Es gibt viele ikonische Bilder von Rosa Luxemburg. Eines zeigt sie an der SPD-Parteischule, wo sie ab 1907 Dozentin war. Luxemburg steht links am Rand, außer ihr sind kaum Frauen im Bild. Während ihre Freundin Clara Zetkin ausgebildete Lehrerin war, hatte Luxemburg keinen pädagogischen Hintergrund. Doch ein Blick in ihre Texte zeigt, was sie für diese Tätigkeit neben ihrem Wissen und analytischen Scharfsinn qualifizierte: ihre Fähigkeit, Zusammenhänge darzulegen und Sachverhalte zu erklären. Dies macht es bis heute zu einem Vergnügen, Luxemburgs Texte zu lesen. Sie entfaltet einen Gedanken, nennt eigene Argumente und zerpflückt Gegenargumente. Ihre Fähigkeit, Kompliziertes auf den Punkt zu bringen, gepaart mit Wortwitz, machte sie zu einer mitreißenden Rednerin und zu einer wirkungsmächtigen Journalistin und vermutlich auch zu einer guten Dozentin. Luxemburg gilt vielen als Vorbild, sei es im Hinblick auf ihr Leben, ihre Haltung oder ihre Schriften. Inwiefern kann sie auch für politische Bildner*innen Bezugspunkt sein? Lassen sich aus ihrem Werk Leitbilder für die pädagogische Arbeit ableiten?
Lernen durch Lehren
»Man lernt am besten, indem man lehrt.« Dieses eigentlich vom römischen Philosophen Seneca stammende Zitat wird oft Luxemburg zugeschrieben. Sie hatte zunächst gezögert, die Stelle an der Parteischule anzunehmen, doch kaum hatte sie zu unterrichten begonnen, war sie begeistert, lobte die lebendige Atmosphäre, die Diskussionsfreude und die Begeisterung der Teilnehmenden. Annelies Laschitza (1996, 292) schreibt in ihrer Luxemburg-Biografie, die Student*innen hätten ihre pädagogischen Fähigkeiten gelobt, obwohl sie viel verlangt habe:
»Und immer wieder plädierte sie für ein intensives Selbststudium. Es erschien ihr ideal, am Nachmittag nicht zu unterrichten, damit zu Hause der am Vormittag gehörte Vortrag rekapituliert, die Notizen durchgearbeitet und entsprechende Broschüren und Bücher gelesen werden konnten. Wegen dieser Forderungen und Ansichten war Rosa Luxemburg ebenso beliebt wie gefürchtet.«
Luxemburg habe beim Lehren auf Fragen gesetzt, die Teilnehmenden mit solchen konfrontiert und dann aus den Antworten gleich neue Fragen abgeleitet. Dabei habe sie nicht einfach Wissen abgeprüft, sondern Nachdenken angeregt und in ihren Vorträgen große Linien aufgezeigt:
»Rosa Luxemburg lehrte nie reine Wirtschaftsgeschichte, sondern bezog politische Ereignisse, völkerkundliche und gesellschaftstheoretische Aspekte, Kunst und Literatur in der jeweiligen Region und Entwicklungsphase ein. Hier machte sie auch für sich selbst neue Entdeckungen.« (Ebd., 290f)
Und so führte Luxemburg selbst die Entstehung ihres Hauptwerks, die »Akkumulation des Kapitals«, unmittelbar auf ihre Lehrtätigkeit zurück. In dessen Vorwort beschreibt sie, wie sie im Bemühen, eine »populäre Einführung in die Nationalökonomie« zu verfassen, auf »unerwartete Schwierigkeiten« gestoßen war (Luxemburg 1912, 5).
»Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt des zweiten Bandes des Marxschen ‚Kapitals’ im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift.« (Ebd.)
Und so blieb das einführende Lehrbuch unvollendet, denn Luxemburg ging ihrer Entdeckung nach. Es war also das Lehren, das ihren Erkenntnisprozess entscheidend vorangebracht hat und zu einem Meilenstein ihres Denkens führte, ihrer Akkumulationstheorie.
