Neue beschäftigungspolitische Maßnahmen in der aktuellen EU-Strategie sollen bis 2020 die Beschäftigungsquote der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter auf 75 Prozent steigern und die Zahl der Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind, soll um mindestens 20 Millionen gesenkt werden. Die Maßnahmen sollten zusammen mit den EU-Mitgliedstaaten eng überwacht werden, »damit beschäftigungs- und sozialpolitische Erwägungen nicht hinter den wirtschaftspolitischen zurückstehen«.
Die Wirklichkeit ist anders
- Es gibt inzwischen keinen Mitgliedsstaat mehr, in dem die Quote der Beschäftigten in unbefristeter Normalarbeit noch die Hälfte aller Beschäftigten ausmacht. Die Quote der Beschäftigten im Alter von 18 bis 64 Jahren ist in den 27 (jetzt 28) EU-Mitgliedstaaten von 65,8 Prozent (2008) auf 64,3 Prozent (2011) gesunken.
- Dagegen erreicht die Arbeitslosigkeit in Europa neue Rekorde. Allein in den Ländern der Eurozone hatten im November 2013 rund 19,24 Millionen Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter keine Arbeit; fast ein halbe Million Arbeitslose mehr als vor einem Jahr. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht im Durchschnitt in Europa fast 24 Prozent - mit Spitzenwerten in Griechenland (54,8 Prozent) und Spanien (57,7 Prozent).
- Die Prekarität frisst sich wie ein Krebsgeschwür durch die Gesellschaften. Atypische - meist prekäre und schlecht bezahlte - Arbeit ist europaweit zwischen 1990 und 2010 um 80 Prozent gestiegen. Gleichzeitig ist das Lohnniveau drastisch gesunken. Allein in Deutschland ist davon auszugehen, dass fast ein Drittel der Beschäftigten unter oder nahe der OECD-Armutsgrenze leben – viele trotz Arbeit. Mehr als ein Viertel der Menschen in Europa - 125 Millionen - lebt in Armut oder ist armutsgefährdet.
In Europa herrscht ein stillschweigender Konsens der Machteliten: Die wirtschaftlich »Nützlichen« werden gesucht und umsorgt – weltweit. »Brauchbare« aus der EU sollen mit dem »Abbau von Bestandschutz-Maßnahmen« flexibel dahin bewegt werden, wo sie benötigt werden. Die aus dem Arbeitsmarkt »Herausgefallenen« werden irgendwie prekär beschäftigt und die ökonomisch „Überflüssigen“ sollen möglichst kostengünstig »verwahrt« werden. Ein Großteil der Bevölkerung wird für die Ökonomie nicht mehr benötigt. In dieser Bilanz spiegelt sich der Bankrott des viel gerühmten europäischen Sozialmodells.
Kapitalismus ohne Demokratie
Seit 2013 wird der letztlich für alle EU-Staaten gültige »Wettbewerbspakt« entwickelt. Die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten soll strikter koordiniert, die Arbeitsmärkte noch weiter dereguliert und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gesteigert werden. Schon 2011 forderte die Kommission eine »Reform« der Arbeitsschutzvorschriften »um den übermäßigen Schutz von Beschäftigten mit unbefristeten Verträgen zu reduzieren und denjenigen, die außerhalb oder am Rand des Arbeitsmarkts stehen, einen gewissen Schutz zu vermitteln.« Zum Kern des Wettbewerbspakts soll die uneingeschränkte Gültigkeit der Prinzipien des marktradikalen Wirtschaftsmodells auch in der Arbeits- und Sozialpolitik gehören. Finanzielle Anreize für die Mitgliedsstaaten sollen diese zur Umsetzung der neuen Verträge animieren. Das Sagen haben allein die Regierungen – die Rechte des europäischen Parlaments werden erst gar nicht erwähnt.
Aktuelle Themen in der Debatte sind die Einführung des Renteneintrittsalter über 67 Jahre hinaus, weitere Arbeitszeitflexibilisierungen, die Revision der Bereitschaftszeiten, die Erhöhung der Höchstarbeitszeit und die Ausweitung der optout-Klausel (Umgehung der 48-Stunden-Begrenzung) – dies alles steht auf dem Wunschzettel von Businesseurope, dem europäischen Unternehmerverband. Bisher wurden in 18 von 27 Mitgliedstaaten Löhne, Arbeitsrechte, Tarifverträge und demokratischen Rechte von den Regierungen der Mitgliedsstaaten demontiert – fast immer mit der Handschrift der Europäischen Zentralbank oder der Troika.
