Runde Geburtstage bedeutender Persönlichkeiten beleben das Geschäft mit Biografien wie nichts anderes. Da macht auch Marx keine Ausnahme. Nachdem bereits 2013 Jonathan Sperbers »Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert« erschienen ist, kam diesen September nur wenige Tage, nachdem Jürgen Neffe »Marx. Der Unvollendete« präsentiert hatte, die deutsche Übersetzung der 2016 erschienenen Marx-Biografie von Gareth Stedman Jones heraus. Im nächsten Frühjahr, gerade noch rechtzeitig vor dem 200. Geburtstag, werde ich mich diesem Reigen anschließen und den ersten Band eines auf drei Bände angelegten Projektes vorlegen: »Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft. Biographie und Werkentwicklung«.
Biografien haben sich bei der Linken lange Zeit keiner großen Beliebtheit erfreut. Ging es um politisch wichtige Personen, standen Biografien im Verdacht, einer individualisierenden Geschichtsauffassung à la Treitschke (»Männer machen Geschichte«) Vorschub zu leisten, während wir doch wussten, dass Geschichte von Klassenkämpfen und der Veränderung sozioökonomischer Strukturen angetrieben wird. Vollends suspekt waren Biografien von linken Theoretiker*innen: Was sollte die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte bringen, wenn es doch um eine Auseinandersetzung mit der Theorie ging?
Das verbreitete Naserümpfen beim Thema Biografie ist nicht unbegründet. Die große Mehrzahl der jährlich erscheinenden Biografien ist ein wildes Gemisch aus bekannten Fakten, kolportierten Anekdoten, etwas Vulgärpsychologie und den speziellen Weisheiten der Biograf*innen. Auch bei etwas seriöseren Biografien wird häufig nicht genau zwischen dem unterschieden, was sich aus den Quellen einigermaßen sicher ergibt, und was lediglich eine mehr oder weniger gut begründete Vermutung ist. Liegen zu einer Person schon mehrere Biografien vor, dann wird in neueren Biografien gern wiederholt, was schon in älteren behauptet wurde, wobei sich die wenigsten Biograf*innen darum kümmern, ob diese Behauptungen auch einigermaßen gesichert sind. So funktioniert Legendenbildung.
Das alles findet sich auch bei vielen Marx-Biografien. Über Francis Wheens 1999 erschienene Marx-Biografie ist zu lesen, er habe Marx von seiner »menschlichen« Seite gezeigt. Auch wenn dieses Buch gerade für ›Einsteiger*innen‹ eine fesselnde Lektüre bietet, ist es doch so, dass es für viele der Wheen’schen Anekdoten keine Belege gibt, oder es sich um phantasievolle Ausschmückungen kleinster Hinweise handelt. Bis zum Ende des Kalten Krieges galt für viele Marx-Biografien, dass je nach politischer Einschätzung der Marx’schen Theorie die Person Marx auf- oder abgewertet wurde. Denen, die der Marx’schen Theorie kritisch gegenüberstanden, war häufig schon die Person höchst verdächtig. Marx soll herrschsüchtig gewesen sein, Familie und Freunde ausgenutzt haben. Umgekehrt wurde Marx von nicht wenigen Marxist*innen als stets edel und gut präsentiert und bei Konflikten hatte er natürlich immer Recht.
