Nicht nur liegt der Kapitalismus schon so lange in seinem Totenbett, obwohl der Patient mir ziemlich gesund zu sein scheint. Darüber hinaus, denke ich, dass wir es nicht mit einer Krise zu tun haben. Wenn wir Antworten zur Zukunft des Kapitalismus, oder doch zumindest ein paar Hinweise darauf bekommen wollen, dann sollten wir damit beginnen, die Bedeutung der Worte zu respektieren, die wir benutzen.
Wie so viele andere wichtige Worte, kommt „Krise“ aus dem Griechischen. Das Verb, dass ihm am nächsten kommt, bedeutet: „ein Urteil fällen“
[1]. Es kann sich auf den Urteilsspruch eines Gerichts beziehen oder auf die persönliche Beurteilung, was ich in dieser oder jener Situation unternehmen soll. Aber unter keinen Umständen geht es um eine Entscheidung, um ein Handeln oder eine Situation, die Wochen, Monate oder Jahre anhält. Wir haben jetzt das Jahr 2017. Die Subprime-Krise begann in den USA 2007 und brach mit dem Kollaps der Lehman Brothers 2008 offen aus. Mit anderen Worten, wir sprechen über die sogenannte Krise nun für fast ein Jahrzehnt.
Noch ein weiterer etymologischer Hinweis, dass „Krise“ nicht das richtige Wort ist. Für Hippokrates, den großen griechischen Arzt, der dem bekannten Eid seinen Namen gegeben hat, ist „Krise“ nur eines der verschiedenen zentralen Konzepte der Medizin. Es handelt sich um jenen Punkt einer Krankheit, an dem sich entscheidet, ob der Patient sich wieder erholt oder ob er stirbt. Es ist denkbar, dass ein solcher Moment ein oder zwei Mal auftritt, aber per Definition ist es nicht ein Phänomen, das sich lange und schleppend hinzieht. Man kann ein oder zwei kritische Tage haben, aber kein kritisches Jahr. Wenn das Totenbett des Kapitalismus schon so lange besetzt ist, dann ist es ein Widerspruch in sich, von Krise zu sprechen. Das Wort dafür ist Krankheit, aber Krankheit ist keine Krise. Ich wollte, es wäre eine Krise – dann könnten wir unsere Zähne zusammenbeißen und zueinander sagen: „Na gut, das ist schrecklich und schmerzt höllisch. Aber es ist bald vorbei, so lasst uns das durchhalten.“
Diese lange Dekade einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage und verschlimmernden politischen und sozialen Situation, vor allem für die einfachen Europäer, ist das Resultat einer langen Periode der Vorbereitung, die in einen spektakulären Zusammenbruch der Jahre 2007–2008 mündete. Dies wurde abgelöst durch eine umfangreiche Bluttransfusion und eine Art von Erholung – immerhin wurden die Banken gerettet. Der Chefökonom der Bank of England schätzte, dass diese Bankenrettungsaktion die westlichen kapitalistischen Staaten insgesamt 14 Billionen US-Dollar gekostet hat. Das ist eine 14 mit zwölf Nullen dahinter. Niemand kann mit solchen Zahlen rational umgehen. Stellen wir uns vor Euch vor, dass der der Sekundenzeiger einer Uhr mit jedem Schritt einen Dollar markiert. Um bei 14 Billionen Sekunden oder Dollar anzukommen, müsstet Ihr 448 Tausend Jahre warten!
Trotz dieser astronomischen Zufuhr von öffentlichem Geld – dem Produkt unserer Steuern – für die Rettung eines völlig unverantwortlichen Bankensystems, wurden die Banken weder nationalisiert noch sozialisiert, sondern es wurde ihnen gestattet, sofort zum
Business as usual zurückzukehren. Meines Wissens nach wurde keiner der verantwortlichen Banker verurteilt, obwohl ihr Handeln die Länder, die die Geldhäuser retteten, jener Mittel beraubte, die diese für ihre alltäglichen Aufgaben und besseren Leistungen für ihre Bevölkerung brauchten. Und jetzt ist Donald Trump geschäftig dabei, jene wenigen Regulationen zu beseitigen, die das Kapital nach dem Zusammenbruch akzeptieren musste.
