Was bringt mir Marx für meine Arbeit als Gewerkschaftsökonom oder in der Partei Die LINKE? Sehr viel. Wir brauchen eine realistische Vorstellung davon, unter welchen Bedingungen wir leben und kämpfen, also wie die kapitalistische Welt strukturiert ist und funktioniert. Marx und auf seinen Werken aufbauende Theorie bieten hier unverzichtbares Orientierungswissen. Entscheidend ist dabei, wie man Marx nutzt und versteht. Marx bietet für vielerlei Auffassungen Begründungen, zumindest irgendwo ein vermeintlich passendes Zitat. Für mich ist Marxismus in erster Linie relevant als eine kritische Gesellschaftstheorie des Kapitalismus, die den in sich widersprüchlichen und historischen Charakter dieser Formation betont.
Materialistische Analyse ist grundlegend
Eine materialistische Herangehensweise im Sinne des Vorworts zur Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13, 8f) auf der Basis einer realistischen Kapitalismus- und Klassenanalyse ist zentral. Die von den unterschiedlichen Organisationen jeweils vertretenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen, theoretischen Auffassungen und Ideologien reflektieren in hohem Maße ökonomische Interessenlagen von Klassen oder Klassenfraktionen. In den Wirtschaftswissenschaften gilt in besonders hohem Maße, in Deutschland noch krasser als in manchen anderen Ländern, die Aussage aus der Deutschen Ideologie, dass „die Gedanken der herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken“ sind (MEW 3, 46).
Die Gegenseite ist nicht mit „besseren” Analysen, Argumenten und moralischen Appellen zu überzeugen. „Die Frage löst sich auf in die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden“ (MEW 16, 149) in den Klassenauseinandersetzungen – im Rahmen der durch das gesellschaftliche Produktivitätsniveau und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestimmten Möglichkeiten. Dabei sind die Machtressourcen, die den Kräfteverhältnissen zugrunde liegen, von vornherein asymmetrisch durch die aus ihren Eigentumsrechten resultierende Herrschaftsposition des Kapitals geprägt. Diese schlägt sich auch im kapitalistischen Staat und seiner Politik nieder. Diese Sachverhalte blenden die meisten keynesianisch orientierten, eher gewerkschaftsnahen Ökonomen regelmäßig aus.
Fortschritte sind normalerweise nur zu erzielen und selbst die erreichten Errungenschaften und Kompromisse nur zu halten, wenn es gelingt, durch Organisierung und Mobilisierung der Arbeitenden und der Zivilgesellschaft sowie bei Wahlen soziale und politische Gegen-Machtressourcen und Druck zu entwickeln. Dafür, um die Überzeugung und Kampfbereitschaft der Kolleg*innen zu fördern, sind wiederum tragfähige, überzeugende, verständliche und populär vorgetragene gewerkschaftliche und linke Positionen und Argumentationen wichtig, die auch in der öffentlichen Debatte durchgehalten werden können, also faktenbasiert und fundiert sind. Dafür müssen marxistische Begrifflichkeiten und ökonomische Fachsprache, wo nötig, in heute geläufige Sprache und Argumente übersetzt werden, die am Alltagsbewusstsein der Menschen anknüpfen.
Es muss vor allem darum gehen, auf Basis Marxscher Erkenntnisse die heutige Realität zu analysieren und sich mit den gegenwärtig vorherrschenden ökonomischen Auffassungen auseinanderzusetzen, wie es Marx zu seiner Zeit auch getan hat. Dabei reicht es nicht aus, die grundsätzliche Unzulänglichkeit der bürgerlichen Ökonomie aufzuzeigen. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit konkreten Fragen müssen auch ernst zu nehmende Erkenntnisse aufgegriffen, ver- und umgearbeitet werden. Insbesondere die von Keynes ausgehende Ökonomie hat hier viel zu bieten. Sie ist oft für gewerkschaftliche und linke Argumentation nützlich, weil sie den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang und die Bedeutung der Löhne und Sozialleistungen nicht nur als Kosten, sondern auch als zentrale Nachfrageblöcke und Stabilisatoren der ökonomischen Entwicklung betont.
Von zentraler Bedeutung für die Analyse und die Auseinandersetzung ist ein solider empirischer Bezug. Die Statistiken und Forschungsergebnisse der „offiziellen“ Ökonomie liefern dazu die unverzichtbaren Datenquellen. Sie sind gegebenenfalls methodisch zu kritisieren, aber sie müssen genutzt werden. Besonders die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Statistischen Ämter sind auch für die marxistisch fundierte Ökonomie zentral. Sie spiegeln bei allen Mängeln wesentliche Entwicklungen, Proportionen und Zusammenhänge wider, wie sie zum Teil auch Marx behandelt hat. Ich bin sicher, Marx wäre begeistert gewesen, hätte er die heutigen Datenquellen und Analyse-Instrumente zur Verfügung gehabt. Der Maßstab für marxistische Analyse muss sein, inwieweit sie Erklärungskraft für die beobachtbare ökonomische Realität und ihre Entwicklungstendenzen hat, nicht ob sie bestimmten Marx-Zitaten oder politischen Hoffnungen entspricht.
Erwerbsarbeit und speziell Lohnarbeit bleiben zentral
Entgegen manchen Auffassungen, die unter Berufung auf Marx verbreitet werden, ist weder ein Ende des Kapitalismus noch ein Ende der Arbeitsgesellschaft (Robert Kurz/Krisis-/Exit-Gruppe, Jeremy Rifkin, Paul Mason, u.a.) in Sicht. Die immanente Krisenhaftigkeit ist eine Bewegungsform der kapitalistischen Produktionsweise, sie führt nicht zu ihrem Zusammenbruch. Das gilt auch für „große Krisen“, wie wir sie zuletzt 2007 bis 2009 erlebt haben. Oft wird die Flexibilität und das Potenzial des Kapitalismus unterschätzt, Krisen zu überstehen und neue Produktivkräfte und sich verändernde soziale Strukturen in kapitalistische Verhältnisse und Dynamiken einzuverleiben. Auch die neuen Entwicklungen der Digitalisierung werden nicht dazu führen, dass die „kapitalistische Hülle“ gesprengt wird.[1] Es erscheint mir wesentlich realistischer, dass durch ihre Nutzung und insbesondere „big data“ die Kontrolle des Kapitals über das Leben der Menschen noch mal eine ganz neue Qualität und Intensität erhalten kann.