In Europa wachsen die Bewegungen der Städte des Willkommens, der Zuflucht und Solidarität. Zivilgesellschaftliche Gruppen und städtische Politiker*innen widersetzen sich so den wachsenden Restriktionen europäischer und nationaler Grenz- und Migrationspolitiken. Zugleich entwickeln sie konkrete lokale Politiken zum Schutz oder zur sozialen Teilhabe von Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus und bilden diskursive Gegenpole zum europaweiten Aufstieg rechter Parteien, welche die Abschottung der Grenzen sowie die Kriminalisierung von Migrant*innen vorantreiben.
Bereits seit den 1980er Jahren, als Hunderttausende Flüchtlinge aus den zentralamerikanischen Bürgerkriegsländern Schutz vor Verfolgung in den USA und in Kanada suchten, existiert in Nordamerika das Konzept der »Sanctuary City« (Stadt der Zuflucht). Als erste Stadt verabschiedete San Francisco im Jahr 1989 eine Verordnung, die den städtischen Behörden und Polizist*innen die Kooperation mit den Bundesbehörden bei der Identifikation, Verfolgung, Inhaftierung und Abschiebung von Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus untersagt. Bis heute haben sich mehr als 500 US-amerikanische und kanadische Städte und Gemeinden sowie sogar einige Bundesstaaten der »Sanctuary«-Bewegung angeschlossen.
Nach der Flüchtlingstragödie von Lampedusa im Oktober 2013, bei der mehr als 400 Menschen in Sichtweite der sizilianischen Insel ertranken, war der Bürgermeister der sizilianischen Hauptstadt Palermo, Leoluca Orlando, einer der ersten in Europa, der seine Stadt zu einer Stadt des Willkommens sowie alle dort ankommenden Geflüchteten zu »Palermitanern« erklärte. Im Jahr 2015 veröffentlichte er die »Charta von Palermo« in der gefordert wird, die Aufenthaltsgenehmigung abzuschaffen, die Rechte der Staatsbürgerschaft ausschließlich mit dem Wohnort zu verbinden und jedem Menschen das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes zu gewährleisten.
Genau genommen war die erste Stadt des Willkommens in Europa aber ein Dorf: Am 1. Juli 1998 legte vor Riace, einem kleinen Ort mit rund 2.000 Einwohner*innen an der kalabrischen Küste in Süditalien, ein Boot mit 300 Geflüchteten aus den kurdischen Gebieten an (vgl. LuXemburg 3–4/2013). Bürgermeister Domenico Lucano nahm die Flüchtlinge in seinem Dorf auf, das bis dahin drohte, sich aufgrund von Abwanderung in einen Geisterort zu verwandeln. Er beschloss, einen Ort zu schaffen, an dem Flüchtlinge und Einheimische gemeinsam arbeiten und leben. Anfang Oktober 2018 nahmen die italienischen Behörden Lucano allerdings fest und stellten ihn unter Hausarrest. Ähnlich wie den Crews der zivilen Rettungsschiffe wirft die Justiz ihm unter anderem »Begünstigung illegaler Migration« vor. Solidarische Kommunen sind also nicht allein ein Phänomen der Großstädte. Das Beispiel Riace zeigt sogar das Potenzial solidarischer Kommunen für ländliche Räume: Orte, die von Abwanderung geprägt sind, können wiederbelebt und öffentliche Infrastrukturen erhalten werden. So existieren auch in Deutschland und den USA Kleinstädte, Gemeinden und Landkreise, die sich zu Kommunen der Solidarität oder Zuflucht erklärt haben.
Dennoch ist die solidarische Kommune bislang ein vorwiegend urbanes Phänomen. In Großstädten verdichten sich soziale Kämpfe und Konflikte, etwa im Feld der Migration, und es existieren vielfältige migrantische und andere zivilgesellschaftliche Organisationen. Politiker*innen, Verwaltungen und zivilgesellschaftliche Gruppen in Städten verfügen zudem oft über jahrzehntelange Erfahrungen beim Zusammenleben von Eingesessenen und Eingewanderten. Unabhängig von ihrer Größe ist aber hervorzuheben, dass es insbesondere Kommunen sind, die sich angesichts des europaweiten Rechtsrucks und der Verschärfung repressiver Grenz- und Migrationspolitiken zu sichtbaren Orten des Widerstands und des Willkommens entwickeln. Kommunen sind im Grenzregime zentrale Instanzen bei der Zuweisung von Rechten, etwa was die Interpretation und Umsetzung von aufenthaltsrechtlichen Regelungen und sozialpolitischen Zugängen angeht (vgl. Hess 2018). So haben Idee und Praktiken der solidarischen Stadt seit der Krise der europäischen Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 in ganz Europa eine beachtliche Dynamik erfahren.
