Bisher ist allerdings wenig unternommen worden, um dieser parlamentarischen Initiative mehr politischen Nachdruck zu verleihen und zu verhindern, dass sie eine Eintagsfliege bleibt. Hier liegt es nicht zuletzt an den sozialen antirassistischen Bewegungen, die neue Sichtbarkeit in der aktuellen Krisensituation zu nutzen, um die Frage der Legalisierung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen und eine solidarische Lösung zu fordern. Aufgrund der Kriminalisierung ist es Illegalisierten kaum möglich, massenhaft auf die Straße zu gehen oder allein eine öffentliche Kampagne zu stemmen.
Globale Care-Arbeit in der Krise – die gekündigten Care-Arbeiter*innen ohne Papiere stehen jetzt vor dem Nichts
Illegalisierte Menschen arbeiten hauptsächlich im Dienstleistungssektor. Migrant*innen übernehmen die Haus-, Sorge- und Pflegearbeit, die viele Menschen mit besseren wirtschaftlichem Lebensbedingungen selbst nicht mehr leisten und dadurch Zeit für ihre Erwerbsarbeit haben. Menschen ohne Papiere kümmern sich um Kinder, sie holen sie von der Schule ab, bringen sie ins Bett, wenn die Eltern ins Kino oder auf eine Party gehen, putzen die Häuser, bügeln, kochen in Restaurants, machen sauber in Hotels, oder arbeiten auch auf dem Bau. Als Isolation und soziale Distanzierung in der Pandemie zur neuen gesellschaftlichen Priorität wurden, blieben die Arbeit gebenden Familien zu Hause. Schulen und Kitas wurden geschlossen und illegalisierte Arbeiter*innen wurden nicht mehr gebraucht. Die Arbeitgeber*innen teilten den Care-Arbeiterinnen meist mit, dass sie auf unbestimmte Zeit ihre Arbeit nicht mehr benötigen. Die uns bekannten illegalisierten Arbeiterinnen haben fast alle ihre Jobs verloren, und bis auf das eine oder andere Almosen (etwa 20 Euro im Briefumschlag bei der letzten Arbeitsstunde) wurden sie ohne jegliche Unterstützungsangebote in die Kontaktsperre entlassen. Insbesondere die wichtige Einnahmequelle Babysitten und Kinderbetreuung fällt komplett aus, weil eine Ansteckung durch die Arbeiter*innen befürchtet wird. Die körperlich oft härteren stundenweisen Putzjobs gibt es teilweise noch, aber nicht in dem Umfang, dass sie annähernd zum Überleben ausreichen. Zu alledem kommt noch die enorme Belastung der globalen Care-Arbeiter*innen durch die Situation ihrer Familienangehörigen in ihren Herkunftsländern. Gerade jetzt sind diese in vielen Ländern besonders auf die Unterstützung durch Familienangehörige im globalen Norden angewiesen. Oftmals hängen nicht nur die Kinder von deren Einkommen vom Putzen und Babysitten ab, sondern auch weitere Familienangehörige, etwa die alten Eltern. Und gerade jetzt verlieren viele der Familienangehörigen in den Herkunftsländern mit oft extremen Ausgangssperren selbst ihre Einnahmequellen. „Wenn wir nicht wegen Corona sterben, sterben wir, weil wir hungern“, teilten etwa Familienangehörige aus El Alto in Bolivien mit. In Zeiten von Corona zeigen sich viele widersprüchliche und problematische Entwicklungen in der Care-Arbeit gleichzeitig, und die Frage der "Systemrelevanz" wirft viel weitergehende Fragen auf, als sie in der Öffentlichkeit oft diskutiert werden. Immerhin wird gerade relativ breit in der Öffentlichkeit kritisiert, dass es zu einer extremen Retraditionalisierung von Rollenmustern kommt. Es sind vor allem die Frauen, deren Arbeitskapazitäten in den Haushalten beim Wegfallen der öffentlichen Kinderbetreuung extrem in Anspruch genommen werden. Was demgegenüber kaum öffentlich problematisiert wird ist, dass das übliche prekäre Outsourcing dieser Arbeiten an migrantische Arbeiter*innen vorübergehend und teilweise reduziert wird die weiterhin unsichtbaren Carearbeiter*innen um ihre Existenzgrundlage bringt. Im