekt Joint Warfighting Cloud Capability (JWCC) als Ersatz angekündigt. Letzteres unterscheidet sich von JEDI darin, dass der Auftrag nicht an mehrere Cloud-Dienstanbieter vergeben wird, die das DOD für fähig hält, seine Anforderungen zu erfüllen; vielmehr wird eine einzige Cloud-Entität über einen einzelnen Anbieter entwickelt. Im Weiteren würde jeder Anbieter mit der Entwicklung einer Cloud-Entität mit einem bestimmten Zweck beauftragt werden. Dieser Schritt soll dazu führen, dass jede Cloud besser geschützt ist und Sicherheitsverletzungen einfacher eingedämmt werden können. Vergebene Verträge würden die Form einer „unbestimmten Lieferung in unbestimmter Menge“ (IDIQ) annehmen und eine unbestimmte Anzahl von Dienstleistungen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens festlegen. Das DOD gab im November 2021 bekannt, dass es erwartet, IDIQ-Aufträge jeweils an Microsoft und AWS zu vergeben. Es richtete auch eine Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen und Anschluss an die Initiative an Google Cloud und Oracle.


Und hier beginnt die Kontroverse. Der von Google-Mitarbeiter*innen organisierte Streik wegen Googles Beteiligung an Project Maven schuf den Präzedenzfall für die Entscheidung des Unternehmens, sich nicht für den JEDI-Vertrag zu bewerben. Der CEO von Google Cloud, Thomas Kurian, erklärte in einem Blogbeitrag vom 12. November 2021, dass seine Entscheidung, sich nicht an JEDI zu beteiligen, zwar auf mangelnder Gewissheit beruhe, in diesem Fall mit seiner Arbeit nicht gegen die KI-Ethikprinzipien zu verstoßen, er jedoch bezüglich des Beitritts zum JWCC der Ansicht sei, dass dieser keinen Verstoß gegen die Selbstverpflichtung darstellen würde. Er räumte allerdings ein, es werde davon ausgegangen, dass nicht alle Mitarbeitenden dieser Argumentation zustimmen würden. [26] Kurian versuchte dies mit der Unterscheidung zwischen JEDI und JWCC zu rechtfertigen, sowie indem er andere verteidigungsbezogene Projekte hervorhob, bei denen erfolgreich mit dem Verteidigungsministerium zusammengearbeitet worden sei, ohne den Ethikkodex zu verletzen. Kurians Blogbeitrag stellte eine Antwort auf Fragen aus einem unternehmensweiten Mitarbeitendentreffen dar, bei dem über 1000 Mitarbeiter*innen die Beteiligung von Google am JWCC in Frage gestellt hatten. [27] AWS hatte indessen zum Zeitpunkt des Schreibens keine internen Kontroversen oder ethischen Bedenken im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an JEDI oder JWCC gemeldet.

Große Unternehmen, kleine Player – Apple und Facebook

Unter den großen Technologieunternehmen, mit denen das Verteidigungsministerium zusammenarbeiten möchte, scheint Apple ein relativ kleiner Akteur zu sein. 2015 wurde das Unternehmen Mitglied eines Konsortiums aus 162 Unternehmen namens FlexTech Alliance, welches mit der Entwicklung verschiedener Hardwaretechnologien für Verteidigungszwecke beauftragt wurde. Ziel des 75-Millionen-US-Dollar-Projektes war, flexible elektronische Systeme zu entwickeln, die in Materialien wie Silizium eingebettet werden können - einerseits leicht genug, um von Soldaten getragen zu werden, aber andererseits widerstandsfähig genug, um an der Außenseite von Flugzeugen angebracht zu werden.[28] Obwohl Apple vor dem Beitritt zur Allianz keine Partnerschaft mit dem Militär eingegangen war, befürchtete die Geschäftsleitung, dass die Gewinnwachstumsmarge des Unternehmens zu stagnieren beginnen würde, wenn nicht neue und alternative Märkte für die Expansion erkundet würden.