Der Kampf um die europäische Entsenderichtlinie
Ein Beispiel ist der Kampf um die europäische Entsenderichtlinie, die seit 1996 Beschäftigte vor Lohn- und Sozialdumping schützen soll. Sie listet eine Reihe von Bedingungen auf, die bei der Entsendung von Arbeitskräften in einen anderen Mitgliedsstaat eingehalten werden müssen; dazu gehören Mindestlohnsätze, Mindestarbeitsstandards, Arbeitsschutz, Arbeitssicherheit, Nicht-Diskriminierung, Mindesturlaub, Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten. Die EU geht jährlich von einer Million entsandter Arbeitskräfte aus. Die Tendenz ist seit Jahren steigend. Mittlerweile wird die Entsenderichtlinie immer häufiger umgangen. Vorwiegend aus Osteuropa werden über Briefkastenfirmen Beschäftigte zum Arbeiten in andere Mitgliedsstaaten geschickt und dort meist über Subunternehmer beschäftigt. Immer häufiger werden sie als Scheinselbständige deklariert, um nicht unter den ohnehin eingeschränkten Schutz der Entsenderichtlinie zu fallen. Selbst auf die Mindeststandards des Ziellandes haben sie dann keinen Anspruch. Vor allem in der Bau- und Fleischwirtschaft spielt dieses Thema eine Rolle. Mindestlöhne – wenn sie denn existieren – stehen in vielen Fällen nur auf dem Papier. Nun soll die »Arbeitnehmerfreizügigkeit« im Sinne eines Individualrechts in eine erzwungene Wanderung betriebswirtschaftlich brauchbarer Arbeitskräfte verwandelt werden – ein ebenso grenzen- wie rücksichtsloser europäischer Arbeitsmarkt wird angestrebt. Statt die Richtlinie auf Scheinselbständige auszuweiten, sollen jetzt die Kontrollen erschwert und womöglich generelle Haftungen gestrichen werden, was Dumpingangebote erleichtern würde.
»Fit für Wachstum«
Auf der anderen Seite soll in aktuellen Gesetzgebungsverfahren versucht werden, (betriebswirtschaftlich brauchbare) Saisonarbeiter aus Drittstaaten anzuwerben – natürlich allerhöchstens zu Mindestarbeitsbedingungen. Per Konzern-Leihe sollen aus Drittstaaten (betriebswirtschaftlich nützliche) Hochqualifizierte aus Drittstaaten angeworben werden, die Unternehmen von Mitgliedstaaten mit »günstigen“ Arbeitsbedingungen einstellen und nach kurzer Zeit europaweit verleiht – zu den Arbeitsbedingungen des Erstaufnahme-Staates. Jugendliche (betriebswirtschaftlich brauchbare) Arbeitslose werden aus Krisenstaaten mit EU-Fördermitteln abgeworben, was dem Einzelnen zwar hilft, nicht aber den Heimatländern beim Wiederaufbau ihrer Ökonomie.
Ein guter Anfang und eine alte Idee
Selbst unter den herrschenden Mehrheitsverhältnissen im EU-Parlament ist es möglich, eine alternative Politik zu formulieren. Im Beschäftigungsausschuss des Parlaments konnten wir eine Mehrheit für Positionen organisieren, die konträr zur marktradikalen Politik der EU-Kommission und der Mehrheit der nationalen Regierungen im Rat steht. Der Ausschuss fordert »Soziale Mindeststandards um soziale Ungleichheiten zu stoppen«, und „Existenz sichernde Löhne mit Mindesteinkommen, die Armut trotz Arbeit verhindern«. Er will eine »Soziale Grundsicherung, Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten und Existenzsicherheit gewährleisten« und fordert die »Einführung eines sozialen Protokolls zum Schutz grundlegender Sozial- und Arbeitsrechte«. Gefordert werden »gleicher Lohn und gleiche Rechte für gleichwertige Arbeit für alle«. »Entsandte Arbeitnehmer (sollen) ordnungsgemäß bezahlt und nicht für unfairen Wettbewerb benutzt« werden. Gefordert wird ferner »ein stabiles Niveau der Binnenkaufkraft« - Löhne und Renten seien keine ökonomische Variable, sondern das Einkommen, das die Menschen zum Leben brauchen.
Ein guter Anfang! Mehr allerdings auch nicht. Eine starke Linksfraktion im Europäischen Parlament kann versuchen frühzeitig Informationen über Kommissionspläne bekannt werden zu lassen und spezifische Öffentlichkeiten für Kritik und Alternativen zu öffnen. Doch für die Umsetzung von Beschlüssen, wie dem oben genannten, braucht es nicht nur andere Mehrheiten im EU-Parlament. Die französische Linke hat eine alte Idee wiederbelebt: »Versammlungen für eine Erneuerung der EU« sollen europaweit einberufen werden. Gefordert ist eine Konzeption für ein kooperatives, solidarisches Europa mit guter Arbeit, hohen sozialen Standards und Sicherheit und dem mittelfristigen Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse. Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Netzwerke und Bewegungen, alle, die Europa politisch, sozial und demokratisch auf neue Beine stellen wollen, sind dazu eingeladen. Es ist an der Zeit, Europa in die eigenen Hände zu nehmen.