Mehr als eine Million Berliner*innen, fast 60 Prozent, stimmten für den Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne. Damit hätte anfangs niemand gerechnet. Wie ein linker Kampfbegriff zu everbody’s darling werden konnte, erzählen Nina Scholz und Jenny Stupka von "DWE & Co Enteignen".

War es riskant, dass die Kampagne die »Enteignung« gleich im Titel führt?

NINA: Wir haben viel über den Begriff diskutiert, auch mit Mieter*innen, die große Vorbehalte hatten. Uns wurde schnell klar, dass es keinen besseren gibt. Wenn du über Vergesellschaftung oder Rekommunalisierung redest, versteht das keiner.

JENNY: Ich habe anfangs auch befürchtet, dass der Begriff so klingt, als ginge es nicht um reale Umsetzbarkeit, sondern um diskursive Irritation. An den Haustüren hat er aber gut funktioniert. Er knüpft unmittelbar an die Empörung der Leute an. Und die, die sich dran stoßen, lockst du aus der Reserve und kannst über ihre Vorbehalte sprechen.

Wie habt ihr den Begriff positiv besetzt?

JENNY: Entscheidend ist die Erzählung, nicht der Begriff. Der Frust ist ja da und wir bieten einfach eine plausible Erklärung an. Dass die großen Immobilienkonzerne das Problem verschärfen, weil sie mit teuren Mieten Profite machen, leuchtet den meisten ein. Und dem stellen wir ein starkes »Wir« entgegen: Wir als Mieter*innen, als Stadtgesellschaft wollen selbst bestimmen, wie wir wohnen. Und wir können das Problem nur lösen, wenn wir gemeinsam die Eigentumsverhältnisse ändern.

NINA: Entscheidend war außerdem die Machbarkeit. Wir haben ja keine theoretische Debatte über Enteignung geführt. Die Berliner*innen sitzen mehrheitlich auf dem Schleudersitz und wünschen sich schnelle Lösungen. Mit dem Volksentscheid haben wir einen Hebel zur Umsetzung angeboten. Denn Vergesellschaftung ist im Grundgesetz verankert, der Paragraf wurde nur noch nie angewendet.

Hat Berlin einen Standortvorteil für so eine Kampagne?

JENNY: Sicher. Berlin ist die Mieter*innenstadt schlechthin, fast 85 Prozent wohnen zur Miete. Und die Wohnungskrise hat sich in kurzer Zeit so zugespitzt, dass sie auch die Mittelschichten betrifft.

NINA: Für so eine radikale Forderung brauchst du eine soziale Basis. Berlin hat eine vitale Mietenbewegung. Die Dynamik der Kampagne ist ganz eng mit ihr verbunden, von den großen Mietendemos über die zahllosen Initiativen bis zum Protest gegen das Ende des Mietendeckels.

JENNY: Der Erfahrungsschatz aus diesen Kämpfen war ein wichtiger Faktor. Es gab viel Wissen darüber, wie man eigene Strukturen aufbaut und systematisch Leute organisiert, aber auch, welche Fähigkeiten man noch braucht und sich aneignen muss.

»Das Spannende am Volksentscheid war: Wir mussten mehrheitsfähig werden.« Jenny

Was war anders im Vergleich zu vorherigen Mietenkämpfen?

NINA: Dass die großen Immobilienkonzerne die Zielscheibe waren. Die Deutsche Wohnen (DW) wurde ab 2017 zum unbeliebtesten Vermieter der Stadt. Die DW-Mieter*innen aus ganz Berlin fingen an, sich zu vernetzen. Weil die Konzerne so riesig sind, kommen da sehr unterschiedliche Leute zusammen. Wir haben in der AG Starthilfe zu Beginn der Enteignungskampagne im Winter 2017/18 auch die vorherigen Kampagnen und Volksentscheide ausgewertet. Ein großes Manko war, dass sie fast nur von Aktivist*innen in den Innenstadtbezirken getragen waren, dass die Mieter*innen selbst in der Praxis außen vor waren. Das wollten wir anders machen.