Unterschied zu den osteuropäischen Pflegekräften, von denen viele das Land verlassen haben und so den häuslichen Pflegenotstand verstärkt haben, bleiben die Frauen, mit denen wir vernetzt sind, hier – und stehen vor dem Nichts. Wieder einmal erscheint das Hin- und Herschieben dieser für die Gesellschaft so zentralen und gleichzeitig so abgewerteten Haus- und Sorgearbeiten als die einzige Möglichkeit; ein Hin- und Herschieben, das allein zwischen unbezahlter und absolut prekarisierter Arbeit und vor allem zwischen Frauen stattfindet – und zwar zwischen Frauen mit verschiedenen Klassenzugehörigkeiten und unterschiedlichen Aufenthaltsrechten bzw. unterschiedlicher Betroffenheit von rassistischer Diskriminierung. Eine wirkliche Debatte über „Systemrelevanz“ müsste unserer Meinung nach ganz grundsätzlich die Frage einbeziehen, wie diese Arbeit zugleich aufgewertet, besser bezahlt und umverteilt werden kann. Dann würde aus der Debatte um Systemrelevanz allerdings auch eine Debatte um Systemwechsel.
Der mühselige Kampf für eine Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere in Berlin geht weiter…
Angesichts der enormen Schwierigkeit, einer Legalisierungskampagne in Deutschland zum Erfolg zu verhelfen, bleibt es akut unsere Aufgabe, für elementare soziale Rechte auch in der Illegalität zu kämpfen. Wie die Frauen in ihren Audiobotschaften berichten, ist die Gesundheitssituation für illegalisierte Menschen in Berlin weiterhin extrem prekär – sowohl die allgemeine Versorgung als auch die spezifische zu COVID-19. In den letzten Jahren haben wir uns im Bündnis Solidarity City Berlin für einen anonymisierten Krankenschein eingesetzt, der einen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen ohne Krankenversicherung ermöglichen würde, darunter insbesondere für Leute ohne Papiere. Viele Jahre der Kämpfe und des Nachhakens von Solidarity City kurz vor den Wahlen 2016 haben zwar bewirkt, dass der rot-rot-grüne Senat eine Clearingstelle eingerichtet hat, um Menschen ohne Krankenversicherung den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Leider blieb dies aber bisher höchst bürokratisch und mangelhaft organisiert: Es gab bisher wenig Engagement, die Existenz der Clearingstelle überhaupt in den verschiedenen Communities bekannt zu machen. Zudem erlebten die Antragssteller*innen, die meist mit akuten Gesundheitsproblemen kamen, teilweise entwürdigende Interviews. Immerhin hat sich in Zeiten von Corona etwas Positives getan: Der Senat hat endlich einen Vertrag mit der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin gemacht, so dass die Clearingstelle nun Menschen ohne Papiere zu allen Berliner Hausärzt*innen schicken kann, und nicht nur zu wenigen Vertragsärzt*innen. Dennoch bleibt die Clearingstelle ein Nadelöhr, das unter Corona-Bedingungen noch enger geworden ist: Oft wird erst mehrere Wochen nach einer telefonischen Anfrage ein Termin angeboten. Zudem fehlt es weiterhin an verlässlichen und ausführlichen Informationen zu Tests und Behandlungen für Illegalisierte im Falle einer möglichen COVID-19-Infektion. Auch jetzt, Ende Mai, bleibt die Kostenübernahme für die mindestens 60 Euro teuren Tests unklar, und falls die Person positiv getestet ist, wird sie gemeldet. Das habe zwar – so die Gesundheitsämter – keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen für Illegalisierte, schürt aber dennoch Ängste bei den Betroffenen, weil nicht ausführlich über den Umgang mit den Daten informiert wird. So bleiben auch in Corona-Zeiten die allermeisten Menschen ohne Papiere in Berlin weiter auf solidarische und karitative Organisationen angewiesen – oder gehen wenn überhaupt nur in extremen Notlagen zu Ärzt*innen oder ins Krankenhaus.
