Was für eine Nachricht: In Deutschland regiert Rot-Grün. Vor einem Vierteljahrhundert, als Gerhard Schröder als Nachfolger Helmut Kohls ins Kanzleramt einzog, klang das für viele Menschen nach Aufbruch, nach Wandel und Hoffnung. Die Beteiligung am Jugoslawien-Krieg und die neoliberale Wende der Regierung Schröder/Fischer, das Ende des »rot-grünen Projekts«, die ewigen Merkel-Jahre oder auch die Gründung der Partei Die Linke – all das lag noch in mehr oder weniger weiter Ferne.
Auch der Versuch, aus den ursprünglich fortschrittlichen Kräften im Parteienspektrum ein rot-rot-grünes Regierungsprojekt zu formen oder wenigstens zu formulieren, nahm erst im Angesicht großkoalitionärer Lähmungserscheinungen Gestalt an – zum Beispiel im 2010 gegründeten »Institut Solidarische Moderne« (ISM), das sich nicht ohne Mühen als Denkraum für linke »Crossover«-Konzepte zu etablieren versuchte und bis heute versucht.
Rot-Rot-Grün ̶ auch zusammen schwach
In Deutschland regiert Rot-Grün: Im Herbst 2024 hat dieser Satz mit dem erhofften Aufbruch von 1998 nichts mehr zu tun. Rot-Grün, das steht seit dem Ende der Ampelkoalition nur noch für eine vorübergehende Minderheitsregierung, die den Übergang zur vorgezogenen Bundestagswahl verwaltet. Für ein Bündnis zweier Parteien, deren vorherrschende Strömungen längst nichts anderes mehr wollen, als das bestehende Wirtschaftssystem etwas grüner und liberaler einzufärben; für zwei Parteien, die die dringend notwendige Verbindung ökologischer Erneuerung mit der Umverteilung von Reichtum zwar in Wahlprogrammen andeuten, aber im Regierungshandeln nicht auch nur versucht haben, sich damit durchzusetzen. Ein Bündnis, das selbst unter Einbeziehung der Linken im bestehenden Bundestag keine Mehrheit mehr hätte (selbst wenn Rot-Grün wollte). In Umfragen sieht es bekanntlich noch schlimmer aus: SPD, Grüne und Linke liegen zusammen noch hinter dem zurück, was die CDU/CSU allein erreicht.
Kein Wunder, dass das (vorläufige?) Scheitern des sozial-ökologischen Transformationsprojekts die Diskussionen in »rot-rot-grünen« Denkräumen wie dem ISM prägt. Zum Beispiel in dem Podcast »Transit-Talk«, wo zuletzt der Wiener Politologe Ingolfur Blühdorn das Desaster in schmerzhafter Ausführlichkeit ausbreitete. Da wirkte das Bekenntnis von ISM-Vorstand Valentin Ihßen, der das Gespräch mit Blühdorn führte, fast schon übermütig: Er bekennt auf der Homepage des ISM, dass er »gerade in Zeiten des Rechtsrucks die Hoffnung auf ein progressives Regierungsprojekt nicht aufgeben will.«
Hörbare Stimme für echte Transformation
So wohltuend dieses Beharren, so sympathisch dieser kontrafaktische Optimismus auch ist: Von »Regierung« sollten auch die optimistischsten Verfechter*innen rot-rot-grüner Transformationskonzepte nicht mehr reden, jedenfalls nicht zu laut. Gerade wer die Hoffnung nicht aufgeben will, dass es so etwas wie ein progressives Regierungsprojekt irgendwann wieder gibt, sollte zunächst einmal über etwas anderes nachdenken, das schon schwer genug zu erreichen sein wird, nämlich über ein progressives Oppositionsprojekt.
Das heißt nicht, den Anspruch auf künftige Mehrheiten aufzugeben. Aber vorerst ist etwas anderes sowohl dringlicher als auch realistischer: Nur wenn es gelingt, im kommenden Bundestag eine hörbare Stimme für echte Transformation zu etablieren, kann zumindest die Basis gelegt werden, um die Hegemonie des konservativen bis radikal rechten Rollbacks langfristig zu brechen.
Dieser Ansatz wäre mit riskanten und schmerzhaften Prozessen verbunden, denn er erfordert nichts Geringeres als eine organisatorische Neusortierung derjenigen Kräfte, die sich derzeit in den Parteien des progressiven (oder zumindest nicht rechten) Spektrums engagieren. Aber diese Neusortierung erscheint notwendig als Konsequenz aus den Verschiebungen, die sich in diesem Spektrum bereits abgespielt haben oder sich aktuell abzuzeichnen scheinen. Anmerkung am Rande: Wenn hier vom progressiven Spektrum die Rede ist, dann gehört das Bündnis Sahra Wagenknecht angesichts seiner Programmatik ausdrücklich nicht dazu. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich also auf SPD, Grüne und die Partei Die Linke.