Wie habt ihr das versucht?

NINA: Aus der Vernetzung der DW-Mieter*innen hat sich schon zu Beginn die AG Starthilfe gegründet, die Mieter*innen ganz praktisch unterstützt. Wir wussten aus der Erfahrung des Mietenvolksentscheids, dass die Mieter*innen und ihre Probleme oft untergehen, wenn eine Kampagne richtig Fahrt aufnimmt. Um das zu verhindern, sollte die AG mit einem Bein in der Mietenbewegung und mit dem anderen in der Kampagne stehen.

Du warst selbst in der AG Starthilfe. Habt ihr euer Ziel erreicht?

NINA: Anfangs haben wir viele Mieter*innen unterstützt, sich selbst zu organisieren, und waren in der Kampagne wenig aktiv. Sobald wir dort aktiver wurden, waren wir leider in den Mietenkämpfen weniger präsent. Es war schwer, die konkreten Kämpfe und die Enteignungskampagne in eine direkte Beziehung zu bringen. Das hat eher indirekt geklappt.  Unsere Kampagne hat von den Kämpfen der Deutsche-Wohnen-Mieter*innen Aufwind bekommen. Und die SPD wollte irgendwann Zugeständnisse an die Mieter*innen machen und hat 20 000 marode Wohnungen gekauft. 

Ist euer Vorhaben also gescheitert und die Kampagne hat sich verselbstständigt?

NINA: Das würde ich nicht sagen. Wir konnten viele Erfahrungen aus den Mietenkämpfen in die Kampagne einbringen. Wir kannten die Probleme in den Großsiedlungen und haben dafür gesorgt, dass Organizing-Methoden angewendet wurden. Viele Hundert Menschen haben zum ersten Mal Haustürgespräche geführt, und zwar organisierende Gespräche, in denen nicht nur Unterschriften gesammelt, sondern zum Mitmachen eingeladen wurde.

War Organizing entscheidend für den Erfolg?

NINA: An die Haustüren zu gehen, war sicher eine der strategisch wichtigsten Entscheidungen in der letzten Wahlkampfphase. Und zwar an die Haustüren in vielen Außenbezirken. Das hieß, unseren Aktiven zu sagen: Ihr müsst raus aus eurer Komfortzone. Das war auch in der Kampagne nicht leicht durchzusetzen.

Warum?

NINA: Vielen kam es zu kleinteilig und aufwendig vor, der Erfolg ist schwer messbar. Viele haben gar nicht gemerkt, dass wir in vielen Außenbezirken noch unbekannt waren, weil wir an anderen Orten omnipräsent waren.

»An die Haustüren zu gehen, war eine der wichtigsten Entscheidungen. Und zwar an die Haustüren in den Außenbezirken.« Nina

Wie habt ihr versucht, eure Forderung anschlussfähig zu kommunizieren?

JENNY: Das Spannende am Volksentscheid war: Wir mussten mehrheitsfähig werden. Die Gespräche auf der Straße und an der Haustür haben unser kommunikatives Gespür und die Öffentlichkeitsarbeit verbessert. Wir kannten die häufigsten Einwände irgendwann in- und auswendig – »Nur Neubau hilft«, »Die Häuser werden verfallen wie in der DDR« – und haben gelernt, darauf zu reagieren. Wir konnten eine zugespitzte Problemanalyse und eine machbare Lösung anbieten und haben immer aus unserer Rolle als Mieter*innen kommuniziert, mit der Expertise, die wir uns angeeignet haben. Man könnte sagen, diese Gespräche haben uns zu besseren Linken gemacht. Wir haben auch gesehen, dass nicht nur die Basis von SPD und Grünen, sondern sogar 20 Prozent der CDU-Wähler*innen aufgeschlossen sind, die das Mietenproblem ja genauso trifft. Auch die wollten wir ansprechen. Das ist die Idee des Slogans »Damit Berlin unser Zuhause bleibt«. Der mutet fast konservativ an. Aber damit Berlin so bleibt, wie wir es lieben, muss sich radikal etwas ändern.

