In einer Nachbarschaft in Berlin, die weniger wohlhabend und wesentlich reicher an Migrationsgeschichten ist, gibt es einen gänzlich anders gelagerten Streit um den geplanten Bau von 500 Wohneinheiten für Geflüchtete. Eine Anwohnerinitiative hat sich in einem offenen Brief gegen die Errichtung der Wohnungen gewandt und nennt dafürwie in Hamburg vielfältige Gründe. Es wird der Wunsch formuliert, die Integration von Geflüchteten in den Kiez zu ermöglichen, zugleich aber auf die Gefahr der Verdrängung des ansässigen Gewerbes und den Verlust von Grünflächen hingewiesen. Zudem wird eine Umweltverträglichkeitsstudie eingefordert. Zentraler Kritikpunkt ist jedoch, dass bei der geplanten Anzahl von 500 Wohnplätzen von einer Doppelbelegung der Zimmer auszugehen sei, also eine Gemeinschaftsunterbringung statt »Wohnraum für Geflüchtete und Verdrängungsgefährdete« (Offener Brief 2019) geschaffen werde. Es wird gefordert, eine am Bedarf der Geflüchteten orientierte Infrastruktur aufzubauen und die Anwohner*innen an der Planung zu beteiligen. Der zuständige Bezirk gab daraufhin eine Machbarkeitsstudie in Auftrag, die in einem für die Nachbarschaft transparenten Verfahren zwei Varianten der Bebauung vorschlägt, wobei jedes Gebäu-de Platz für 250 Menschen bieten würde (Heiglmeir/Rock 2019). Diese Zahl ist jedoch weiterhin nur mit einer Doppelbelegung von Zimmern zu erreichen, die dem Unterbringungsstandard des Senats entspricht.
Konfliktkonstellationen
In Hamburg hat sich das Bündnis Recht auf Stadt zu dem drohenden Volksentscheid der Initiativen für erfolgreiche Integration (IFI) kritisch positioniert. Es greift dabei einerseits den »Notstandsurbanismus« der Stadt an, die Containerdörfer zur Unterbringung von Geflüchteten errichtet. Zugleich kritisiertdas Bündnis aber, dass der Volksentscheid unter dem Anschein direkter Demokratie genau diejenigen ausschließe, die am meisten betroffen sind: die nicht wahlberechtigten Geflüchteten. In zehn Punkten argumentiert das Bündnis, dass die »Not der Geflüchteten [...] keinen Aufschub« dulde, sondern »so schnell, so viel, so zentral, so hoch wie eben nötig und möglich« gebaut werden müsse. Die genannten Vorschläge der IFI seien dazu keine Alternative und ein Referendum würde lediglich »die deutsche Notstandshysterie anheizen«. Zudem zögen solche Kampagnen Rechtspopulisten und Rassisten an. Es gebe schließlich kein »Flüchtlingsproblem«, sondern ein Wohnungsproblem, und auch Geflüchtete hätten ein »Recht auf Stadt«. Eine »lokale Obergrenzen-Diskussion« sei zu vermeiden, da es, egal wo gebaut werde, immer Anwohner*innen geben würde, »die das für unzumutbar halten« (Recht auf Stadt Hamburg, 2016).
In Berlin wurde der Anwohnerinitiative in der Bezirksverordnetenversammlung von der FDP entgegengehalten, eine solidarische Nachbarschaft könne auch 500 Menschen aufnehmen. Die Anwohner*innen entgegneten, dass sie nicht bereit seien, weiter ehrenamtlich staatliche Integrationsaufgaben zu übernehmen. Derzeit werden weitere Standorteim Bezirk geprüft; jeder Berliner Bezirk muss 1 000 Unterbringungsplätze schaffen. Das von den Bewohner*innen vertretene Baukonzept sieht Platz für 125 Geflüchtete vor, dafür aber Wohnungen für Menschen mit verschiedenen Hintergründen und eine Einbindung des von Verdrängung bedrohten lokalen Gewerbes, das zum Beispiel Ausbildungsplätze für Geflüchtete anbieten soll. Diese Pläne liegen jedoch auf Eis. Die Senatsverwaltung für Finanzen will nun das Grundstück von seiner landeseigenen Immobilienfirma, der Berlinovo Grundstücksentwicklungs GmbH (BGG), entwickeln lassen – eine Ankündigung, die die Sorge der Anwohner*innen vor einer Verdrängung des Gewerbes durch hohe Pachtpreise verstärkt (vgl. Jensch 2019).
Aus den beiden Fallbeispielen Hamburg und Berlin, wo um den Neubau für Geflüchtete gerungen wird, lässt sich vor allem eins schließen: Es ist nicht einfach. Die Debatte verläuft quer zu den traditionellen politischen Lagern. Während die Anwohnerinitiativen in Hamburg von dem bewegungslinken Recht-auf-Stadt-Bündnis kritisiert werden, das für das möglichst schnelle Bauen von möglichst vielen Wohnungen eintritt, kommt die Anwohnerinitiative in Berlin aus einem ähnlichen Spektrum wie das Hamburger Recht-auf-Stadt-Bündnis und wird von der FDP fürseine Abwehrhaltung kritisiert. Jenseits von politischem Lagerdenken zeigt sich, dass Nachbarschaften in Städten, die seit Jahrzehnten den neoliberalen Stadtumbau erleben, unter starkem Verdrängungsdruck stehen. Entsprechend haben sie wenig Ressourcen, darüberzu sprechen, wie sich »so viel und so hoch wie nötig« bauen ließe. In den Stadtteilen, wo die Gewinner*innen des neoliberalen Stadtumbaus leben, werden Unterkünfte für Geflüchtete womöglich auch als Bedrohung der Grundstückswerte angesehen, was jedoch nicht laut geäußert wird. In anderen Nachbarschaften, wie im Berliner Beispiel, wird um solidarische Lösungen für alle gerungen. Die Kontroverse, wo neuer Wohnraum für Geflüchtete entstehen soll, zeigt eine komplexe Gemengelage von zum Teil entgegengesetzten Interessen und es entstehen Konkurrenz und Konflikte um die Nutzung geschrumpfter Ressourcen. Wer sich am Ende durchsetzt, hängt von den jeweiligen Machtverhältnissen ab.
