I Wenn Carolin morgens aufsteht und in die Zeitung schaut, lernt sie. Wenn Sebastian vor dem Spiegel steht und die Spuren der durchzechten Nacht sieht, lernt er. Wenn Hugo zum dritten Mal in den Keller geht, um etwas zu holen, lernt er. Wenn Elisabeth wieder den Schulbus verpasst, lernt sie.
Unser Alltag ist voller Lernsituationen, wir können gar nicht anders, als ständig zu lernen. Interessant ist, was wir lernen. Vielleicht lernt Carolin bei der Zeitungslektüre, dass es gut gewesen wäre, schon gestern die Konzertkarten zu bestellen – heute sind sie schon ausverkauft. Vielleicht lernt sie auch, dass die Welt voller Krieg und Gewalt ist und sie doch lieber das Zeitungsabo kündigen will. Und Sebastian? Und Hugo? Und Elisabeth? Sie alle lernen beständig etwas, mal bestätigen sie sich ihre Einstellungen und ihr Verhalten, mal fassen sie Vorsätze, anders zu handeln. Sie bewegen sich in ihrem Alltag lernend so, dass sie ihn bewältigen können. Dass ist für viele Menschen keineswegs so einfach, wie es die Beispiele vielleicht denken lassen. Geht Hugo immer wieder in den Keller, weil da die Spielsachen seiner Tochter sind, die vor einem Jahr gestorben ist? Hat Sebastian sich betrunken, weil diese Abende die einzigen Gelegenheiten sind, wo er noch seine Kumpels treffen kann, seitdem er arbeitslos ist? Verpasst Elisabeth den Schulbus, weil sie sich allein ums Aufstehen bemühen muss, da ihre Mutter Frühschicht hat?
Die Probleme des Alltags sind so vielfältig, wie die Menschen, die sie bewältigen müssen. Im Alltag lernen heißt daher oftmals, Sicherheit durch Gemeinsamkeit zu gewinnen. Elisabeth kennt das nun schon: den Anschiss, wenn sie zu spät kommt, und zieht es daher vor, sich mit ein paar anderen vor der Schule zu treffen, eine zu rauchen, Witze zu machen und dann eben erst nach der großen Pause zum Unterricht zu gehen – oder vielleicht doch lieber gleich in die Kaufhalle? Abends, wenn ihre Mutter ausgeschlafen hat, und sie zusammensitzen, erzählt sie davon lieber nichts. Ihre Mutter hat es auch schwer, das weiß sie ja. Und noch mehr Probleme will sie wirklich nicht machen. Morgen ist sie auch bestimmt pünktlich beim Bus, ach ja, morgen ist eh Wochenende.
Zum Alltag und der Bewältigung seiner Probleme gehört es, dass sich die ›Lösungen‹ widersprechen können und dass wir uns dabei in verschiedenen Kollektiven bewegen. Um in jeder Gruppe gut und sicher agieren zu können, machen wir die Schotten zwischen den verschiedenen Bereichen möglichst dicht. Fragen nach dem Zusammenhang, insbesondere Fragen nach ursächlichen Zusammenhängen sind bedrohlich. Dann fängt der Zweifel an zu nagen, und ich höre auf, richtig dazuzugehören.1

