Um es vorweg zu nehmen: Auch ich sah zu Beginn des Jugoslawienkrieges Wirtschaftssanktionen als kleineres Übel und Alternative zu militärischen Eingriffen. In den 25 Jahren meiner entwicklungspolitischen Auslandseinsätze für die GIZ, die EU und die UN im Bereich internationale Handelsabkommen war ich jedoch unmittelbar mit den humanitären Auswirkungen konfrontiert, die wirtschaftliche Sanktionen auf die ärmeren Teile der Bevölkerungen haben. Heute bin ich entschiedener Gegner wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen– aus vielschichtigen Gründen, dich ich im Folgenden thesenhaft darlege.
Wovon sprechen wir, wenn wir von „Sanktionen“ sprechen?
Der Begriff gilt in der öffentlichen Diskussion zumeist als „Instrument zwischen Verhandlungen und Krieg“. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur werden Sanktionen hingegen als „Krieg, der mit wirtschaftlichen Mitteln geführt wird“, in der politischen Ökonomie als „eine Vorstufe zum Krieg“ bezeichnet. In Wirtschaftszeitungen wie Handelsblatt, NZZ, Economist, auch von Politikern wie Robert Habeck oder Wolfgang Schäuble wird unter Sanktionen ein „Wirtschaftskrieg“[1], im Falle Irans und Russlands ein „Energiekrieg“[2] verstanden. In der Charta der Vereinten Nationen werden Sanktionen als „unilateral verhängte wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen“ definiert. Völkerrechtlich legal sind ausschließlich die nach Artikel 39 der UN-Charta vom Sicherheitsrat der UN beschlossenen Sanktionen[3] zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und die im Rahmen des Art. 51 UN-Charta zur Verteidigung ergriffenen Zwangsmaßnahmen. Um die Begrifflichkeit zu vereinfachen, werde ich im Folgenden die unilateralen Zwangsmaßnahmen als Sanktionen benennen. Im Allgemeinen versteht man darunter Zwangsmaßnahmen gegen einen Staat, weiter gefasst fallen unter diesen Begriff auch Waffenembargos oder Zwangsmaßnahmen gegen Individuen. Im Fokus dieses Artikels stehen „Wirtschaftssanktionen“, als ein Bündel von Maßnahmen, die dazu geeignet sind, die Volkswirtschaft des sanktionierten Staates zu schwächen.
Sanktionen vertiefen ein Machtgefälle
Eine wesentliche Voraussetzung von Sanktionen ist ein Machtungleichgewicht zwischen sanktionierendem und sanktioniertem Staat. Aktuell werden Sanktionen somit fast ausschließlich von Staaten des globalen Nordens verhängt und widersprechen damit dem Prinzip der Vereinten Nationen als einer Gemeinschaft gleichberechtigter Nationen. Besonders die USA hat bei Verlust von wirtschaftlicher und politischer Dominanz immer wieder mit Sanktionen gegen die betreffenden Länder reagiert, von Kuba über Vietnam, Laos, Kambodscha, Iran, Nicaragua, bis Zimbabwe. 1998 belief sich die Zahl der sanktionierten Länder bereits auf 74, im vergangenen Jahrzehnt kamen neben vielen anderen noch Venezuela, Libyen, Syrien, Weißrussland, Afghanistan, Russland und China dazu. Ab 2018 verpflichteten die USA auch ausländische Firmen dazu, Wirtschaftssanktionen umzusetzen, sofern sie an US-Börsen notiert sind (sog. sekundäre Sanktionen). Diese betrafen anfangs im wesentlichen Iran, ab 2014 Russland und inzwischen auch China. Unvollständige Zählungen ergaben für 2014 die Summe von 2.700 und 2022 zusätzliche 5.500 Sanktionen seitens der USA und der EU.
Sanktionen sind völkerrechtlich umstritten
In Anbetracht der negativen Folgewirkungen insbesondere für ärmere und verletzliche Bevölkerungsgruppen haben die Vereinten Nationen nach dem Irak-Krieg Mitte der 90er auf von ihnen verhängte Sanktionen verzichtet (Giumelli 2015: 1351–1368). Im Bericht des UN Generalsekretärs von 2015 werden „Sanktionen im Konflikt gesehen mit den Prinzipien der UN-Charta, den Normen internationalen Rechts und des regelbasierten multilateralen Handelssystems, und sie verletzen die Souveränität von Staaten“. Seit vielen Jahren wiederholen UN-Resolutionen die dort festgehaltene Formulierung, dass Sanktionen als „politische und ökonomische Zwangsmittel gegen Entwicklungsländer zu verurteilen und abzulehnen“ sind. Das gilt insbesondere auch für sogenannte „sekundäre Sanktionen“, mit denen in Drittstaaten ansässige Unternehmen gezwungen werden, an Sanktionen teilzunehmen. Gemäß UN-Charta gilt für jedes Land ausschließlich territoriale Rechtsprechung. Exterritoriales Recht kann nur mit Zustimmung der Völkergemeinschaft bzw. vom Sicherheitsrat gemäß UN-Charta beschlossen werden.[4] Sekundäre wirtschaftliche Strafmaßnahmen widersprechen damit grundsätzlich dem Völkerrecht.