Willkommensbedingungen
Doch wie ließe sich das Problem angehen? Welche juristischen, wohnungspolitischen und stadtgesellschaftlichen Bedingungen wären wichtig, um die urbanen Kieze unter den jetzigen Bedingungen willkommensfähig zu machen?
Es ist notwendig, den »Notstandsurbanismus«, der seit 2014 Konzepte für die Unterbringung Geflüchteter leitet, hinter sich zu lassen und die damit geschaffenen Wohnbedingungen zu kritisieren. Auf Bundesebene müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen so verändert werden, dass beschleunigte Baurechtsverfahren nicht nur für standardisierte Unterkünfte, sondern auch für guten Wohnraum möglich sind. Kommunen, die Wohnungen für Geflüchtete schaffen, müssen beim Ausbau ihrer Infrastruktur unterstützt werden. Selbstverständlich benötigen mehr Menschen auch mehr Kita-, Schul- und Ausbildungsplätze. Sie erhöhen zudem den Bedarf an medizinischer Versorgung, einem gut funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr sowie an sozialen Begegnungsorten und Gewerberäumen. Dies erfordert ein Ende der Austeritätspolitik und eine staatliche Förderung der sozialen Infrastrukturen. Um nicht die Fehler des sozialen Wohnungsbaus der 1970er Jahre zu wiederholen und private Anleger mit riesigen Steuersubventionen für die Schaffung von temporär bezahlbarem Wohnraum zu belohnen (siehe Holm in diesem Heft), sollten die Förderprogramme vor allem kommunale Wohnungsbaugesellschaften stützen bzw. sollte die Mittelvergabe zumindest an die Gemeinwohlorientierung der Bauträger geknüpft sein. Staatliche Fördergelder sollten immer zu dauerhaften Belegungsbindungen führen.
Auf der Landesebene müssen Alternativen zum »Notstandsurbanismus« entwickelt werden. Denn die Menschen können nicht wirklich ankommen, wenn ihre Wohnsituation immer nur temporär ist, zugleich aber ihr Recht auf Mobilität und freie Ortswahl durch die sogenannte Wohnsitzauflage eingeschränkt ist (vgl. El-Kayed/Hamann 2016). Umzäunte Unterkünfte, Wachschutz und Pförtner*innen, die Bewohner*innen im schlimmsten Fall reglementieren und terrorisieren, verschärfen diese Sondersituation (vgl. Flüchtlingsrat Berlin e. V. 2018, 11). Von daher braucht es staatliche Wohnkonzepte, die reguläre Mietverträge auch für geflüchtete Bewohner*innen vorsehen, statt neue Verträge für Betreiber von Gemeinschaftsunterkünften. Nur so erhalten Geflüchtete gleiche Mieterrechte und sind nicht der Willkür von Betreiberunternehmen ausgeliefert.
Um in den Nachbarschaften Bedingungen zu schaffen, die ein gutes Ankommen der Geflüchteten ermöglichen, müssen Stadtregierungen den Verdrängungsdruck ernst nehmen, der auf den Anwohner*innen lastet, und dürfen das »Recht auf Stadt« der einen nicht gegen das der anderen ausspielen. Sie sollten vielmehr die Bereitschaft zur Solidarisierung fördern. Gleichwohl sind in den Debatten nicht alle Akteure gleich(-berechtigt). Die schon sichtbaren Akteure in Kiezen und Kommunen können versuchen, den Kreis der Beteiligten zu erweitern, die Geflüchteten selbst als Akteure ernst nehmen und ihre Stimmen stärker einbeziehen: Welche Wünsche haben Menschen nach der Flucht an ihre Wohnsituation? Wie können geflüchtete Bewohner*innen frühzeitig in die Planung einbezogen werden? Das erfordert auch einen (selbst-)kritischen Blick auf die Beteiligungsprozesse: Wer kann partizipieren (und wer nicht?) Wer gilt als Akteur, wer als Betroffene? Wer kann wie die eigenen Interessen artikulieren? Welche Berücksichtigung finden der Zeitdruck und die Notsituation von Geflüchteten?
Schließlich ist es wichtig, nach Wohnformen und Lösungen zu suchen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung tragen. Welche Art des Wohnens schafft neue Stigmatisierungen und schlimmstenfalls Traumatisierungen? Kann es, wie in den Debatten vielfach behauptet, zu viel Migration für einen Stadtteil geben, und wenn ja, wie viel ist zu viel und wer bestimmtdas? Müsste nicht viel eher gefragt werden, welche zusätzliche Infrastruktur Menschen mit Fluchterfahrung brauchen und ob die bestehenden Angebote dies leisten können oder aufgestockt werden müssen?
Letztlich stellt sich nicht mehr die Frage, ob sich die Städte und Nachbarschaften nach dem »Langen Sommer der Migration« 2015 (Kasparek/Speer 2015) verändern werden oder nicht, sondern die Frage, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um ein gutes Ankommen zu ermöglichen. Ein Ankommen, mit dem keine Verdrängung einhergeht, aber durchaus eine Veränderung des nachbarschaftlichen Lebens.