Netzwerke solidarischer Städte
Viele europäische Metropolen sind dem 2016 gegründeten Städtenetzwerk Solidarity Cities beigetreten. Der Zusammenschluss im Rahmen des Eurocities-Netzwerks ist eine Initiative von Bürgermeister*innen für die Aufnahme und Integration von Geflüchteten. Solidarity Cities drängt auf eine effizient koordinierte Steuerung dessen, was im Gründungsdokument Flüchtlingskrise genannt wird. Von der EU-Kommission fordert das Netzwerk mehr finanzielle Unterstützung für die soziale Infrastruktur jener Städte in Europa, in denen de facto die meisten Geflüchteten ankommen oder bereits leben. Im Jahr 2017 riefen auch Aktivist*innen im deutschsprachigen Raum zu einem Bündnis solidarischer Städte auf. Soziale Bewegungen und Wissenschaftler*innen in Städten wie Berlin, Bern, Köln und Zürich sowie in zahlreichen kleineren Städten gründeten das alternative Städtenetzwerk mit dem fast identischen Namen Solidarity City. Aus Protest gegen die Blockade italienischer Häfen und eine Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer riefen Aktive aus dem Umfeld der internationalen Seenotrettungs-Bewegung im Sommer 2018 die Kampagne Seebrücke ins Leben und forderten die Regierungen deutscher Städte auf, sich zu »sicheren Häfen« für Geflüchtete zu erklären.
Inzwischen gehören in Deutschland rund 40 Städte und Gemeinden einem oder mehreren der genannten Netzwerke solidarischer Städte an. Eine ähnliche Kampagne mit dem Namen Safe Harbours wurde in italienischen und spanischen Städten lanciert und zielt auch auf eine internationale Vernetzung der beteiligten Städte und Organisationen. In Italien stößt das Ende 2018 verabschiedete neue Einwanderungs- und Sicherheitsgesetz auf den entschiedenen Widerstand zahlreicher Kommunal- und Regionalpolitiker*innen. Nicht nur die Stadtoberen von Neapel, Palermo, Mailand und Florenz lehnen das neue Gesetz mit aller Entschiedenheit ab, sondern auch die Präsidenten der Regionen Toskana, Kalabrien und Piemont. Der politische Raum der Stadt ist also zu einem Kampf- und Experimentierfeld rund um die Zukunft europäischer Flüchtlings-, Migrations- und Grenzregime geworden, aber auch für eine grundlegende Demokratisierung städtischer Gesellschaften. Eine Besonderheit dieser Bewegung ist, dass sie aus Praktiken der Solidarität und Kämpfen der Migration entstanden ist, deren Forderungen nach Schutz und Rechten für Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus nun auch in wachsendem Maße von der institutionellen Politik aufgegriffen wird.
Neue Perspektiven auf den urbanen Raum
Auch Wissenschaftler*innen haben in den vergangenen vier Jahren begonnen, ihre Aufmerksamkeit auf das politische, ökonomische und soziale Potenzial von Städten der Zuflucht, des Willkommens und der Solidarität zu richten. Rechtswissenschaftler*innen beschäftigen sich vor allem mit den juristischen Spielräumen und Grenzen von Kommunen bei der Aufnahme, beim Schutz und bei der Inklusion von Flüchtlingen und Migrant*innen (vgl. Heuser 2017). Sozialwissenschaftler*innen thematisieren die solidarische Stadt insbesondere im Kontext von Debatten um globale Bewegungsfreiheit und »Urban Citizenship« – Stadtbürgerschaft. Der Begriff citizenship ist hier deutlich weiter gefasst als der deutschsprachige Begriff der (Staats-)Bürgerschaft, weil er soziale, politische und ökonomische Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zusammendenkt (Marshall 1950). In diesem Kontext wird von städtischen oder regionalen Formen von citizenship gesprochen, wenn Politiken eingeführt werden, die soziale Teilhabe nicht nur für Staatsbürger*innen gewährleisten oder ausdehnen, sondern für alle Menschen, die in einer Stadt leben. Zudem wird auf die politischen und sozialen Kämpfe fokussiert, durch die Rechte erstritten werden (vgl. García 2006). In strategischen Debatten zu den Handlungsperspektiven linker Politik existieren mindestens drei Perspektiven auf dieses Politikfeld: erstens ein internationalistischer Blickwinkel, der die Stadt als konkreten Ort der Umsetzung globaler sozialer Rechte und des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit wahrnimmt (vgl. Kron/Lebuhn 2018).[1] Zweitens ist die stadtpolitische Perspektive zu nennen, die aus Sicht urbaner Bewegungen und linker Politik die Möglichkeiten und Herausforderungen stadtpolitischen Handelns auslotet. Zu dieser Perspektive zählen auch die Diskussionen um den neuen Munizipalismus und die »Rebel Cities« (vgl. etwa Zelik u.a. 2016; Harvey 2016). Eine dritte Perspektive auf solidarische Städte bilden die Konzeptionen einer verbindenden Klassenpolitik, die die Diversität der Arbeiterklasse als Ausgangspunkt linker Organisierung betrachten (vgl. Candeias 2017). Diese Debatten in Politik und Zivilgesellschaft gehen einher mit einem wachsenden Interesse an Erfahrungen und Ideen aus anderen »Städten der Solidarität«. Allerdings sind die administrativen und politischen Voraussetzungen wie auch die jeweils involvierten Akteure, Schwerpunktsetzungen und Handlungsansätze verschieden. Die Unterschiede beginnen bei der Zusammensetzung migrantischer Communities und Flüchtlingsgruppen in den einzelnen Städten. Sie gehen weiter bei Fragen der behördlichen Zuständigkeit und den aufenthalts- und sozialrechtlichen Bedingungen. Schon innerhalb Deutschlands ist vieles unterschiedlich geregelt, noch größere Differenzen bestehen im europäischen Vergleich. Studien, die diese Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) in international vergleichender Perspektive betrachten, existieren bislang noch nicht.