II Was da im Alltag privat ist, ist politisch, weil es ›privat‹ ist. Wenn Carolin (noch) in die Zeitung schaut, gibt es bestimmte Seiten, über denen steht »Politik«. Da wird über internationale Konflikte berichtet, da werden die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition im Bundestag referiert, da geht es um die Streitigkeiten beim Müll oder in der Schule. Auf anderen Seiten findet sie Wirtschaft, Kultur, Sport, Kommunales und – endlich! – das Kreuzworträtsel. Politik erscheint als ein säuberlich von anderen gesellschaftlichen Bereichen getrenntes Managementsegment, in dem sich Profis mit Gesetzen und Verordnungen, Ideologien und Programmen beschäftigen. Ab und zu wird ein Teil des Fachpersonals durch Wahlen ausgetauscht (vgl. Negt/Kluge 1993).
Hugo interessiert das nicht mehr. Er fragt sich nur immer wieder, wie er über den nächsten Tag kommen soll. Das Haus verlässt er kaum noch. Er hat Angst auf der Straße, nicht nur wegen der Erinnerungen an seine Tochter, sondern auch vor den Autos, diesen großen Kisten, meistens schwarz und schwer wie Panzer. Wäre seine Tochter damals von einem Kleinwagen angefahren worden, würde sie wohl noch leben, aber beim Zusammenprall mit einem SUV haben Kinder keine Chance, gar keine Chance. Und am Auto war nicht einmal ein Kratzer gewesen.2
Mit dem Lernen zur Bewältigung des Alltags richten wir uns in den arbeitsteiligen Verhältnissen der Herrschaft ein. Wir kennen die Zuständigkeiten und bleiben bei unseren Leisten. Und wenn wir mal aus dem Privaten rausgehen und zum Beispiel in die Politik, dann putzen wir an der Schwelle die Schuhe und passen uns an. Sebastian hatte es nicht hinnehmen wollen, dass seine Abteilung im Betrieb dicht gemacht werden sollte. Also war er zur Gewerkschaft gegangen. Klar, nette Kollegen. Aber die ganzen Gremien und Anträge und Beschlüsse … Er hat da schon eine Weile mitgemacht. Und es war auch gut, um über das erste Loch hinwegzukommen. Doch dann? Immer weniger Geld, der Umzug in die kleinere Wohnung in einen anderen Stadtteil … Die Zeitung liest er ja noch, aber seine Abteilung und sein Betrieb sind schon längst von den Seiten verschwunden. Wenn die Sauferei nicht wäre, würde er ja mal wieder im Gewerkschaftsbüro reinschauen – aber so kann ich da doch nicht erscheinen!?3

III Und nun kommt Karl-Georg. Karl-Georg ist links und will politische Bildung machen. Er kann das auch, hat es studiert und viele Erfahrungen gesammelt. Vor allem aber hat er die Nase voll von den ›Bildungsmaßnahmen‹, in denen er beruflich arbeitet. Da geht es nicht um die Leute, da geht es auch nicht um Bildung, sondern nur darum, Arbeitskräfte fit zu machen, je nachdem, was die Wirtschaft gerade braucht.
Karl-Georg ist klar, dass sein Zugang zum Lernen anderer denkbar schwierig ist. Er tritt ihnen nämlich als Lehrer gegenüber. Auch wenn er das gar nicht so will. Aber aus dem Studium kennt er noch den »Lehr-LernKurzschluss«: diese absurde Vorstellung, dass Lehren die Voraussetzung fürs Lernen sei! Diesem Trugschluss sitzen beide auf, die Lehrer und die Lernenden. Aber die Lehrer sind besonders geschädigt: Sie glauben zudem noch, dass das gelernt würde, was sie lehren (vgl. Holzkamp 1996). Völlig daneben. KarlGeorg hat Paulo Freire (2002) gelesen und spricht davon, dass die Lehrer erst mal Schüler sein müssten und ihren Lehrern (den Schü- lern) zuhören und von ihnen lernen müssen. Schließlich seien diese es, die ihre Lebensumstände am besten kennen würden. Die Seminare, die er in der politischen Bildung macht, laufen gut. Da wird sich wechselseitig zugehört und im Dialog gelernt (vgl. Mayo 2006). Aber die Leute, die da kommen, sind ja schon interessiert, politisch interessiert. Aber, und dieses aber ist für Karl-Georg ein echt großes Problem: Wie kommen wir an die ran, die nicht kommen? Müsste man nicht gerade die erreichen? Elisabeth, Hugo, Sebastian und Carolin zum Beispiel?