Traditionell machte der Verkauf des iPhones den Großteil der Gewinne von Apple aus. Da der Markt zunehmend überschwemmt wurde und seine Konkurrenten aufstiegen, war das Unternehmen jedoch gezwungen, in alternative Produktmärkte vordringen.[29]  In ähnlicher Weise ist auch Meta Platforms Inc. – früher bekannt als Facebook Inc. – mit insgesamt 365.000 US-Dollar an DHS- und 170.000 US-Dollar an kleineren DOD-Verträgen als relativ kleiner Akteur neben Apple im Geschäft um militärische Auftragsvergaben vertreten.[30]
 

Europa zur Datensouveränität verhelfen – GAIA-X 

Mit einer Wendung des Blicks von den USA nach Europa wird offensichtlich, dass das Know-how von Silicon Valley Tech-Unternehmen zur Realisierung von Projekten einer bestimmten Skala nicht nur in den US-Grenzen verbleibt. Hierfür ist das Projekt Gaia-X beispielhaft. Initiiert 2019 "mit dem Ziel, eine vertrauenswürdige und souveräne digitale Infrastruktur auf der Grundlage europäischer Regeln"[31] zu schaffen, ist Gaia-X der deutsch-französische Versuch, eine europäische Open-Source-Alternative zu Cloud-Computing-Technologien von US-amerikanischen und asiatischen Tech-Giganten aufzubauen, die den Markt dominieren. Um die Bemühungen zu erkennen, gründeten 22 Partner aus dem Tech-, Wirtschafts- und Wissenschaftssektor zunächst im September 2020 die belgische gemeinnützige Organisation GAIA-X European Association für Daten und Cloud AISBL, in der sich große deutsche Player wie BMW, Bosch, Deutsche Telekom, Fraunhofer Gesellschaft, SAP und Siemens zusammenfanden.[32] Wiewohl militärische Anwendungen nicht als Hauptzweck des Projekts mitgeteilt werden, beschreibt der IT-Anbieter der Bundeswehr BWI GAIA-X gleichwohl als leistungsfähige Ressource für die Streitkräfte, um "die notwendigen Steuerungs- und Aktionsoptionen im Cyber- und Informationsraum aufrechtzuerhalten und ihre verfassungsmäßige Mission erfüllen zu können - selbstbestimmt und frei von unerwünschtem Einfluss von Drittanbietern."[33]


Seit Gründung der Initiative stieg die Zahl ihrer Beteiligten schnell auf über 300 an, was Kritik auf sich zog, weil sie chinesische Mitglieder wie Huawei oder Alibaba sowie große US-Firmen umfasste. „Während viel über Cloud-Souveränität geredet wird, setzen aktuelle Pläne der Regierungen in Europa im Rahmen von GAIA-X immer noch auf US-Technologien von AWS, Google und Microsoft, die ausländischer Überwachung unterliegen“[34], kommentiert die European Cloud Industrial Alliance (EUCLIDIA) die im Jahr 2020 von 23 Unternehmen gegründet wurde, um gegen die Entwicklung zu protestieren[35].


Noch größere Besorgnis erregte die Beteiligung des Big-Data-Integrationsunternehmens Palantir, Auftragnehmer der US-Spionagebehörde, die ankündigten, im Dezember 2020 „GAIA-X als stolzes Mitglied des ersten Tages“[36] beigetreten zu sein. Dies, so Beobachtende, „sollte die Menschen in Europa zumindest mit der Augenbraue zucken lassen“.[37]


Betrachtet man die heftigen Proteststimmen einer politischen und unternehmerischen Opposition, so könnte man feststellen, dass dies der Fall ist – eine weitere ist Anne Roth, netzpolitische Beraterin der deutschen Linkspartei, die auf Twitter kommentiert: „Da geht es hin, das Vertrauen in die europäische Souveränität“.[38]