Sanktionen folgen Doppelstandards
Als Ziel von Sanktionen wird explizit die Erzwingung der Einhaltung von Normen bei den Sanktionierten angeführt. Die Einhaltung von Menschenrechten nach innen und die Gewährleistung von friedlichen Beziehungen zu anderen Staaten werden dabei in den Vordergrund gerückt. Nicht oder nur am Rande wird thematisiert, dass für die Begründung von Sanktionen oft selektiv Normen herausgenommen werden, und Zwangsmaßnahmen durchweg auf Länder angewandt werden, die sich den politischen und wirtschaftlichen Vorgaben des Westens entziehen. Länder dagegen, die zwar dieselben Normen nicht einhalten, aber den Vorgaben des Westens folgen, haben fast nie unter Sanktionen zu leiden.[5]
Die Ärmsten werden am Stärksten getroffen
Sanktionen sind für die herrschende Elite der sanktionierten Länder fast immer folgenlos.[6] Am stärksten betroffen sind hingegen ärmere Bevölkerungsteile und verletzliche Gruppen.[7] Wirtschaftliche Strafmaßnahmen haben durchweg den größten Effekt auf Basisgüter, die von der Masse der Bevölkerung benötigt werden. Infolgedessen erhöht sich deren Inflationsrate ungleich stärker als jene für Luxusgüter. Menschenrechte werden zumeist beeinträchtigt statt gesichert. Als Antwort auf die Wirtschaftskrise werden Beschäftigten-, Streik- und Gewerkschaftsrechte beschnitten, Arbeitszeiten ausgedehnt und Löhne gesenkt. Inzwischen werden viele sanktionierte Länder auch vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen. Selbst wenn die Sanktionslisten Güter wie Nahrungsmittel, medizin-technische Güter, Medikamente und Impfstoffe nicht umfassen, sind entsprechende Importe so faktisch nicht mehr möglich.[8]
Die Folgen treffen auch angrenzende Staaten
In der Praxis werden auch die Volkswirtschaften der angrenzenden Nachbarländer von Wirtschaftssanktionen betroffen, insbesondere deren bilaterale Handelsströme und Investitionen. In der Regel gehen damit auch regionale ökonomische und militärische Machtverschiebungen einher, was in konfliktreichen Regionen weitere destabilisierende Faktoren einführt. Die seit einigen Jahren eingeführten sekundären Sanktionen treffen darüber hinaus weltweit andere unbeteiligte Staaten. Die inzwischen fast im monatlichen Rhythmus zunehmenden Sanktionen des Westens gegen die Großmächte China und Russland zeigen ihre globalen Auswirkungen auf Sanktionierenden und Sanktionierte, vor allem aber auf Unbeteiligte des globalen Südens. Erstere können aufgrund relativ hoher Staatsbudgets Kompensationsmaßnahmen für die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen beschließen. Ländern des globalen Südens haben selten die Mittel, um soziale Folgen der weltweiten Inflation bei Energie, Nahrungs- und Düngermittelpreisen abzufedern.[9] Im Jahr 2022 hatte die arbeitende Bevölkerung weltweit den ersten Rückgang ihrer Kaufkraft seit 100 Jahren zu tragen.
Lange Laufzeiten und fehlende Exit-Optionen
Einmal angewendet, tendieren Wirtschaftssanktionen dazu ausgeweitet zu werden und bleiben oft für Jahrzehnte bestehen. Gezielte Sanktionen gegen Einzelpersonen werden im weiteren Verlauf oft auf regierungsnahe Firmen, dann staatseigene Unternehmen und schließlich auf ganze Wirtschaftszweige ausgeweitet. Gegenwärtig erhalten die sich hochschraubenden Sanktionsspiralen eine derartige Eigendynamik, dass Wirtschaftskriege drohen, zur Norm zu werden.[10] Seit 2016 blockieren und seit 2022 paralysieren die USA die Appellationsinstanz der Welthandelsorganisation, die über die Zulässigkeit von Handelsbeschränkungen innerhalb des Regelwerks der WTO entscheiden soll. Sanktionierten ist damit der Rechtsweg verwehrt. Wie die historische Entwicklung zeigt, sind Sanktionen zwar schnell einzuführen, werden aber oft schwer wieder aufgehoben.
