Nach den Wahlen in Russland wird zu Recht viel über Wahlmanipulation diskutiert. Die Ergebnisse sind aber nur vor dem Hintergrund einer tiefen sozialen und politischen Spaltung des Landes zu verstehen. Im linken Lager entstehen neue Bündnisse zwischen der kommunistischen Partei und außerparlamentarischen Kräften. Dass die Akteure des herrschenden Blocks nicht besser abgeschnitten haben, liegt auch daran, dass die Mischung aus grobschlächtigem Nationalismus, sozialem Populismus und wirtschaftsliberalen Vorstellungen in Russland nicht mehr überzeugen.
Nein, anders als viele Medien behaupten, war es kein deutlicher Sieg von Gerechtes Russland. Dies mag angesichts der Zahlen so scheinen, stellt man die 49 Prozent jedoch in Relation zu den politischen Realitäten, kommt man zu ganz anderen Einschätzungen. Die Schwäche der Opposition resultiert auch nicht aus dem Verschwinden von Navalny, wie gerne behauptet wird. Und wenn zwei linke Parteien zusammen genommen etwa 26 Prozent erreichen, ist das auch nur eine relative Schwäche. In welchem Kontext sind also Wahlkampf, Wahlergebnis und die daraus resultierenden neuen politischen Bedingungen zu betrachten?
Partei | Wahlen 2016 (in %) | Prognosen (in %) | Wahlen 2021 (in %) | Sitze (Liste+Direktmandate) |
Einiges Russland / Edinaja Rossija | 54,2 | 41-45 | 49,82 | 126+198 |
Bündnis der KPRF | 13,3 | 18-22 | 18,93 | 48+9 |
Liberaldemokratische Partei / LDRP | 13,1 | 10-13 | 7,55 | 19+2 |
Gerechtes Russland / Spravedlivaja Rossija | 6,2 | 7-9 | 7,46 | 19+8 |
Neue Leute / Novye Ljudi | -- | 4-6 | 5,32 | 13 |
Wahlbeteiligung (in %) | 47,99 | 51,68 |
Quelle: https://www.rbc.ru/politics/21/09/2021/61494f269a7947cc95854d84 und https://www.kommersant.ru/doc/4996932?tg
Außerdem werden in der Duma durch den Gewinn von Direktmandaten die Parteien Heimat (Rodina), Partei des Wachstums (Partija Rosta, eine Partei des mittleren und innovationsorientierten Unternehmer*innentums) und Bürgerplattform (Graschdanskaja Platforma) vertreten sein. Desweiteren errangen fünf Parteilose auf diesem Wege Sitze im Parlament.
Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Levada im Umfeld der Wahlen vermitteln für Russland das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. Die Hälfte der Befragten ist mit der Amtsführung des Präsidenten zufrieden, die andere Hälfte nicht. Für die Hälfte der Bevölkerung steht es gut um das Land für die andere Hälfte nicht. Diese Unzufriedenheit folgt vor allem der sozialen Lage der Befragten. Gleichzeitig sinkt der Teil derjenigen, die mit größeren sozialen Protesten rechnen, allerdings steigt der Anteil derer, die an solchen Protesten teilnehmen würde. Der stabile Anteil von 50 Prozent, die nicht vorhaben, sich gegen Corona impfen zu lassen, resultiert nicht aus irgendeiner Form von Angst vor dieser Impfung, sondern aus einer tief sitzenden Aversion gegenüber der Regierung – die meisten von ihnen würden sich impfen lassen, wenn es denn sein muss. Ein weiteres interessantes Ergebnis aktueller Umfragen zeigt sich in den Antworten auf die Frage, was für ein Land Russland sein solle: Die Vorstellung einer Großmacht, die friedlich mit den Nachbarn zusammenlebt, wird nur von 30 Prozent der Befragten vertreten. Die Mehrheit spricht sich für ein Russland aus, in dem Wohlstand herrscht.
Der Analytiker Wladislaw Inosemzew vergleicht das Land mit einer Rakete, die ins All geschossen wurde und nun so lange ohne Triebwerk fliegt – bis sie mit einem Asteroiden kollidiert. Er meint, dass nur ein Schock von außen, wie etwa ein extremer Fall des Ölpreises, eine globale Krise oder verschärfte Sanktionen, etwas ändern könnte – eine Sicht, der wenigstens die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte entgegenstehen, und die, was die Sanktionen betrifft, eher fragwürdig ist. Die Sanktionspolitik hat bisher eher stabilisierend gewirkt. Richtig an dem Bild ist, dass es wahrscheinlich keine Reform aus dem Inneren des derzeit bestimmenden Machtblocks geben wird – entweder von seinen Rändern oder eben vom russländischen Außen.