Palantir wurde von Peter Thiel mitbegründet und hat sich einen Namen in der Entwicklung von KI-Tools mit dem Zweck gemacht, sowohl autokratischen als auch liberaldemokratischen Regierungen bei der Überwachung ihrer Bürger*innen und Grenzen zu helfen.[39]  Christopher Soghoian, ein Techniker bei der US-Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union, nannte Palantir „eine Schlüsselkraft im Überwachungs-Industrie-Komplex“.[40] GAIA-X ist nicht der erste Großauftrag des Überwachungskonzerns in Europa. Seit 2016 nutzt Europol für seine Ermittlungen das von diesem Unternehmen entwickelte Anti-Terror-Tool „Gotham“[41], und seit 2017 wird das Programm unter dem Namen „Hessendata“ auch vom Bundesland Hessen genutzt.[42]


„Bis zu einem gewissen Grad liegt der Fokus dieser amerikanischen Unternehmen auf einem fast kolonialen Verhalten“, kommentiert Jack Poulson, ehemaliger Google-Datenwissenschaftler und Gründer von Tech Inquiry, einer NGO. Diese konzentriert sich auf die Analyse wiederkehrender öffentlicher Aufträge, um Verbindungen zwischen Privaten Tech-Konzernen und der US-Regierung transparenter zu machen. „Offensichtlich gibt es überall Menschenrechtsprobleme – egal, ob Palantir dazukommt und Technologie verkaufen will, um die Grenzüberwachung oder Abschiebungen zu verstärken. Und sicher ist, dass diese Unternehmen enge Beziehungen zu den Geheimdiensten in ganz Europa unterhalten.“[43] Hinsichtlich der Investitionen von US-Technologieunternehmen in die Verbesserung dieser Beziehungen führt Poulson aus: „Ich sehe nicht, warum es sich grundlegend anders entwickeln sollte als in den USA, selbst wenn man erwarten könnte, dass Europa versuchen wird, seine eigenen Analoga zu diesen Unternehmen zu schaffen“.[44]


Noch vor Palantirs GAIA-X-Ankündigung, im Oktober 2020, erklärte Sophie in 't Veld, niederländisches Mitglied des Europäischen Parlaments und Mitarbeiterin der Renew Europe Group: „Ein Unternehmen mit der Erfolgsbilanz von Palantir sollte nicht als Partner für irgendein EU- weites Projekt in Betracht kommen, und die Europäische Kommission weiß das. Dieses geheim arbeitende Unternehmen steht im Widerspruch zu den europäischen Werten, die vielen EU-Bürgerinnen und -bürgern am Herzen liegen, wie Privatsphäre, bürgerliche Freiheiten und Transparenz der Regierung – ganz zu schweigen von den strategischen Implikationen der Zusammenarbeit mit einem US-amerikanischen Geheimdienstunternehmen.“[45] Neben Bedenken hinsichtlich der Datenhoheit zeigen jüngste Berichte, dass das Projekt unter Überbürokratisierung, mangelnder Fokussierung und Verwirrung über widersprüchliche Interessen leidet, was bereits dazu führte, dass der französische Cloud-Anbieter Scaleway seinen Beteiligungsvertrag im November 2021 nicht verlängerte.[46]

Organisierung der Opposition – die Herausforderung und Möglichkeit, Whistleblower zu werden

Die Beweislage indiziert eine sowohl national als auch global starke Verbindung zwischen großen US-Technologieunternehmen und Militärprojekten. Dies wirft grundsätzlich die Frage auf, wie die Folgen nachhaltig bewältigt werden können. Wenn wir uns die Geschichte eines ehemaligen Technikmitarbeiters betrachten, der bei der Analyse und Veröffentlichung potenziell schädlicher Verträge mithalf, lassen sich die mit einem solchen Unterfangen verbundenen Kämpfe und Fallstricke und die Ressourcen, die erforderlich sind, um sie zu überwinden, vielleicht am besten aufzeigen. Nahezu alle verfügbaren Untersuchungsberichte zu diesem Thema basieren auf Informationen, die von Poulsons gemeinnütziger Tech Inquiry bereitgestellt wurden. Nach dessen Rücktritt wegen des später abgebrochenen zensierten Suchmaschinenprojekts von Google in China im Jahr 2018 erfolgte der Übergang in den NGO-Sektor nicht sofort, erinnert er sich. „Ungefähr in den ersten anderthalb Jahren waren wir so maschinenstürmerisch, wie man nur sein kann. Unser ganzes Sinnen und Trachten lag darauf, mit Journalistinnen und Journalisten zu sprechen und das Bewusstsein für Themen zu schärfen, mit denen die Leute im NGO-Sektor hingegen seit langem vertraut waren.“