IV Karl-Georg träumt. Wie wäre es denn, wenn wir nicht nur Politik für die Politikseiten der Zeitungen machten, sondern uns in den ›privaten‹ Alltag einmischten. Das wäre nichts, was man an Profis der politischen Bildung übergeben könnte, das müsste eigentlich von allen überall betrieben werden, im Alltag halt. Was wir bräuchten, wären ganz viele Leute, die zuerst einmal über ihren eigenen Alltag mit seinen scheinbaren Selbstverständlichkeiten nachdenken. Warum sie was tun, wie sie es tun und mit wem. Die dann, wenn sie mal über den eigenen Tellerrand schauen, Einblick in den Alltag anderer Menschen bekommen würden. Das ist echt ein Projekt, das fehlt. Die Kirchen haben es ja vorgemacht, haben sich in der Volkskultur verankert. Das kann man bei Gramsci lernen. Das war ja nicht nur Predigt, sondern eben auch der ganze Alltag (vgl. Haug 1988). Ist ja auch heute noch so: Seine Mutter ist da echt beschäftigt, fällt Karl-Georg ein, jeden Dienstag trifft sie sich mit anderen in einem Besuchskreis. Und da planen sie, wer wann welches Gemeindemitglied besucht. Zum Beispiel, weil die alt oder krank sind oder weil gerade wer gestorben ist oder man schon lange nix mehr von ihm gehört hat oder … Und: Karl-Georg blickt schon zu seinen Büchern: Hatten die Arbeiterparteien früher nicht auch so Kulturorganisationen, die im Alltag der Arbeitenden eine Rolle spielten? Muss er mal nachlesen (z.B. Ruppert 1986, 292ff). Klar, wenn eine Partei heute einen Arbeitersportverein gründen wollte, wäre das wohl eine proletarische Lachnummer. Aber kann man denn ganz auf das verzichten, was diese Organisationen – wie sagte man damals? – für das Klassenbewusstsein geleistet haben? Oder muss man zeitgemäße Formen finden? Irgendwie eine Mischung aus Gemeindearbeit und Kulturorganisation und politischer Bildung im Alltag … Mhhmm, denkt Karl-Georg, das ist nun doch etwas zu heavy für meinen simplen Traum, das müsste mal richtig durchdacht werden.
Ich kümmere mich jetzt erst mal um Carolin. Vielleicht kennt ja jemand die Carolin, die das Ganze mit der Gewalt und den Kriegen nicht mehr sehen und hören will. Und vielleicht könnte sich man mal ihre Sorgen und Ängste anhören. Dass sie es trotzdem täglich wieder schafft, als Pflegerin im Krankenhaus zu arbeiten. Kann man ja verstehen, wenn sie dann mal kein Blut in der Zeitung sehen will. Und dass sie mit dem Schichtdienst und den Überstunden jeden Tag völlig k.o. ist. Und vor allem: Alles ist doppelt schwer, wenn man es nicht mal erzählen kann. Hier mal zuzuhören, könnte schon ein neues Lernen ermöglichen, weil es den Kopf für was anderes freimacht. Vielleicht fällt so ja die Nachricht in der Zeitung ins Auge, dass es da an einer Hochschule Seminare gegen den Burn-out in Pflegeberufen gibt? Vielleicht trifft Carolin da jemanden, der sagt, Entspannung reicht nicht, es müssen bessere Arbeitsbedingungen her?4 Vielleicht, träumt Karl-Georg, vielleicht hat jemand anderes Kontakt zu Elisabeth. Vielleicht lässt sich im Gespräch erfahren, wie zerrissen sie selbst sich fühlt. Und vielleicht kann man sie fragen, was sie sich denn wünschen würde. Die schrägen Typen sind schon ganz okay, könnte sie zum Beispiel sagen, am liebsten wäre ihr aber doch eine Mutter, die morgens einfach Zeit für sie hat. Geht jetzt nicht, weiß sie doch selbst, sie ist ja nicht blöd. Aber wenn es in der Schule einen gleitenden Schulanfang gäbe, auch noch mit Brötchen und Kaffee zum Frühstück, dann wäre das auch nicht schlecht. Und wenn sie den Bus verpassen und mit dem nächsten kommen würde, wäre sie immer noch rechtzeitig. Eigentlich will sie ja auch den Abschluss machen. Kann da nicht die Schülervertretung, der Elternverein, die GEW, die Schulsozialarbeiterin mal was machen? Und der Schulleiter hatte doch neulich gesagt, die Schule wolle für die Schülerinnen und Schüler da sein – und nicht umgekehrt!5