Zwei Deutungen
Der Sieg von Einiges Russland ist glanzlos. Keines der durch Präsidentenerlasse oder auf Initiative des Präsidenten angeschobenen Modernisierungsprojekte hat bisher gegriffen, die soziale Situation ist unverändert angespannt. Daran können auch die einmaligen Zuwendungen, die Rentner*innen, Militärangehörige und Mitarbeiter*innen ausgewählter Bereiche des Staatsapparates Ende August erhalten haben, nichts ändern. Obwohl die Impfkampagne mit einem eigene Impfstoff frühzeitig begonnen wurde, bleiben die Probleme auch hinsichtlich der Pandemie groß.
Vor diesem Hintergrund kann man die Wahlergebnisse zweifach deuten:
1| Zunächst kann man das Gewicht auf die Verfälschung des Wahlergebnisses legen. Damit wurde ohnehin gerechnet und dies begann schon vor den Wahlen. Der Staatsapparat und Einiges Russland haben mit verschiedenen Tricks versucht, Kandidat*innen von der Wahl auszuschließen oder sie zum Rückzug zu bewegen (etwa über die Bezeichnung als „ausländischer Agent*in“ – soweit irgendeine Verbindung zu ausländischen Organisationen zu finden war, über Strafverfahren oder durch die Aufstellung von Kandidat*innen mit ähnlichen Namen wie Oppositionsvertreter*innen). Das dürfte in der Konsequenz aber eher das Misstrauen in die Staatsmacht und letztlich auch in den Präsidenten (der vor einigen Jahren noch als weitgehend vertrauenswürdig galt) befördert haben. Ob es ausreichen wird, den Patriotismus zu beschwören, wie es Putin in einer am 16. September veröffentlichten Ansprache aus Anlass der Wahlen tat, ist fraglich.
Die Aussagen zu Verfälschungen der Wahlen selbst sind widersprüchlich. Offiziell verweist man auf die internationalen Wahlbeobachter*innen, die nur wenige Verstöße monierten. Immerhin ist es Teilen der Opposition gelungen, in den Wahllokalen für die gesamte Dauer der Wahlen sowie während der Auszählung Beobachter*innen zu platzieren. Deren Arbeit wurde zwar oft behindert, dennoch kann sich die Einschätzung, dass die Wahlen erheblich manipuliert wurden, recht überzeugend auf deren Beobachtungen stützen.
Worauf die Beobachtungsmissionen keinen unmittelbaren Zugriff hatten, sind die Ergebnisse der elektronischen Abstimmung. Diese war in Moskau und in weiteren sechs Gebieten möglich. In Moskau wählten 2 Mio. von den insgesamt über 7 Mio. Wähler*innen via Internet. Bereits am Montagvormittag wurde über gravierende Veränderungen der Wahlergebnisse berichtet. In einem der Moskauer Wahlbezirke machte der Kandidat von Einiges Russland 10 000 Stimmen gegenüber der dem Kandidaten der kommunistischen Partei (KPRF), dem Parteilosen Michail Lobanow, gut, nachdem die Stimmen ausgezählt waren, die über das elektronische Portal der Moskauer Stadtregierung abgegebenen worden waren. Ähnlich erging es Anastasia Udalzowa, die ebenfalls als Parteilose auf der KPRF-Liste kandidierte und nach der Auszählung der direkt abgegebenen Stimmen mit knapp zwei Prozentpunkten vor ihrer Konkurrentin von Einiges Russland lag. Nach der Einbeziehung der per Internet abgegebenen Stimmen verwandelte sich das in einen 10-Prozentpunkte-Rückstand. Diese erstaunliche Umkehrung zu Gunsten von Einiges Russland vollzog sich in allen sieben Wahlkreisen in Moskau, die nach der Auszählung der direkt abgegebenen Stimmen an Oppositionelle gefallen wären. Das ist tatsächlich ungewöhnlich und auffällig – und darüber hinaus erklärungsbedürftig. Sollte sich die Struktur der Wähler*innenschaft tatsächlich so deutlich unterscheiden? Bemerkenswert ist auch, dass niemand, auch nicht die Zentrale Wahlkommission, es für nötig erachtet, auch nur so zu tun, als könnten sie diese Merkwürdigkeit erklären. Angesichts des ohnehin vorhandenen Misstrauens in den Staat dürfte sich dieser damit ein neues Problem schaffen. Montagmittag erklärte die Parteiführung der KPRF bereits, dass sie die Ergebnisse der elektronischen Stimmabgabe in Moskau nicht anerkennen werde. Am 24. September soll eine entsprechende Klage auf Ungültigkeit der elektronischen Stimmabgabe eingereicht werden. Diese Auseinandersetzung ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil bereits jetzt geplant ist, die internetgestützte Abstimmung bei den nächsten Präsidentschaftswahlen landesweit anzuwenden.