Wir sind jetzt tief in einer neuen verlängerten Periode des Leidens versunken – verbunden mit Austeritätspolitiken, die eine Erholung erschweren und die Situation viel schwerer machen, als sie hätte sein können oder sollen. Diese Politiken sind vor allem durch Deutschland erzwungen wurden. Wie der Wirtschaftskommentator der
Financial Times sagte: „Es gibt zwei Arten von deutschen Ökonomen: die, die Keynes nicht gelesen haben, und die, die ihn nicht verstanden haben.“ Wer auch immer diese Ökonomen sein mögen, Herr Schäuble und die Europäische Kommission haben auf sie gehört, und drücken die europäische Wirtschaft in Richtung eines Zusammenbruchs und die Europäische Union hin zum Selbstmord. Der Kapitalismus trifft heute auf weniger Widerstände als jemals zuvor in den letzten siebzig Jahren.
All dies soll meine Position ausdrücken, dass wir nicht in einer „Krise“ stecken, sondern anstelle dessen unter einer
chronischen degenerativen Krankheit leiden, die tief im Körper der kapitalistischen Wirtschaft steckt. Diese Krankheit hat diese Wirtschaft sich viele Jahre vor 2007-2008 zugezogen und sie kann sich auf lange Jahre hinziehen. Vielleicht wird der Kapitalismus langfristig kollabieren und sterben, aber, wie Keynes sagte, „in the long run we are all dead“. Wir werden mit der Flut eines Prozesses mitgeschwemmt; ich würde sogar von einem
Programm im Sinne eines Computerprogramms sprechen. Die Jahre 2007-2008 waren vielleicht der Beginn der gegenwärtigen Phase, aber, so leid es mir tut, können wir das Ende diese Programms nicht vorhersagen, denn es ist so durchdringend, so tief verankert und geschützt, dass es unverwundbar zu sein scheint. Der Name dieses Programms und die Ursache unserer langanhaltenden degenerativen Krankheit ist
Neoliberalismus.
Viele Menschen – das gilt faktisch für alle unter vierzig Jahren – können sich gar nicht vorstellen oder erinnern, dass es einmal ein Programm gab, dass sich von dem heutigen unterschied. Wer oder was kann uns die Mittel oder die Medizin in die Hand geben, damit wir dieses krankhafte System loswerden und das Programm ändern können? Die aktuelle große Frage ist, was die
Grenzen und Schranken für die Macht des heutigen Kapitalismus sein könnten. Um die Frage zu beantworten, bedarf es etwas Geschichte.
Als Henry Ford sagte, dass er seine Arbeiter so entlohnen würde, dass sie seine Autos auch selbst kaufen könnten, dann meinte er dies ernst, und sie haben seine Autos gekauft. Diese Form von Kapitalismus war vielleicht noch ausbeuterisch, aber der Fordismus mündete in die Ära eines deutlich gesteigerten Wohlstands und der Massenkonsumtion der Arbeiter*innen. Die Ökonomien waren weitgehend national, aber die Große Depression kam dazwischen, weil die vorherrschende Organisation der Wirtschaft ungezügelte Spekulation nicht nur erlaubte, sondern ermutigte. Der Zusammenbruch des Aktienmarkts im Oktober 1929 zog eine ungeheure Arbeitslosigkeit und Elend nach sich. Nach der Wahl von Franklin D. Roosevelt 1932 und seinem New Deal kam es zu einer gewissen Erholung.
Ich habe viele Leute gehört, die sagten, dass Roosevelt mit dem New Deal den Kapitalismus gerettet habe, und das mag wahr sein; aber es war der Zweite Weltkrieg und die Zeit danach, die die Rettung beflügelt haben. Die großen Zerstörungen des Krieges erzeugten eine riesige unbefriedigte Nachfrage nach allen möglichen Gütern und die darauf folgende Periode war durch einen vorbildlosen Wohlstand geprägt. Der eigentliche Sieger im Zweiten Weltkrieg, die USA, waren das einzige Land, das keine Zerstörungen erlitten hatte. Und sie wollten nicht durch den sozialistischen Block bei sozialen Verbesserungen überholt werden. Den aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten wurden ihre eigenen
Bill of Rights gegeben. Sie konnten sich in die Universitäten einschreiben und entgeltfrei ihren Abschluss machen. Die Löhne stiegen und die Armut der meisten Gruppen – aber nicht für alle Afroamerikaner – sank. Der Marshall Plan für Europa wurde verabschiedet – natürlich nicht aus reiner Wohltätigkeit. Die USA wollten die Wirtschaftskraft ihrer früheren Handelspartner wieder herstellen, deren Ökonomien völlig ruiniert waren. Aber dies trug wesentlich zur Erholung in Westeuropa bei. Präsident Truman verkündete im Januar 1949 das „Punkt-Vier-Programm“, und es wurde zum Muster für die Entwicklungsindustrie in der Dritten Welt.