Ganz so plump geht es heutzutage nicht mehr zu. Heldenverehrung ist out, die persönlichen Abwertungen sind subtiler geworden. Aber nach wie vor dient das Marx’sche Leben dazu, Urteile über die Theorie zu stützen. Besonders deutlich wird dies bei den von Sperber und Stedman Jones vorgelegten Biografien. Bei beiden ist der englische Originaltitel aussagekräftiger als die deutsche Version: »A Nineteenth-Century Life« (Sperber) und »Karl Marx. Greatness and Illusion« (Stedman Jones). Sperber lässt bereits in der Einführung seines Buches keinen Zweifel daran, dass uns Marx heute nichts mehr zu sagen hat. Einige Rezensent*innen merkten daher an, dass es ziemlich merkwürdig sei, eine umfangreiche Biografie über eine Person vorzulegen, deren Werk man für so irrelevant hält. Bei Stedman Jones ist das Urteil nicht ganz so radikal wie bei Sperber: Marx wird eine gewisse »greatness« zugebilligt, aber vor allem viel »illusion«. Bei beiden Autoren ist das grundlegende Argument, Marx sei mit seinen Theorien so stark dem Diskurs und den Erfahrungen seiner Zeit verhaftet gewesen, dass für die gegenwärtigen Probleme bei ihm nicht mehr viel zu lernen sei. Für Sperber reduziert sich die ökonomische Theorie von Marx auf den Kapitalismus des frühen 19. Jahrhunderts, für Stedman Jones wurzeln Marx’ politische Vorstellungen in der Zeit des »Vormärz«, der Zeit vor den europäischen Revolutionen von 1848. Freundlicher wird Marx von Jürgen Neffe behandelt. Er stellt bei Marx diejenigen Elemente heraus, die ihm für die Gegenwart passend erscheinen: Angesichts der Finanzkrise von 2007/8 fühle man sich an die »prophetische Stimme aus dem 19. Jahrhundert erinnert«, die »dem Kapitalismus den unweigerlichen Zusammenbruch verhieß«. Aber hat Marx wirklich den »Zusammenbruch« vorhergesagt, und wenn ja, hielt er diese Aussage aufrecht?
Bei allen drei Autoren hat man den Eindruck, dass die Botschaft, die sie vermitteln wollen, von vornherein feststeht und dass die Marx-Biografien lediglich dazu dienen sollen, dieser Botschaft eine größere Plausibilität zu verleihen. Von offenen Fragen, von Neugier auf einen noch nicht völlig bekannten Gegenstand oder gar der Infragestellung eigener Urteile aufgrund der Arbeit an der Biografie ist nicht viel zu spüren. Auch die in den letzten 40 Jahren sowohl in der Geschichts- als auch in der Literaturwissenschaft geführten Debatten über die Grenzen biografischen Schreibens, etwa darüber, wie bestimmte Erzählstile dem Lebensverlauf eine Zielgerichtetheit aufprägen, sind an diesen Marx-Biografen spurlos vorübergegangen.
Inzwischen sind Marx-Biografien zu einem Teil der Auseinandersetzung über die Relevanz der Marx’schen Theorie geworden. Und da Biografien einen wesentlich breiteren Kreis von Leser*innen erreichen als rein theorieorientierte Beiträge, ist ihre Wirkung nicht zu unterschätzen. Allein das ist bereits ein Grund, sich mit dem Thema Marx-Biografie zu beschäftigen, aber es ist bei Weitem nicht der einzige. Ich sehe zumindest drei weitere Gründe.
Erstens. Als jemand, der gleichzeitig politisch interveniert und die politische und ökonomische Entwicklung analytisch reflektiert, agiert Marx zwar unter historisch ganz anderen Umständen, als wir das heutzutage tun, aber bestimmte strukturelle Probleme sind den gegenwärtigen durchaus ähnlich. Wie geht man mit einer weitgehend bürgerlichen Presselandschaft um? Wie agiert man in einem parlamentarischen System, in dem eine radikale Linke weitgehend marginalisiert ist? Welche Bündniskonstellationen und welche Organisationsformen sind unter welchen Bedingungen anzustreben? In welcher Form wird Kritik an den Bündnispartnern geübt, was führt zum Bruch von Allianzen? Die Untersuchung solcher Fragen ist nicht deshalb nützlich, weil sich die Marx’schen Antworten stets als richtig erwiesen hätten. Im Gegenteil: Nicht selten waren sie falsch oder fragwürdig. Allerdings waren sie in der Regel ziemlich reflektiert und die Reflexionen sind uns über Briefe und Zeitungsartikel zugänglich. Es lohnt sich zu untersuchen, aufgrund welcher – vorhandenen oder fehlenden – Kenntnisse und Einschätzungen und aufgrund welcher politischen Interessen Marx zu welchen Urteilen kam. Dabei lässt sich auch aus einer falschen Antwort noch so manches lernen.