Da die Konditionen für eine Aufhebung von Sanktionen in der Regel nicht festgeschrieben werden und Evaluierungen nicht vorgesehen sind, ist deren Laufzeit nicht kalkulierbar und bietet damit für die Herrschenden keinerlei Anreiz, sich der Zielsetzung der Sanktionen zu beugen. Es ist ein verständlicher menschlicher Impuls, Unrecht nicht tatenlos zusehen zu wollen. Angesichts der massiven Auswirkungen auf die Bevölkerungen in den sanktionierten und vielen weiteren Ländern des Globalen Südens muss aber die Frage erlaubt sein, welche Ziele durch Wirtschaftssanktionen erreicht werden sollen und ob diese bei vorangegangenen Sanktionen je erreicht wurden.
Die Ziele werden zumeist verfehlt
Das Ziel einer wirtschaftlichen Schwächung der betroffenen Staaten wird zumeist erreicht. Tatsächlich sind wirtschaftliche Folgen in den sanktionierten Ländern eindeutig nachweisbar. Ihre Folgen zeigen sich im Wesentlichen im Mangel an wichtigen Gütern und steigender Arbeitslosigkeit bei sinkender Zahlungsfähigkeit der Staaten und geringeren Staatseinnahmen. Die Bevölkerung wird von den Maßnahmen getroffen, unabhängig davon, ob sie die Politik dieses Staates unterstützen oder nicht. Kurzfristig sind umstellungsbedingte Zeitverzögerungen zu beobachten, aber mittelfristig wenden die betroffenen Staaten durchweg relativ erfolgreiche Kompensationsstrategien an. Neben vielen kleineren Maßnahmen beinhalten diese im Wesentlichen Anpassungen der Handelsströme, Umbau in Richtung erweiterter wirtschaftlicher Autonomie und den Ausbau nicht-formeller Handelsbeziehungen, wie Lieferungen über Drittstaaten und privatwirtschaftlichen Schmuggel.
Das Ziel eines „Regime Changes“ wird zwar selten explizit benannt, aber nach einer 2008 herausgegebenen umfassenden Analyse hatten rund 40 Prozent aller untersuchten Fälle von Wirtschaftssanktionen einen „Regimewechsel“ zum Ziel. (Hufbauer et al 2008) Dabei wird unterstellt, dass die durch die Sanktionen herbeigeführte wirtschaftliche Desintegration gleichfalls zu politischer Desintegration führe. In der Öffentlichkeit wird diese Zielsetzung oft als eine Art „zivilisierende Mission“ verklausuliert, die zur Einführung von „modernen und entwickelten Demokratien“ führen solle. Die Definitionshoheit, welche Art von Zivilisierung oder in welchem Format diese Demokratien ausgestaltet werden sollen, behalten sich die sanktionierenden Staaten vor. Empirisch ist jedoch häufig festzustellen, dass durch Sanktionen die Zustimmung der Bevölkerung zu ihrer Regierung steigt. Mögliche Ursachen sind, dass die Sanktionen als eine dem Prinzip der Selbstbestimmung widersprechende Einmischung oder gar als Bedrohung durch einen äußeren Feind wahrgenommen werden. Im Ergebnis resultiert daraus zumeist eine Stabilisierung der autoritären Führung, in einigen Fällen sogar deren Stärkung.
Fazit: Als politisches Mittel ungeeignet
Nicht von der UN mandatierte wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen sind Ausdruck eines Machtgefälles. Völkerrechtlich nicht legitimiert, treffen unilateral erhobene Wirtschaftssanktionen vorwiegend die Bevölkerung. In vielen Fällen haben Sanktionen gravierend negative Folgen auf Ernährung, Zugang zu Gesundheit, Energie und Sozialleistungen. Eliten können sich wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen fast immer entziehen, während die arbeitende Bevölkerung und vor allem arme und vulnerable Gruppen als Hauptleidtragende von Inflation, Preisspiralen und Arbeitslosigkeit gelten. Trotzdem steigt in fast allen sanktionierten Ländern die Zustimmung der Bevölkerung zu ihrer Regierung. Wirtschaftssanktionen als Mittel für das implizierte Ziel von „regime changes“ waren durchweg erfolglos. Von Auswirkungen wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen sind vielfach auch angrenzende Nachbarländer sowie völlig unbeteiligte Länder in anderen Regionen betroffen. Sanktionen sind extrem selten an einen Zeitrahmen oder explizite Konditionen für ihre Beendigung gebunden und haben insgesamt eine sehr geringe Erfolgsrate. In einem der seltenen Erfolgsfälle, dem Atomabkommen mit dem Iran, hat der Sanktionierende das Abkommen gekündigt. Sanktionen bergen die immanente Gefahr von Eskalation, im bilateralen, regionalen, und teilweise auch im internationalen Rahmen.