2| Zu einer zweiten Deutung kommt man, wenn man die Ergebnisse der Wahlen vor dem Hintergrund der oben angeführten Meinungsumfragen betrachtet. Tatsächlich erreichte Einiges Russland mit ihrem Wahlergebnis die Werte, die man bei einer 50-prozentigen Zufriedenheit mit der Lage im Lande erwarten könnte. Wahrscheinlich ist auch, dass die nun im Parlament vertretene Neugründung Neue Leute einen Teil der Unzufriedenen auffangen konnte. Diese Partei, gegründet 2020 von dem Unternehmer Aleksej Netschaew, gilt als der Regierung nahestehend, möglicherweise von dieser initiiert. Die Gründung sei darauf gerichtet, die anderen Oppositionsparteien zu schwächen und gerade jüngeren Menschen eine Alternative zu Einiges Russland im Rahmen des gegebenen Systems zu bieten. Boris Kagarlitzki betont vor diesem Hintergrund, dass die Wahlen auch durch die inneren Widersprüche der herrschenden Schichten bestimmt wurden. Das recht leise Verschwinden des Navalny-Apparates und der Untergang von Jabloko unterstützen diese These dahingehend, dass offensichtlich auch in der Oligarchie eine neue Generation aufsteigt. Jabloko, die für ein sozialliberales Programm westlicher Prägung steht, erhielt nur 1,34 Prozent. Für einen Teil der neuen Generation in der Oberschicht ist die Idee des westlichen Kapitalismus unattraktiv, gleichzeitig jedoch erkennen sie die Reformbedürftigkeit des gegebenen Systems. Die Partei Neue Leute, aber auch die Partei des Wachstums stehen für diesen Trend, auch wenn letztere noch weit von wirkungsvoller parlamentarischer Präsenz entfernt ist, sie gewann nur ein Direktmandat. Auch Einiges Russland versucht den offensichtlichen Reformnotwendigkeiten gerecht zu werden. Die Hälfte der neuen Abgeordneten war bisher in keinem Parlament. Diese begrenzte Reformorientierung kann die rechtspopulistische LDPR nicht mehr mitvollziehen. Die Halbierung ihres Stimmanteils dürfte dadurch zu erklären sein, dass die Mischung aus recht grobschlächtigem Nationalismus, sozialem Populismus und wirtschaftsliberalen Vorstellungen in Russland inzwischen antiquiert und unpraktikabel wirkt.
Wahl der Polarisierung
Natürlich muss man sich bewusst sein, dass die Wahlen und die in diesem Zusammenhang entstandenen Konstellationen und Kooperationen nur eine Momentaufnahme des politischen Lebens darstellen. Soweit man das parlamentarische Feld betrachtet, stehen sich zwei Lager gegenüber: Auf der einen Seite Einiges Russland, die LDPR und die Neuen Leute, die im außerparlamentarischen Feld von einem Teil der Navalny-Strömung unterstützt werden, repräsentieren den rechten und antisozialstaatlichen Flügel, der für mehr oder weniger konsequente Modifikationen der oligarchischen Kapitalherrschaft steht. Auf dem linken Flügel sehen wir die KPRF und Gerechtes Russland, die einen grundlegenderen Umbau des Systems befürworten. Hinter der militanten Rhetorik eines Teils dieser Strömung wie auch der eher reformerischen eines anderen Teils steht vor allem ein sozialstaatlicher Anspruch, der allerdings Fenster für weitergehende Veränderungen öffnen könnte. Gesellschaftlich betrachtet stehen sie auch für das bunte Feld verschiedener linker Gruppierungen, die sich aus dem parlamentarischen Bereich schon lange verabschiedet haben. Vor dem Hintergrund der beständigen Repressionen sind Wut aber auch Resignation gerade hier groß. Gleichzeitig gibt es hier aber auch einen Raum intensiven Austauschs vor allem im Internet, der trotz verschiedener Versuche der Regulierungsbehörde nicht zu zerschlagen ist.