Der Ansatz, Bedingungen für Aufträge wie auch Verbindungen zwischen Auftragnehmenden zu überwachen, entwickelte sich aus einer Beobachtung in der Branche. „Als ich mich mit einigen der höheren Beamten traf, stellte ich fest, dass Menschenrechtsfragen sie nicht besonders beschäftigten. Es ging vielmehr darum, eine enge militärische Beziehung zu den US-Technologiekonzernen aufrechtzuerhalten“[47], erinnert er sich. „Im Zuge dessen wurde mir bewusster, wie viel Bürokratie diese Beziehungen umgab, sei es das Defense Innovation Board, die Defense Innovation Unit, die National Security Commission on AI, In-Q-Tel usw. Ich fing an, Anfragen im Sinne der Informationsfreiheit zu einigen dieser Verhältnisse zu stellen und kam zu dem Schluss, dass sehr viele Beziehungen zwischen diesen Unternehmen einfach nicht gut dokumentiert sind.“[48]


Tech Inquiry entstand aus dieser Praxis und schloss andere ehemalige Mitarbeitende aus der Technologiebranche als Vorstandsmitglieder wie auch als Mitwirkende an der Forschung der gemeinnützigen Organisation ein. Während sich die Arbeit der Organisation nicht ausdrücklich auf Abrüstung konzentriert, schlagen einige Mitglieder durch ihr Engagement in antimilitaristischen Kampagnen eine Brücke zu pazifistischen Bewegungen. Ein prominentes Beispiel ist die „Kampagne zum Stopp von Tötungsrobotern“, eine große globale Initiative, die ein Verbot tödlicher autonomer Waffen fordert. „Einige der Mitglieder und Vorstandsmitglieder von Tech Inquiry haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Zum Beispiel hatte Liz O'Sullivan ClarifAI wegen deren Arbeit an der Drohnenüberwachung verlassen. Lauren Nolan hatte Google wegen der Arbeit an Project Maven verlassen.“[49]

Antworten an unerwarteten Stellen

Die Verbindungen zwischen großen US-Technologieunternehmen und der US-Regierung nur auf ihre Auswirkungen auf militärische Aktionen zu untersuchen, ist jedoch nicht besonders hilfreich, um die Realität zu erfassen, wie Technologieunternehmen ihre Geschäfte führen, sagt Poulson. „Ich tendiere zu der Feststellung, dass Technologieunternehmen aus ihrer eigenen Perspektive eigentlich nur versuchen, ihre Technologien überall zu verkaufen. Es gibt eine andere Betrachtungsweise, der zufolge viele militärische Technologien als vorgelagerte Anwendungen zu betrachten sind, die über Drohnen- und autonome Grenzüberwachung, Gesichtserkennung usw. in die Hände des Heimatschutzministeriums gelangen werden. Und danach arbeiten sie sich zu einer stärker kommunalen Nutzung vor.“[50]


Die Analyse auf eine breitere Palette von Verträgen auszuweiten, kann Poulson zufolge Probleme in Bereichen aufdecken, die andernfalls unberücksichtigt bleiben würden: „Wenn Sie die Beschaffung viel genauer überwachen und ein tieferes Verständnis für die Bürokratie der US-Regierung entwickeln, begreifen Sie, dass die Geheimdienste sehr eng mit etlichen Behörden zusammenarbeiten, an die die Leute normalerweise nicht denken.“[51]