Voneinander lernen: Masse und Führung
Vielleicht am bekanntesten ist Luxemburg für ihre Überlegungen zum Verhältnis von Masse und Führung im Klassenkampf, in Bewegungen und in sozialistischen Parteien. Unter dem Eindruck ihrer eigenen Beteiligung an der Russischen Revolution von 1905 bis 1907 legte sie in »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« ihre Argumente für den Massenstreik dar, der für sie jedoch nicht ein Streik ist, der von einer Partei- oder Gewerkschaftsführung ausgerufen werden kann (vgl. LuXemburg 1906, 98). Vielmehr handle es sich um eine Periode von politischen und ökonomischen Kämpfen, die ineinander übergehen, aufflammen oder abflauen, einander bedingen, verstärken, abschwächen. Die Art und Weise, mit der deutsche Gewerkschafts- und Parteiführer glaubten, einen Massenstreik per Dekret beschließen, sich des »Klappmessers« Massenstreik bedienen zu können, war ihr ein Graus. »Abstrakte Hirngymnastik« (ebd., 101) nannte sie das und freute sich, dass sich die deutsche Proletariermasse aufgrund ihres »gesunden revolutionären Instinkt[s] und der lebhaften Intelligenz […] ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer mit so warmem Interesse dem neuen Problem zuwendet« (ebd.). Sie unterstellte dabei nicht, dass das Proletariat aufgrund seiner Klassenlage alles Nötige von selbst erkennt. Vielmehr wies sie der sozialdemokratischen Führung und den Gewerkschaftsleitungen die Aufgabe zu, auf diesen Instinkt sowie auf die konkrete Entwicklung der Ereignisse zu reagieren und dabei sowohl die Rolle des Lehrenden als auch des Lernenden, des Führenden und des Geführten einzunehmen. Dies hieß im Falle Russlands, der Arbeiterklasse »die internationale Bedeutung dieser Revolution« klarzumachen und sie so auf »die Rolle und die Aufgaben der Masse in den kommenden Klassenkämpfen« (ebd.) vorzubereiten. Luxemburg forderte also, dass an der konkreten Situation gelernt wird, es ging ihr um den Gegenstand und die Art und Weise des Erkenntnisgewinns.
»Nur in dieser Form wird die Diskussion über den Massenstreik dazu führen, den geistigen Horizont des Proletariats zu erweitern, sein Klassenbewusstsein zu schärfen, seine Denkweise zu vertiefen und seine Tatkraft zu stählen.« (Ebd.)
Im revolutionären Russland zeigte sich für Luxemburg, dass in der konkreten Auseinandersetzung ein Wechselverhältnis von Führung und Masse besteht. Manchmal hätten die Ereignisse die lokalen Gliederungen von sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaft dazu gedrängt, die Führung zu übernehmen und die Zersplitterung der Masse aufzuheben. Ein anderes Mal seien die »sozialdemokratischen Organisationen mit ihren Aufrufen voran[geschritten]« (ebd., 110f) und hätten dennoch mit den Ereignissen und Aktivitäten der Masse nicht Schritt halten können, hätten »kaum Zeit [gehabt], die Losungen der vorausstürmenden Proletariermenge zu formulieren« (ebd.). Das habe daran gelegen, dass alle, sowohl Führung als auch Masse, die Revolution erst in deren Verlauf hätten erkennen können (vgl. ebd., 112). Leitung hieße daher:
»Die Parole, die Richtung dem Kampfe zu geben, die Taktik des politischen Kampfes so einzurichten, dass in jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten betätigten Macht des Proletariats realisiert wird und in der Kampfstellung der Partei zum Ausdruck kommet, daß die Taktik der Sozialdemokratie nach ihrer Entschlossenheit und Schärfe nie unter dem Niveau des tatsächlichen Kräfteverhältnisses steht, sondern vielmehr diesem Verhältnis vorauseilt, das ist die wichtigste Aufgabe der ›Leitung‹ in der Periode des Massenstreiks.« (Ebd., 133)
Luxemburg beschreibt die Revolution als einen Lernprozess, in dem die Rolle der Führung auch dadurch begrenzt wird, dass es bestimmter Umstände bedarf, um Ereignisse voranzubringen, die von der Führung nicht angeordnet werden können, selbst wenn sie dies gern täte.
