Die Sozialistische Partei ist zerrissen wie nie. Ihre aktuelle Situation erinnert an das Jahr 2008, als auf dem Parteitag in Reims der innerparteiliche Machtkampf eskalierte. Vorausgegangen war eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen dem sozialliberalen und dem linkssozialistischen Flügel. Diese erreichte ihren Höhepunkt 2005: Der linke Flügel um Henri Emmanuelli und Jean-Luc Mélenchon sprach sich entgegen der offiziellen Parteilinie für eine Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrages aus, suchte den Schulterschluss mit der Kommunistischen Partei (PCF) und anderen linken Organisationen und mobilisierte gegen die eigene Parteiführung um den damaligen Parteivorsitzenden François Hollande für ein Nein beim Referendum (vgl. Bell/Criddle 2014, 184ff). Die inhaltliche wie personelle Spaltung der französischen Sozialdemokratie trat offen zutage. Auf dem Parteitag in Reims traten Teile des linken Flügels aus und gründeten die französische Linkspartei Parti de Gauche (PdG).
Heute ist die Situation noch dramatischer. Der wirtschaftsliberale Reformkurs des sozialistischen Präsidenten François Hollande hat die Partei für weite Teile der Bevölkerung unwählbar gemacht und die innerparteilichen Gräben weiter vertieft. Zerrissen von Machtkämpfen, gelähmt durch strukturelle Probleme und ratlos gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes befindet sich die Parti Socialiste (PS) in ihrer wohl größten Krise. Historisch verknüpft mit dem Zweiparteiensystem der V. Republik droht sie nun mit diesem mittelfristig unterzugehen (vgl. Lefebvre 2016, 9).
Das Ende des Zweiparteiensystems
Dieser Zustand der PS muss vor dem Hintergrund der französischen Repräsentationskrise verstanden werden. Ihr Niedergang geht einher mit der Erosion des Zweiparteiensystems und einer schweren Vertrauenskrise des politischen Systems. In einer Umfrage des IPSOS-Instituts (2016) gaben 83 Prozent der Befragten an, dass das demokratische System in Frankreich sehr schlecht funktioniere und ihre Interessen nicht repräsentiert würden. 89 Prozent stimmten der Aussage zu, dass es den Politiker*innen egal sei, was die Bevölkerung denke. Und nur acht Prozent aller Französ*innen erhoffen sich Veränderungen von den etablierten politischen Parteien, während 92 Prozent jegliches Vertrauen in diese verloren haben. Die Vertrauenserosion umfasst alle Schichten und Bevölkerungsgruppen, ist jedoch – gemessen an den Nichtwähler*innen – bei Arbeiter*innen und Arbeitslosen am stärksten ausgeprägt.
Einen politischen Ausdruck findet diese Krise im raketenhaften Aufstieg des rechtsradikalen Front National (FN) ebenso wie in den landesweiten Platzbesetzungen und Protesten der Nuit-Debout-Bewegung. Beide politischen Phänomene müssen als Protest unterschiedlicher Bevölkerungsteile gegen ein parlamentarisches System verstanden werden, das aufgrund der »unterschiedlichen Propagierung der gleichen Politik« (Poulantzas 2002, 169) der beiden großen Parteien Parti Socialiste und Les Républicains jegliche Fähigkeit zur Vertretung politischer Interessen und Bedürfnisse verloren hat.
Ihre Wurzeln hat die Krise in der Transformation der Parteien seit den 1980er Jahren. Stellten die großen Parteien früher Orte dar, an denen um Hegemonie gerungen wurde, so fungieren sie heute als »bloße Kanäle der Popularisierung und Propagierung einer staatlichen Politik, die zum großen Teil außerhalb von ihnen entschieden wird« (ebd.). Als Verwalterinnen neoliberaler Politik gleichen die beiden großen französischen Parteien heute mehr denn je Karrierenetzwerken. Ihr Spitzenpersonal rekrutiert sich aus denselben Elitehochschulen und hat kaum noch einen Bezug zu den Lebenswelten ihrer Wähler*innen. Vielmehr findet eine permanente Selbstreproduktion der staatlichen und wirtschaftlichen Eliten des Landes in den grand écoles (HEC, Sciences Po, ENA etc.) statt, zu denen Menschen aus den sogenannten classes populaires so gut wie keinen Zugang haben.1 Diese Produktion von Berufspolitiker*innen umfasst alle Ebenen, bis hin zur Kommunalpolitik. Zugleich fehlt es der PS an innerparteilicher Demokratie und Mitbestimmung; Basisinitiativen haben kaum die Möglichkeit, Entscheidungen der hauptamtlichen Parteifunktionäre infrage zu stellen.
Durch die Transformation der Partei und ihrer Funktionäre wandelte sich auch die Mitgliedschaft und die Wählerbasis, die heute zu großen Teilen aus älteren weißen Männern besteht, die im öffentlichen Dienst oder in der Verwaltung von Staatsbetrieben arbeiten. Außerdem hat die Partei massiv an Mitgliedern verloren. Seit der neoliberalen Wende des sozialistischen Präsidenten François Mitterand 1984 haben rund 100 000 Mitglieder die PS verlassen.2 Allein seit der Amtsübernahme von François Hollande haben 60 000 Mitglieder ihr Parteibuch zurückgegeben. Heute besitzt die Partei nur noch rund 100 000 Mitglieder. Die Transformation der PS hat – neben einer Reihe von Skandalen und Fällen von Misswirtschaft auf kommunaler Ebene – dazu beigetragen, dass die Partei heute kaum noch im Arbeitermilieu verankert ist. Wählten 1981 noch 72 Prozent der Arbeiter*innen und Arbeitslosen die PS, waren es bei den Kommunalwahlen 2015 nur noch 20 Prozent (vgl. IPSOS 2015, 5). Alle anderen haben sich entweder ganz vom parlamentarischen System distanziert oder wählen verstärkt den FN (vgl. IPSOS 2016; Syrovatka 2015). Zugleich hat die Partei ihre Strahlkraft in die intellektuellen Milieus verloren. Das zeigt sich nicht nur in fehlender Unterstützung von Intellektuellen bei Wahlen, sondern auch in der Nuit-Debout-Bewegung, die zu großen Teilen von Studierenden und Intellektuellen getragen wurde.