Zweitens. Noch immer ist es weitverbreitet, die großen Marx’schen Werke ohne Bezug zu ihrem historischen Kontext als mehr oder weniger zeitlose Abhandlungen zu lesen und die vielen kleinen Zeitungsartikel, die Marx verfasste, als bloßes Tagesgeschäft zu ignorieren. Eine biografische Studie, die auch die Werkentwicklung einschließt, kann hier zu weitaus präziseren Einschätzungen führen, indem sie einerseits das Zeitbedingte, aus aktuellen Problemen Resultierende an jenen großen Werken aufzeigt, andererseits aber auch deutlich macht, dass in der Vielzahl von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln so manche analytische Perle zu finden ist. Während Marx nie dazu kam, sein geplantes Buch über den Staat zu schreiben, setzte er sich in unzähligen Artikeln mit aktuellen politischen Problemen auseinander. Einige Elemente jener vermissten Theorie des Staates lassen sich hier aufspüren, und das ist nicht der einzige Ertrag dieser Artikel.
Drittens. Betrachtet man das Marx’sche Werk als Ganzes, dann ist es nicht nur ein Torso geblieben, es besteht vielmehr aus einer ganzen Reihe von Torsos: Es sind Anfänge, Abbrüche und Neuanfänge mit größeren oder kleineren konzeptionellen Verschiebungen. Bereits Marx’ Dissertation von 1841 sollte den Auftakt einer Reihe von Studien zur nach-aristotelischen griechischen Philosophie (mit durchaus aktuellen Bezügen zur nachhegelschen Philosophie) bilden, die nie geschrieben wurden. Die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« von 1844 sollten als Kritik der Nationalökonomie eine Serie von Kritiken (der Politik, des Rechts, der Moral) eröffnen, zu der es nie kam. Seine »Kritik der politischen Ökonomie« wollte Marx in sechs Büchern darlegen (Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt), es erschien aber lediglich jenes »Erste Heft« von 1859, das nur Ware und Geld behandelte. Im Vorwort des 1867 veröffentlichten ersten Bands des »Kapital« kündigte Marx noch drei weitere Bücher an, die er aber in den 16 Jahren bis zu seinem Tod nicht vollenden konnte – nicht zuletzt deshalb, weil Marx in den 1870er Jahren den Gegenstand seiner Untersuchung nochmals erheblich ausweitete.
Will man verstehen, wie es zu diesen vielen Torsos kam, dann kommt man an der Marx’schen Biografie nicht vorbei. Marx hat nicht nur wissenschaftlich gearbeitet, er war auch ein politisch intervenierender Journalist und ein revolutionärer Aktivist, der Bündnisse einging, der sich am Aufbau verschiedener Organisationen beteiligte und in politische Konflikte verwickelt war, nicht nur mit Gegner*innen, sondern auch mit früheren Mitstreiter*innen. Diese verschiedenen Seiten von Marx’ Leben waren keineswegs getrennt. Marx’ wissenschaftliche Einsichten waren kein Selbstzweck, sie waren auf eine gesellschaftsverändernde Praxis ausgerichtet und beeinflussten seine journalistische Arbeit und sein politisches Engagement. Andererseits führten die journalistischen und politischen Aktivitäten nicht nur zu Unterbrechungen der wissenschaftlichen Arbeit, sie konfrontierten Marx auch mit neuen Themen und Problemen und führten zur Verschiebung seiner Forschungen und zuweilen auch zu grundlegend neuen Konzepten. Die Marx’schen Texte sind Resultate fortdauernder Lernprozesse auf verschiedenen Ebenen, die aber keineswegs linear verlaufen sind. Marx hat nicht immer alles nur besser begriffen, zuweilen befand er sich auch in einer Sackgasse. Will man diese Prozesse begreifen und damit auch zu einer besseren Einschätzung der Werke und ihrer Entwicklung gelangen, was durch die seit 1976 erscheinende (zweite) Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) auf einer neuen Textgrundlage ermöglicht wird, dann kommt man um biografische Studien nicht herum.