Aus ihren Beobachtungen und Erfahrungen mit der Revolution in Russland leitete Luxemburg ein Führungsverständnis ab, das sowohl den Aspekt des Lehrens als den des Lernens betont:
»Gerade während der Revolution ist es für irgendein leitendes Organ proletarischer Bewegung äußerst schwer, vorauszusehen und zu berechnen, welcher Anlass und welcher Moment zu Explosionen führen können und welche nicht. Auch hier besteht die Initiative der Leitung nicht in dem Kommandieren aus freien Stücken, sondern in der möglichst geschickten Anpassung an die Situation und möglichst engen Fühlung mit den Stimmungen der Masse.« (Ebd., 132)
Das ist das, was sie das Element des Spontanen nennt:
»Die Revolution ist, auch wenn in ihr das Proletariat mit der Sozialdemokratie an der Spitze die führende Rolle spielt, nicht ein Manöver des Proletariats im freien Felde, sondern es ist ein Kampf mitten im unaufhörlichen Krachen, Zerbröckeln, Verschieben aller sozialen Fundamente. Kurz, im Massenstreik in Rußland spielt das Element des Spontanen eine so vorherrschende Rolle, nicht weil das russische Proletariat ›ungeschult‹ ist, sondern weil sich Revolutionen nicht schulmeistern lassen.« (Ebd.)
Dabei fußt Luxemburgs Analyse nicht auf einem einmaligen historischen Beispiel, vielmehr vertiefte sie später ihre Analyse des Verhältnisses von Masse und Führung in ihren Schriften zur Russischen Revolution von 1917 und zur Revolution in Deutschland 1918 (vgl. Luxemburg, »Die Ordnung herrscht in Berlin« in diesem Heft).
Lernen durch Erfahrung
Eng mit ihren Vorstellungen zum Verhältnis von Masse und Führung verbunden, findet sich in ihren Überlegungen ein weiterer pädagogischer Gedanke, der auf die Bedeutung von Erfahrung abhebt. Bereits 1906 forderte sie:
»Der Absolutismus muß in Rußland durch das Proletariat gestürzt werden. Aber das Proletariat bedarf dazu eines hohen Grades an politischer Schulung, des Klassenbewusstseins und der Organisation. Alle diese Bedingungen vermag es sich nicht aus Broschüren und Flugblättern, sondern bloß aus der lebendigen politischen Schule, aus dem Kampf und in dem Kampf, in dem fortschreitenden Verlauf der Revolution anzueignen.« (Luxemburg 1906, 113)
Erfahrung bewirke einen geistigen Niederschlag, ein kulturelles Wachstum des Proletariats und in diesem »Kostbarste[n]« (ebd.) liege die »unverbrüchliche Gewähr für sein weiteres unaufhaltsames Fortschreiten im wirtschaftlichen wie im politischen Kampfe« (ebd., 117).
Das Lernen durch Erfahrung, das Luxemburg als essenziell beschreibt, bezieht sie dabei nicht nur auf direkte Erfahrungen im Kampf, sondern auch auf den Alltag. Daher kritisierte sie die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und Diskurses durch die Bolschewiki im Verlauf der Russischen Revolution von 1917 so scharf: Luxemburg (1918, 356) betonte »das ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen« als nötiges Korrektiv der Schranken und Mängel bürgerlich-demokratischer Institutionen. 1 Anders als die bürgerliche Gesellschaft sei die proletarische Diktatur angewiesen auf politische Schulung und Erziehung und zwar der »gesamten Volkmasse« (ebd., 359), als »Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag« (ebd.).
Für Luxemburg waren die Einschränkungen des Versammlungsrechtes und der Pressefreiheit deshalb so kritikwürdig, weil das öffentliche Leben für sie Quelle politischer Erfahrung war, und zwar besonders in Situationen, in denen sich die politische Führung nur tastend und experimentierend voranbewegen kann. Da weder die Führung noch die Massen alles wissen können, sind sie auf Erfahrungslernen angewiesen:
»Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderte die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrungen«, denn nur die Erfahrung sei »imstande, zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen« (ebd., 360).