War es eine Kampagne für »die Mitte«?

NINA: Nein, für uns alle, für die 85 Prozent Mieter*innen in Berlin, die gegen die Vermieter zusammenhalten. Sie ist stark, weil unterschiedliche Leute darin vorkommen. Es geht um die Mehrheit, nicht eine fiktive Mitte.

Wie erreicht man so unterschiedliche Leute?

NINA: Es braucht verschiedene Kanäle, von Social Media bis zum Haustürgespräch. Wir hatten eine Boulevardzeitung, die in Marzahn bei den älteren Leuten super ankam. Und wir hatten arabischsprachige Poster in Hellersdorf, die einige gar nicht gut fanden, die aber wichtige Gespräche angestoßen haben. Nur durch Vielfalt konnten wir so viele erreichen. 

Gab es trotzdem eine zentrale Botschaft in eurer Öffentlichkeitsarbeit?

JENNY: Ganz einfach: »Mach mit! Wir schaffen das nur zusammen.« Und das hat geklappt. Wir wurden immer größer. Es kamen Leute mit verschiedenster Expertise dazu. Unser Außenbild wirkte einheitlich, aber unser Ansatz war die Dezentralisierung. Wir haben eine Toolbox zusammengestellt – unser Logo, unsere Schriften, unser Material – mit der jede*r arbeiten konnte. So sind Dinge entstanden, mit denen wir nie gerechnet hätten.

Wie stellt man dann inhaltliche Kohärenz her? 

JENNY: Die wichtigste Vorgabe war: Wir sprechen für uns selbst, als Mieter*innen. Wir sind die Expert*innen der Mietenmisere. Die genaue Abstimmung verläuft immer etwas anders, auch manchmal chaotisch, aber wir versuchen gemeinsam zu klären, was wir nach außen senden.

NINA: Den Wunsch nach Kontrolle musst du schnell verabschieden. Je mehr du dabeihaben willst, desto weniger kannst du es überschauen. Eine Initiative mit tausend Armen, das war das Erfolgsrezept.

Einzelne haben kritisiert, es sei am Ende doch zu aktivistisch, zu wenig einladend gewesen. 

NINA: Ich war noch nie in einer linken Kampagne, wo so unterschiedliche Leute aktiv waren. Natürlich sind einige soziale Gruppen viel zu wenig vertreten. Aber wir haben in jedem Schritt versucht gegenzusteuern. Wir hatten unterschiedliche Mitmachmöglichkeiten, haben offene Treffen organisiert. Wir waren in den Außenbezirken, bei Straßenfesten und Fußballspielen. Um diese Beziehungen zu verfestigen und zu vertiefen, war nicht immer Zeit. Aber ich freue mich, daran weiterzuarbeiten.

Wie könnte es noch besser, noch inklusiver werden?

JENNY: Für mich geht es bei Vielfalt nicht darum, dass alles, was wir tun, immer alle anspricht, sei es queeres Cheerleading oder Pronomenrunden. Es geht darum, wie wir uns dauerhaft mit den Initiativen der Mieter*innen verbinden. Unsere letzte von DW-Mieter*innen selbst angestoßene Aktion ist zwei Jahre her. Da haben wir die Leute in Wilmersdorf unterstützt, die mit Campingstühlen und Kuchenbuffet vor der DW-Zentrale saßen. An solche gemeinsamen Aktionsformen sollten wir neu anknüpfen! Spätestens, wenn die vom Senat eingesetzte Expert*innenkommission nicht vorankommt.

Das Gespräch führten Rhonda Koch und Hannah Schurian.

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