Das wichtigste Ergebnis des Wahlkampfs und der Wahl ist, dass der Versuch der KPRF, eine breitere Wahlplattform zu schaffen, offensichtlich Erfolg hatte. Wahrscheinlich verdankt die KPRF den parteilosen Kandidat*innen mit ihren Erfahrungen in der parteiunabhängigen Basisarbeit ihr Wahlergebnis. Gerade der relativ geräuschlose Zerfall des „Systems Navalny“ nach den Schlägen gegen dessen Antikorruptionsfonds und die damit verbundene Infrastruktur zeigt, wie wichtig basisverankerte Strukturen sind. Es wird auch davon ausgegangen, dass selbst Wählerinnen und Wähler, die für Navalny gestimmt hätten, zu guter Letzt sich für die Kommunistische Partei ausgesprochen haben. Sie erreichte so ihr zweitbestes Ergebnis seit ihrer Gründung nach dem Zerfall der Sowjetunion (nach 24 Prozent bei den Wahlen 1999). Interessant und wichtig wird sein, ob dieser „links-patriotische Block“ um die KPRF herum Stabilität – und deutlich wachsenden Zuspruch findet. Die KPRF konnte unter anderem die von Sergej Udalzov repräsentierte „Linke Front“ (Levyj front) und die hinter Nikolai Platoschkin stehende „Bewegung für einen neuen Sozialismus“ für dieses Projekt gewinnen. Die Partei präsentiert sich als „Zentrum der Vereinigung aller links-patriotischen Kräfte“. Auf die Frage eines Journalisten, was das Erste sei, was die KP machen würde wenn sie an die Macht käme, antwortete deren Vorsitzender:
„Vor allem ist es notwendig alle Bodenschätze, den ganzen nationalen Reichtum in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Jetzt dienen sie drei Dutzend Vampiren. Außerdem müssen die grundlegenden Rechte der Bürger wieder hergestellt werden: der Achtstundentag, die Möglichkeit normal zu lernen, geheilt zu werden, das eigene Land und die Welt kennen zu lernen.“
Ansonsten stützt sich, soweit dies aus den Parteitagsberichten abzuleiten ist, die Wahlprogrammatik der KPRF wie auch 2016 auf die „Zehn Schritte zu einem anständigen Leben“.
Allerdings ist auch zu vermerken, dass neben der Kommunistischen Partei und ihren Partner*innen weitere sich links definierende Parteien als deren Konkurrenten angetreten sind. Das betrifft etwa die Partei der Kommunisten Russlands und vor allem die Partei Gerechtes Russland. Letztere hatte ebenfalls vor den Wahlen neue Partner gesucht. Die Partei vereinigte sich mit Blick auf die Wahlen mit zwei kleineren Parteien, der Partei „Für die Wahrheit“ (Za pravdu) und den „Patrioten Russlands“. Deren Ziele, die in dem aus Anlass der Vereinigung verabschiedeten „Manifest“ formuliert sind, sind von denen der KPRF nur schwer zu unterscheiden. Versuche, gemeinsam aufzutreten, scheinen jedoch schon in sehr früher Phase gescheitert zu sein. Zwischen den linken Parteien, von denen viele das Adjektiv „kommunistisch“ in ihrer Bezeichnung tragen, scheint es schwieriger zu sein, zu Bündnissen zu kommen, als mit außerparlamentarischen Bewegungen.
Das Potenzial einer tatsächlichen parlamentarischen Opposition dürfte dementsprechend bei 30 Prozent liegen. Und diese haben mit der sich auf Navalny beziehenden Bewegung nur wenig zu tun. Hier geht es um mehr als um die Reform eines oligarchischen Kapitalismus. In diesem Punkt trifft sich die Angst, dass Veränderungen vor allen Dingen Verschlechterungen heißt, mit einer für westeuropäische Ohren eigentümlichen Revolutionsrhetorik bei einem Teil der Linken. Man ist sich dessen bewusst, wie scharf die Widersprüche in der Gesellschaft sind – und dass Veränderungen eine gewisse Militanz erfordern. Freilich ist das in den Augen des „Westens“ extremistisch, wie es etwa in einer Wahlauswertung der Konrad-Adenauer-Stiftung heißt. Damit ist auch klar ausgesprochen, dass „der Westen“ Reformen, die von dem Teil der Opposition initiiert werden könnten, der ihnen nicht genehm ist, torpedieren wird. Für die Zukunft der internationalen Beziehungen bedeutet das nichts Gutes.
Das Abschneiden von KPRF und Gerechtes Russland wird nur durch die dahinter stehende Bewegung im linken Feld wichtig – nicht unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses in der Duma, sondern mit dem Blick auf die, die sich als Linke in den täglichen Kämpfen engagieren. Ob sich daraus mehr entwickelt und ob insbesondere das Bündnis im Umfeld der KPRF in der weiteren Entwicklung andere Teile der sehr heterogenen Linken anziehen kann, ist offen.