In diesem Wohlfahrtsmodell erscheinen »soziale Probleme« vorwiegend nur noch als Kostenfaktor – als Kosten, die von Regierungen, einzelnen Behörden, vom Sozialstaat, von den Steuerzahlern, der Gesellschaft etc. getragen werden müssen. Diese Ausgaben, so das Mantra, müssen gesenkt und der gesellschaftliche Nutzen sozialer Maßnahmen muss nachweisbar werden. Man kann bei den historischen Kosten der Leistungserbringung ansetzen. So können bestimmte Leistungen etwa durch das Zurückgreifen auf ehrenamtliche Helfer billiger angeboten werden. In vielen Fällen stellen staatliche Stellen und auch Finanzinvestoren Kosten-Nutzungs-Rechnungen für die Zukunft an. Sie fragen, inwieweit sich bestimmte Programme und Maßnahmen für Erwerbslose, physisch und psychisch Kranke sowie für alte Leute für den Wohlfahrtsstaat überhaupt rechnen und welche davon wirklich effektiv sind. Sie denken auch darüber nach, wie viel eingespart werden kann, wenn man zum Beispiel die Anzahl der Tage, die Menschen im Krankenhaus verbringen, reduzieren würde oder wenn Kinder weniger Zeit in staatlichen Betreuungseinrichtungen verbringen müssten oder die Zahl der Wiederholungstäter unter Kriminellen zurückginge. Es ist nur ein kleiner Schritt, bis demnächst auch noch offen darüber spekuliert wird, wie groß die gesellschaftlichen Einsparungen wären, würde es gelingen, »schlecht angepasste« in »gut angepasste« Gesellschaftsmitglieder zu verwandeln. Wie ließe sich damit die Zahl der begangenen Straftaten senken? Wie viele Menschen weniger wären auf öffentliche Dienste und staatliche Einkommenshilfen angewiesen, weil sie leichter Arbeit fänden und selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten? In diesen Fällen kommen kontrafaktische Berechnungsmodelle zum Einsatz, um damit die potenziellen Einsparmöglichkeiten zu kalkulieren. Es müssen Proxys erdacht werden, mit denen man quantifizieren kann, welche Kosten anfallen würden oder angefallen wären, hätte man bestimmte Maßnahmen nicht ergriffen.
Die Anhänger solcher wirkungsorientierter Finanzierungsmodelle und Kooperationsformen vertreten die Position, es sei notwendig, den an den Programmen beteiligten Investoren eine Rendite zu zahlen, um diese finanziell tragfähig und attraktiv für Kapitaleigner zu machen. Tatsächlich wurde mit der Einführung von Social Impact Bonds und ähnlichen Instrumenten nur eine neue Privatisierungsrunde eingeläutet. Indem der Staat Kreditgebern neue Einnahmequellen in Form von Zinszahlungen oder Ausschüttungen von »in der Zukunft zu erzielenden Einsparungen« verschafft, leitet er gezielt öffentliches Vermögen in die Hände von Privatunternehmen weiter, anstatt dafür zu sorgen, dass diese potenziellen oder realen Einsparungen dem Allgemeinwohl zugute kommen. Die in Aussicht gestellten Erträge basieren dabei auf keinerlei produktiver Aktivität, sondern sind von der öffentlichen Hand garantierte Zuwendungen für den Fall, dass sich eine soziale Maßnahmen als »wirkungsvoll« erweist. Diese Art von Auschüttung öffentlichen Vermögens vom Staat an Private stößt nicht nur in der Finanzwelt auf große Zustimmung, sie wurde sogar in diversen Gesetzen, Richtlinien und politischen Pogrammen festgeschrieben und damit legitimiert.