Dies trägt außerdem dazu bei, die angebliche ethische Neutralität von Verträgen mittels des öffentlichen Diskurses neu zu kontextualisieren. Ein Bereich, auf den sich dies besonders auswirken könnte, ist Cloud Computing, so Poulson. „Einer unserer großen Fortschritte war zu zeigen, dass Google Cloud an ein Unternehmen namens Thundercat Technology verkauft wurde – seines Zeichens ein ziemlich produktiver Auftragnehmer der US-Zoll- und Grenzschutzbehörde. Wir fanden Beweise dafür, dass Thundercat plante, die KI von Google Cloud zur Verarbeitung von Wärmebildern aus der autonomen Grenzüberwachung von Anduril Industries zu nutzen, was völlig der Art und Weise widerspricht, wie Google sich zu dem positioniert hat, was es an der US-Grenze tun würde und was nicht. Dies wirft interessante Fragen auf, wenn man bedenkt, welche Rolle Cloud Computing finanziell und technologisch spielt. Es ist sowohl ein großer Bestandteil des Verteidigungsumsatzes als auch eine erhebliche Einnahmequelle für große Technologieunternehmen.


Wenn die Technologieunternehmen Cloud Computing als moralisch neutral darstellen, wie wir es nach Maven beobachtet haben, wie zeigen wir dann, was sie aktiv beitragen? Welchen Zugriff in Sachen Rechenschaftspflicht gibt es, jenseits der Möglichkeit, dass Mitarbeiter beispielsweise interne Kommunikation durchsickern lassen? Meiner Ansicht nach können wir, je mehr wir zeigen, was diese sogenannten Black-Box-Cloud-Verträge real bewirken, die Erzählung zurückdrängen, diese materielle Unterstützung für Militärs und Geheimdienste auf der ganzen Welt sei nur gleichbedeutend mit dem Verkauf eines Haufens Stahl an sie – und zeigen, dass es einen tatsächlichen, direkten Beitrag zu ihren Aktivitäten gibt.“[52]

Aufbau von Strukturen für eine wirksame Gegenbewegung

Die Entscheidung von Mitarbeitenden, gegen als unethisch empfundene Praktiken Einwände zu erheben, schafft oft ein Spannungsfeld zwischen dem Richtigen und dem Streben nach einer langfristigen Karriere – ein Konflikt, den Tech Inquiry durch den Schutz der Identität von Hinweisgeber*innen zu entschärfen versucht. Aber auch ohne diese Sicherheitsebene gibt es Möglichkeiten für Tech-Mitarbeiter, sich zu äußern. „Du musst deinen Namen nicht hinter irgendetwas setzen. Wenn du der Presse etwas mitteilen möchtest, kannst du es anonym tun“[53], erklärt Poulson. 


Selbst mit zusätzlichen Ressourcen, die vom NGO-Sektor bereitgestellt werden, kann der Druck, der aus diesem individuellen Konflikt entsteht, Mitarbeitende dazu veranlassen, sich für einen weniger konfrontativen Ansatz zu entscheiden, um wahrgenommene Probleme anzugehen – eine Praxis, die von Führungskräften oft als Gelegenheit genutzt werde, inaktiv zu bleiben, so Poulson. „Dies führt uns ins Zentrum einer Debatte über Organizing versus offenen, individuellen Protest. Organizing ist meiner Ansicht nach erkennbarer Weise einer der nachhaltigeren Wege. Es baut in gewissem Sinne Kraft auf. Ich finde, es sollte mehr in Whistleblowing-Kreisen auftauchen. Und es ist etwas, wofür ich mich viel eingesetzt habe. Einer der Fallstricke, die ich erlebt habe, war, dass viele der älteren Leute, die ich kannte, nicht annähernd das taten, was wir traditionell unter Organizing verstehen würden. Die ‚Veränderung von innen‘-Erzählungen werden oft als Entschuldigung dafür verwendet, warum es für sie in Ordnung ist, nichts zu tun. Ich habe das Gefühl, dass über diese Seite der Auseinandersetzung nicht viel gesprochen wird. Eine Frage wäre, wie man verhindern kann, dass Menschen mit der Vorstellung einer „Änderung von innen“ davonkommen“[54] – und dies ist ein Prozess, bei dem gewerkschaftliches Organizing eine entscheidende Rolle spielen kann.