Insofern war öffentliches Leben für Luxemburg gleichbedeutend mit kollektivem Lernen: »Nur ungehemmtes, schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, enthält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt.« (Ebd.) Im bürgerlichen Gesellschaftssystem stütze die Verarmung des öffentlichen Lebens die Herrschenden, für eine sozialistische Gesellschaft hingegen sei entscheidend, dass die gesamte Volksmasse am öffentlichen Leben und der öffentlichen Kontrolle teilnehme, sonst »bleibt der Austausch der Erfahrungen nur in dem geschlossenen Kreise der Beamten der neuen Regierung« (ebd.). Luxemburg war der Meinung, dass ein Gelingen der gesellschaftlichen Transformation nur möglich ist durch
»eine ganze geistige Umwälzung in den durch die Jahrhunderte der bürgerlichen Klassenherrschaft degradierten Massen. Soziale Instinkte anstelle egoistischer; Masseninitiative anstelle der Trägheit; Idealismus, der über alle Leiden hinwegbringt usw. usw.« (ebd., 361).
Doch während die Bolschewiki ihre Zwangsmaßnahmen mit dem Hinweis auf die politischen und taktischen Notwendigkeiten der Revolution begründeten, kann genau diesen Notwendigkeiten Luxemburg (ebd., 362) zufolge nur mit größtmöglichen Freiheitsrechten begegnet werden:
»Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Pateiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und redigieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobinerherrschaft.«
Lernen als Organisieren, Organisieren als Lernen
Für Luxemburg fallen Lernen und politisches Organisieren in eins, bedingen und benötigen einander: Im gemeinsamen Durchdenken werden Menschen kollektiv handlungsfähig, im gemeinsamen Kämpfen gewinnen sie Erkenntnisse und Wissen. Dabei verschweigt sie nicht die Herausforderung, dass menschliches Handeln und Denken in kapitalistischen Verhältnissen zugerichtet und diszipliniert wird, was emanzipatorisches Lernen und Handeln erschwert. Auch deshalb ist es so verführerisch, auf bewährte Konzepte von Lehren und Lernen zu setzen: Die einen machen Vorgaben, die anderen folgen. Das führt scheinbar zu schnellen Erfolgen. Doch wie die Erfahrungen in realsozialistischen Gesellschaften schmerzlich zeigen, sind diese nicht weniger auf Sand gebaut als die bürgerliche Ordnung selbst. Sind die Menschen erst systematisch entmutigt, mitzudenken und zu kritisieren, entsteht ein nicht wiedergutzumachender Schaden. Wie kann also ein organisierender Lernprozess gelingen, der diesen nahegelegten Gehorsam überwindet, anstatt ihn im Sinne der Parteidisziplin nun für die eigenen Zwecke zu nutzen? Politische Bildung aus linker Sicht muss, um dies z bewerkstelligen, inhaltlich, methodisch und von den Rahmenbedingungen her so ausgerichtet sein, dass im Bestehenden über das Bestehende hinausgegangen werden kann (vgl. Brie/Candeias in diesem Heft). Kollektives Lernen über das eigene Sein, Erkenntnisse hinsichtlich des eigenen Involviertseins in die herrschenden Verhältnisse und des Leidens daran sind dazu ein erster wichtiger Schritt. Ein solches emanzipatorisches Lernen braucht Orte, Zeit, Geduld und stellt pädagogisch arbeitende Menschen, die ein solches Setting vorbereiten und (an-)leiten wollen, vor große Herausforderungen.
Luxemburg hielt gerade im Anblick krassester Niederlagen an ihrer Zuversicht fest. »Ich war, ich bin, ich werde sein!«, formuliert sie ihren Anspruch an das Lernen aus Niederlagen. Diese Zuversicht ist das Mindeste, was pädagogisch arbeitende Menschen von Luxemburg mitnehmen sollten.