Die Finanzialisierung sozialer Reproduktion
Damit stehen diejenigen, die sich einer emanzipatorischen Politik verpflichtet sehen, vor einem beträchtlichen Dilemma. So wird in der Debatte über die Notwendigkeit von mehr Sozialinvestitionen sowie in der allgemeinen Auseinandersetzung über öffentliche Aufgaben, Sozialleistungen und Austeritätspolitik fast immer von einer Knappheitssituation, das heißt von einem Mangel an öffentlichen Ressourcen, ausgegangen. Dies mache es dem Staat zunehmend unmöglich, für alle gesellschaftlich notwendigen Infrastrukturen und Dienste aufzukommen. Demnach fehlt es an Geld in der Kasse, entweder weil Regierungen in den letzten Jahren zu viel ausgegeben haben (das ist die rechte Sichtweise) oder weil kurzfristig durch die Bankenrettung und langfristig durch die regressive Besteuerung und die Steuerflucht vieler Unternehmen die Einkommensgrundlage des Staates erodiert ist (das ist die linke Sichtweise), oder – so ein weiterer Begründungszusammenhang – weil soziale Bedürfnisse und Ansprüche immer weiter zunehmen. Da der Staat nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfüge, so die Argumentation, müssen diese von irgendwo anders herkommen, nämlich aus der Privatwirtschaft.
Wenn man sich die Funktionsweise dieser Deals jedoch genauer betrachtet, erkennt man, dass es vor allem darum geht, den sozialen Bereich grundlegend umzugestalten, indem man auch hier Finanzmechanismen, -prozesse und -produkte einführt und ihre Wirkung entfalten lässt. Kurzum: Es geht um nichts weniger als um die Finanzialisierung der sozialen Reproduktion, mit der Absicht, Strukturen durchzusetzen, mit deren Hilfe Gewinne abgeschöpft werden können. Von daher ist es irreführend, wenn behauptet wird, die Finanzindustrie würde der Gesellschaft großzügig und altruistisch Ressourcen bereitstellen. Ihr Interesse gilt vielmehr auch weiterhin vor allem rentablen Anlagemöglichkeiten. Der gesellschaftliche Reichtum wird lediglich als eine zusätzliche Profitquelle geschätzt. Die Logik bei Finanzinvestitionen ist immer: Der Ertrag muss größer sein als die Summe, die man in ein Geschäft oder Projekt hineingesteckt hat.
Von daher ist es notwendig, über öffentliche Ressourcen anders nachzudenken und sich von der Vorstellung zu verabschieden, es handele sich hierbei vor allem um eine monetäre Frage. Denn die Probleme, die vorgeblich mit der Schaffung eines neuen Marktes für Sozialinvestitionen bekämpft werden sollen, gehen ja gerade auf den Kapitalismus und sein umfassendes Versagen zurück. Vielfach verschärft die aktuelle Krise des Kapitalismus Probleme wie Mangelernährung, soziale Isolation, Krminalität, Erwerbslosigkeit und psychische Störungen noch. Wenn wir über soziale Bedürfnisse sprechen, dann sollten wir auch über die gesellschaftliche Organisation von Arbeit und Zeit sprechen sowie über die Kapazitäten und Fähigkeiten, die wir brauchen, um diesen Bedürfnisse angemessen nachzukommen. Wie können wir beispielsweise sicherstellen, dass alle Menschen einen Zugang zu guter Bildung und Pflege haben, sich gesellschaftlich nicht isoliert fühlen und sich an Aktivitäten in ihrer Nachbarschaft oder Community beteiligen können? Was muss getan werden, damit möglichst viele Menschen in demokratischer Form und nicht allein Experten, Spezialisten und Investoren darüber befinden, was einen gesellschaftlichen Wert hat?