Zwischen Depression, gegenseitiger Hilfe und ersten Schritten des Protestes
Wie ist es möglich, sich zu organisieren, wenn es so schwierig ist, sich zu bewegen und zu treffen – und wenn die Kräfte schwinden, wie es die Botschaften unserer Freund*innen eindrücklich schildern? Insbesondere die ersten Wochen während der Pandemie-Krise in Deutschland waren von Verzweiflung und Depression geprägt. Viele der Frauen ohne Papiere waren völlig isoliert und entwickelten in einer extrem nervenaufreibenden Situation der Unsicherheit und Notlage Angstzustände und Depressionen. Einerseits müssen sie ihre Gesundheit besonders schützen, denn ohne Krankenversicherung oder die Möglichkeit, sich auf COVID-19 testen zu lassen, leben sie besonders prekär. Andererseits ist es in dieser Lage fast unmöglich, nach anderen Jobs zu suchen, und so müssen viele mit der täglichen Sorge leben, wie sie ihre Miete in den kommenden Monaten bezahlen werden – oder wo sie weiter unterkommen könnten, wenn sie ihre Unterkünfte schon verloren haben. Langsam entstehen aber auch wieder solidarische Netzwerke untereinander – und wie so oft sind es zuallererst die Frauen, die in einer ähnlichen Lage sind oder waren, die sich gegenseitig unterstützen. Zudem gibt es viel Bereitschaft in unserem Netzwerk, auch an politischen Forderungen zu arbeiten und diese zu artikulieren, wie anlässlich des Aktionstages #LegalisierungJetzt. Aber auch in den gemeinsamen Forderungen Berliner Basisorganisationen, bei den Protesten gegen die Situation in den Lagern der Kampagne #leavenoonebehind oder in den Mobilisierungen gegen rassistische Gewalt am 8. Mai unter dem Schlagwort #entnazifizierungjetzt kommt dies zum Ausdruck. Zentraler Ausgangspunkt ist die Art und Weise, wie die Pandemiekrise die skandalösen sozialen Ungleichheiten aufdeckt und verschärft – und wie es dennoch an jeglicher staatlicher Unterstützung mangelt. Menschen ohne Papiere existieren für den deutschen Staat auch weiterhin nicht und bleiben unsichtbar. Auf Wunsch der illegalisierten Frauen, mit denen wir in Kontakt sind, möchten wir darum alle Organisationen, Initiativen und Menschen auffordern, sich für die Legalisierung der Menschen ohne Papiere einzusetzen. Wir fordern ein Recht auf gleichberechtigten Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung für alle Menschen, die in Deutschland leben, sowie die Existenzsicherung für alle, die in der Krise ihre Arbeit teilweise oder ganz verloren haben, egal ob formal oder informell. Und wir fordern, dass Arbeitsrechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus gelten und auch geltend gemacht werden können. Wir glauben, dass es in Zeiten, in denen viel Verantwortung und Solidarität von uns verlangt wird, extrem wichtig ist, dass illegalisierte Menschen nicht auf der Strecke bleiben und dass auch für sie die Idee einer solidarischen Gesellschaft gelten muss. Die aktuelle Krise zeigt deutlich, dass niemand von grundlegenden sozialen Rechten ausgeschlossen werden darf. Die plötzliche Aufmerksamkeit für systemrelevante“ Sorgearbeiter*innen sollte alle – auch die Arbeiter*innen ohne Papiere – einbeziehen und dazu genutzt werden, dass deren Arbeit mit Rechten versehen, aufgewertet und besser bezahlt wird. Dies ist ein erster und unverzichtbarer Schritt, um weitere, langfristige Ideen zu entwickeln, wie Sorgearbeit gerechter umverteilt werden kann und eine rassistische und patriarchale Arbeitsteilung überwunden werden kann.