Laut Poulson können die Gewerkschaften gleichwohl nur Beitragende zu einem weit ganzheitlicheren Problemlösungsansatz sein. „Die Komplikation besteht darin, dass Gewerkschaften oft die Interessen der Arbeitnehmer*innen vertreten, die sich jedoch dramatisch von den Interessen der Öffentlichkeit unterscheiden können. Daher lohnt es sich stets zu betonen, dass wir neben Gewerkschaften auch Koalitionen fordern, einschließlich unabhängiger Organisationen der Zivilgesellschaft.“[55] Dies bedeute auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen den NGOs in der Region. „Das heißt nicht, niemals zu kritisieren. Aber wenn gemeinnützige Organisationen zusammenkommen und an Projekten arbeiten, die ihre Stärken kombinieren, statt miteinander zu konkurrieren, führt dies tendenziell zu einer enormen Wirkung.“[56]


Damit dies nachhaltig getan werden kann, ist jedoch die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit erforderlich. „Eines der größten Probleme im gemeinnützigen Bereich ist, dass das meiste Geld von genau den Tech-Milliardären stammt, die im Fokus der Kritik stehen. Wenn wir den Einfluss von Tech-Milliardären wirklich bekämpfen wollen, müssen wir in der Lage sein, uns selbst zu erhalten.


Selbst bei den angesehensten Organisationen können wir ständig sehen, wie hochrangige Persönlichkeiten in Technologieunternehmen wechseln, weil dort so viel Macht ist. Und ehrlich gesagt: NGO können normalerweise nicht sehr gut bezahlen. Deswegen werden wir wohl nicht darum herumkommen, die Zivilgesellschaft schlichterdings zu einem Ort zu machen, an dem Menschen wirklich Karriere machen können. Das wird letztendlich aus Steuern, zunächst aber aus Spenden der Basis kommen.“[57]


Um diese Mittel zu erwerben und sinnstiftende Allianzen zum Aufbau einer nachhaltig organisierten Zivilgesellschaft als Korrektiv zum Kriegsgeschäft des Tech-Sektors in Deutschland und Europa zu schmieden, müssen wir jedoch zunächst Räume des Diskurses und des Austauschs schaffen. Dies sind Räume, die Krieg interdisziplinär und intersektional definieren, in denen die Perspektiven der am stärksten von der Kriegstechnik Betroffenen berücksichtigt werden – von Gemeinschaften in aktiven Kriegsgebieten über Flüchtlinge, die an den europäischen Grenzen sterben, bis hin zu Gruppen, die im Inland besonders marginalisiert und überwacht werden.


Nur aus diesem Diskurs kann eine Bewegung hervorgehen, die Tech-Unternehmen auf der Basis von Menschenrechten und nicht lediglich aufgrund selbst auferlegter ethischer Verpflichtungen zur Rechenschaft zieht. Das wäre eine Bewegung, die sich nicht darauf beschränkt, Google wegen Umgehung seiner ethischen Richtlinien anzugreifen, sondern die Frage erhebt, warum nicht mehr Unternehmen solche Richtlinien formulieren.


Technologie ist eine menschliche Erfindung, deren Zweck und Verwendung wir kontrollieren. Insofern gibt es keine Grundlage für die Behauptung, sie sei neutral. Technologie war schon immer politisch und wird es auch weiterhin sein. In einer Welt, in der jede Person, die verbrauchsorientierte Dienste von Unternehmen aus dem Silicon Valley nutzt, deren Datenpool und deren Einnahmen steigert, gibt es keine Entschuldigung dafür, nicht aktiv zu werden – nicht in den USA, nicht in Europa und nicht auf der ganzen Welt.