Demokratie statt Social Return on Investment
Der Markt für Sozialinvestitionen wurde nach Auskunft seiner Befürworter geschaffen, um eine Reihe gravierender gesellschaftlicher Probleme anzugehen. Doch die meisten dieser Probleme sind ganz offensichtlich das Ergebnis von sozialer Ungleichheit und erheblichen Machtungleichgewichten, die von den hierfür entwickelten und zur Anwendung gebrachten Mechanismen und Lösungsansätzen überhaupt nicht berührt werden. Der Markt für soziale Investitionen ist nämlich zwangsläufig blind, wenn es um die strukturellen Dimensionen derjenigen Probleme geht, die er vorgibt, lösen zu wollen. Seine Interventionsmöglichkeiten sind beschränkt. Er kann versuchen, Einfluss auf das Verhalten einzelner Personen zu nehmen, und individuelle Fähigkeiten und individuelles Wissen stärken, wobei sich deutlich abzeichnet, dass in seinem Fokus insbesondere diejenigen stehen, die als nicht ausreichend produktiv und als Bürde für die Gesellschaft betrachtet werden (die Langzeitarbeitslosen, Vorbestrafte etc.).
Anstatt Gesellschaft durch das Prisma von Märkten und Geld zu betrachten und damit den Blickwinkel völlig einzuengen, benötigen wir eine ganz andere Perspektive, die sich nicht länger von den Werten und Vorgaben eines ökonomischen Produktivismus leiten lässt und eine Beteiligung an den Finanzmärkten zur neuen Bürgerpflicht erklärt. Was wir stattdessen dringend benötigen, sind egalitäre und demokratische Modelle und Formen der sozialen und ökologischen Reproduktion. Dafür müssen wir zunächst einige Grundannahmen zurückweisen und bekämpfen, mit denen der Umbau des gegenwärtigen Wohlfahrtsstaates begründet wird: Demokratie ist nämlich kein spezifisches Geschäftsmodell und kann deshalb auch nicht mithilfe von Markmechanismen verwirklicht werden. Die Menschen sind auch nicht alleinverantwortlich für ihren Lebensunterhalt und ihre Lebenschancen zu machen. Und schließlich sollte der Wohlfahrtssektor ganz anderen Logiken folgen als den von Finanzinvestoren, die nur auf einen materiellen Vorteil bedacht sind. In dieser Auseinandersetzung ist auch immer wieder auf den enormen Umfang von unbezahlter und bezahlter Care-Arbeit hinzuweisen, auf die der gegenwärtige Wohlfahrtsstaat und die Gesellschaft angewiesen sind. Wichtig ist zudem, all diejenigen Ansätze zu hinterfragen und zu kritsieren, die wie viele Public-private-Partnerships, Outsourcing-Modelle, Steuererleichterungen und die hier beschriebenen neuen Finanzinstrumente hauptsächlich dazu dienen, öffentliche Mittel in privaten Taschen verschwinden zu lassen. Wir sollten zudem deutlich machen, dass die überall erklingende Forderung, Kosten im sozialen Bereich einzusparen, interessegeleitet ist. Diejenigen, die »soziale Probleme« auf ihre »Kosten für die Gesellschaft« reduzieren wollen, negieren ihren strukturellen Charakter und den Umstand, dass sie mit massiven, ständig wachsenden sozialen Ungleichheiten zu tun haben. Es sind diese Strukturen, die geändert werden müssen, und nicht die Menschen, die unter ihren Auswirkungen leiden.
Andererseits muss jeder politische Kampf mit einer praktischen Kritik einhergehen, wozu gehört, Bündnisse mit ganz verschiedenen Akteuren aus dem Dritten und dem öffentlichen Sektor einzugehen und sich zusammen mit Bürger- und Nachbarschaftsinitiativen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen für den Ausbau von alternativen sozialen Infrastrukturen einzusetzen. Hiermit wäre die Chance verbunden, neue demokratische Modelle des gemeinschaftlichen Eigentums und der Entscheidungsfindung zu entwicklen und zu erproben, die sich nicht nach den finanziellen Interessen privatwirtschaftlicher Akteure richten müssen, sondern danach streben, gesellschaftlichen Reichtum anders zu verteilen und sicherzustellen, dass alle Menschen versorgt sind und in Würde leben können.