V Aber auf den Zufall ist ja nicht wirklich Verlass. Wer da wen nun gerade mal kennt. Meistens schwimmt man ja doch in der eigenen Suppe, das ist Karl-Georg schon klar. Was also tun, um da rauszukommen? Es könnte doch auch die Idee so einer Kleingruppe sein, mal öffentlich einzuladen. Aber nicht die üblichen Themen, also Krieg und AKW und Hartz-IV und NSA, sondern mal was anderes. Wie wäre es mit einem Festival der Urlaubsfilme im Stadtteil? Oder einem Treffen von HobbymalerInnen? Oder einem philosophischen Poetry Slam?6 Oder einer öffentlichen Ausstellung von Portraits: von der Straße auf der Straße? Kann man ja mal versuchen, dachte Karl-Georg. Kann man ja mal versuchen, dachte Hugo und überlegte, welches der Bilder seiner Tochter er mitnehmen könnte, oder vielleicht gleich zwei? Zweimal staunte Sebastian, als er bei den Portraitfotos Leute wiedererkannte, die er von der Arbeit her in Erinnerung hatte. Wusste gar nicht, dass die hier wohnen. Mal sehen, ob man nicht mal ein Treffen arrangieren kann …

VI Ob das nicht sehr nach Sozialarbeit rieche, um es höflich zu formulieren, wurde Karl-Georg in seinem Traum gefragt. Klar, sagt er, wenn man so will. Aber wer sagt denn, dass Ideen aus der Sozialarbeit oder insbesondere aus der Gemeinwesenarbeit in politischen Händen nicht auch zur politischen Bildung werden können? Zumal die Gruppen ja keinen staatlichen Auftrag haben, nicht bürokratisch kontrolliert werden und auch nicht diesen Arbeitsstress von immer mehr ›Kunden‹ pro Stunde haben (Seithe 2010, 96ff und 153ff). Und bevor die Gemeinwesenarbeit in die Sozialarbeit kam, war sie politische Selbsthilfe. Community Organizing – don’t forget (vgl. z. B. Alinsky 2011). Naja, widerspricht sich Karl-Georg in seinem Traum, damals war das ja alles viel politischer und war Klassenkampf, aber heute? Vielleicht kann es das auch wieder werden, muss man eben nur neu lernen. Und zwar im Alltag. Im eigenen Alltag. Nicht von oben herab. In einem Leitartikel ist alles schnell erklärt, der Zusammenhang von Alltag und Politik. Aber es ist eine langwierige Angelegenheit, politische Zusammenhänge selbst zu entdecken und zu verstehen. Es gibt keine Garantie, ob es überhaupt klappt, das ist klar. Politische Bildung im Alltag ist ein Angebot mit vielen ›Vielleicht‹ und vielen ›Möglicherweise‹. Aber ist das nicht auch schon politisch, wenn Menschen neue Alternativen und andere Möglichkeiten für sich sehen? Es kann ja auch dazu beitragen, dass sie sich anders bewegen. Manchmal braucht es ja nur einen Tropfen usw.

VII Alles mit zufällig und vielleicht und eventuell und möglicherweise, ist denn gar nichts sicher? Doch, es gibt auch etwas, worauf man sich verlassen kann. Nämlich, dass Karl-Georg eine literarische Erfindung ist. Der wirkliche Name ist Cemile – oder war es Ruth? Bist Du es vielleicht? Aber wer will
schon nur geträumt werden?

1 Zur sozialen Funktion des Alltagsverstandes vgl. Hirschfeld 2015.

2 Zum Krieg auf den Straßen vgl. z.B. Kaag 2011.
3 Zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Deprivation vgl. z.B. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013, 208f.

4 Aufgrund von Studien wird geschätzt, dass zwischen 40 und 60 Prozent der Pflegekräfte und 15 bis 30 Prozent des ärztlichen Personals bereits von Burn-out betroffen sind (vgl. www.verdi.de/service/ fragen-antworten/++co++7e9e9110-aedd-11e0-7d3a- 00093d114afd). Vgl. auch IG Metall Vorstand 2011.
5 Aus dem pädagogischen Konzept der Offenen Schule Waldau, einer staatlichen Gesamtschule in Hessen (vgl. www.osw-online.de/index.php/ueberuns/konzept#2-schulzeit-und-rhythmisierung).

6 Vgl. www.sachsen.rosalux.de/news/40091/erster-slamder-rosa-luxemburg-stiftung-sachsen-erfolgreich.html.

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