Die Marx’schen Lernprozesse finden vor einem bestimmten historischen Hintergrund statt und in Auseinandersetzung mit konkreten Personen. In vielen Biografien spielen diese Personen nur als Stichwortgeber eine Rolle. Nicht selten werden sie nur durch die Brille der späteren Marx’schen Urteile gesehen. Wenn man zum Beispiel Bruno Bauer nur von der »Heiligen Familie« (1845) und der »Deutschen Ideologie« (1845/46) her betrachtet, dann ist es völlig unverständlich, wieso Bauer zwischen 1837 und 1842 nicht nur Marx’ engster persönlicher Freund, sondern auch sein wichtigster politischer Partner war. Und Bauers Positionen werden um einiges verständlicher, wenn man nicht nur den Marx’schen Spott aus dem Jahr 1845, sondern auch die diskursive und politische Entwicklung in Deutschland zwischen 1835 und 1844 etwas eingehender zur Kenntnis nimmt, als dies üblicherweise der Fall ist. Ähnliches gilt auch für die Betrachtung anderer, für die Marx’sche Entwicklung wichtiger Personen wie etwa Ferdinand Lassalle oder Michail Bakunin. Die politischen Konzeptionen beider verdienen es, ernster genommen zu werden, als dies zumindest unter Marxist*innen bislang üblich ist. Nicht immer war die Marx’sche Kritik angemessen, weder auf der persönlichen noch auf der sachlichen Ebene.
Für die Entwicklung des Marx’schen Werkes kann ich aus meinen bisherigen Forschungen ein erstes Zwischenfazit ziehen. Nicht nur die Marx-Biografie, sondern auch die Entwicklung seines Werkes ist von einer Vielzahl von Kontingenzen geprägt. Es lief keineswegs alles mit Notwendigkeit auf das »Kapital« als Hauptwerk hinaus. Wäre Marx 1849 nicht zur Ausreise aus Paris gezwungen worden und nach London gegangen, er hätte das »Kapital« nicht schreiben können. London als Zentrum des damals den Weltmarkt beherrschenden britischen Kapitalismus mit kontinuierlichen Diskussionen ökonomischer Fragen in Zeitungen und im Parlament, wo immer wieder Untersuchungsberichte zu ökonomischen Krisen, zur Politik der Bank of England, zur Situation in den Fabriken etc. publiziert wurden, und vor allem mit der damals weltweit größten Bibliothek für ökonomische Literatur im British Museum war der einzige Ort, an dem das »Kapital«, so wie wir es heute kennen, verfasst werden konnte. Allerdings dominieren die ökonomischen Forschungen seit den 1850er Jahren nicht dermaßen Marx’ wissenschaftliche Aktivitäten, wie immer wieder angenommen wird. Die Auseinandersetzung mit einer Kritik der Politik und des Staates finden nicht nur im »18. Brumaire« (1852) und im »Bürgerkrieg in Frankreich« (1871) statt, sondern auch in einer Vielzahl von Zeitungsartikeln und den in der MEGA erstmals vollständig veröffentlichten Exzerpten – neben historischen, ethnologischen, naturwissenschaftlichen und (avant la lettre) ökologischen Studien. Diese Mehrdimensionalität des Marx’schen Werkes bringt auch eine komplexe Entwicklungsgeschichte mit sich. Bei der Diskussion der Werkentwicklung stehen sich seit Jahrzehnten zwei Auffassungen gegenüber: eine »Kontinuitätshypothese«, die seit den Pariser Manuskripten von 1844 (zuweilen auch schon seit der »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« von 1843) eine im Wesentlichen kontinuierliche Entwicklung sieht, bei der die zentralen theoretischen Konzeptionen keine grundlegende Veränderung mehr erfahren, sondern lediglich erweitert und präzisiert werden; und eine »Bruch-Hypothese«, die einen grundlegenden Einschnitt sieht, der meistens mit den »Thesen über Feuerbach« und der »Deutschen Ideologie« auf 1845/46 datiert wird. Mir scheint keine der beiden Thesen die Komplexität der Marx’schen Entwicklung wiederzugeben. Die Marx’schen Lernprozesse führten zu einer Vielzahl von ungleichzeitigen Brüchen und konzeptionellen Veränderungen ganz unterschiedlicher Reichweite auf den verschiedenen Feldern seiner Forschungen. Diese Prozesse lassen sich weder auf eine kontinuierliche Verbesserung noch auf die Abfolge von zwei oder drei Entwicklungsphasen reduzieren. Was Marx im Fragebogen seiner Töchter als sein eigenes Lebensmotto angab – »De omnibus dubitandum« (an allem ist zu zweifeln) –, ist auch als Motto für die Erforschung von Marx’ Biografie und Werkentwicklung gut geeignet.