[2]
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fand in Westeuropa der Aufbau dessen statt, was als Wohlfahrtsstaat bekannt wurde. Er brachte exponentielle Verbesserungen in der Gesundheitsvorsorge, in der Bildung, im Wohnungsbau und in anderen Bereichen mit sich und schloss das öffentliche Eigentum und Management großer Industrien im Energiesektor, der Kommunikation, des Massentransports und solcher unterstützenden Organisationen wie den Banken, Sparkassen, Kreditanstalten, Versicherungen u.a. ein. In Frankreich wurde das soziale und politische Programm für die Nachkriegszeit vom Nationalrat der Resistance zu einer Zeit geschrieben, als das Land noch von Deutschland besetzt war. Es wurde von den Nachkriegsregierungen und ihren Wirtschaftsplanern extrem ernst genommen. Die Gewerkschaften erhielten erhebliche Macht, ihre Mitgliedschaft wuchs, die Arbeitsgesetzgebung wurde verbessert. Vom Staat wurde
erwartet, das er universelle soziale Leistungen bereitstellt, mit Macht in die Wirtschaft eingreift und Kapital und individuelle Vermögen entsprechend besteuert. Nur ein Beispiel: Unter Präsident Eisenhower, einem Republikaner, wurde das private Spitzeneinkommen mit 90 Prozent besteuert!
… Denn sie wussten, was sie taten
Die Jüngeren unter uns haben keine Erfahrungen mit dieser Ära des Wohlfahrtsstaats, des öffentlich gemanagten Kapitalismus und der Vollbeschäftigung. Es war keine Utopie und es gab noch viel Raum für Verbesserungen. Auf jeden Fall war es um Welten besser, als es die Wirtschaften der 1920er und 1930er Jahre gewesen waren, selbst der Wirtschaft unter Roosevelts New Deal. Die öffentlichen Ausgaben stiegen steil an; und obwohl die heutigen Mainstream-Ökonomen sich weigern es zuzugeben: Öffentliche Ausgaben sind der Schlüssel, um Beschäftigung zu schaffen, nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Sektor. All dies geschah unter den Bedingungen dynamischer Demokratien, natürlich waren auch sie nicht ideal, nicht perfekt, aber lebendig und zumeist ehrlich. Winston Churchills Bemerkung, dass Demokratie die schlechteste Form von Regierung sei, ausgenommen aller anderen Systeme, die bisher versucht wurden, klang wahr.
Heute können wir aber nicht mehr zu dem üppigen Zeitalter eines weitgehend nationalen Industriekapitalismus zurückgehen, und sei es auch nur deshalb, weil die natürliche Umwelt kein System erhalten kann, das auf stets wachsender Ausbeutung von Naturressourcen, Massenkonsumtion und dem Ausstoß von Klimagasen basiert. Aber dies war nicht der Grund, weshalb in den 1970er Jahren ein grundlegender Wandel im kapitalistischen Universum begann und Gestalt annahm.
Die Linke hatte es damals nicht begriffen. Aber ein guter Teil der Oberklasse oder der
Bourgeoisie im marxistischen Sinne, hat den New Deal, den Wohlfahrtsstaat und die deutlich egalitären Gesellschaften der Nachkriegszeit niemals akzeptiert. Diese Kräfte, anfangs sehr in der Minderheit, begannen, die Rückkehr zu den entfesselten, deregulierten kapitalistischen Politiken der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu planen. Es machte ihnen nichts aus, dass diese Politiken zu ungezügelter Finanzspekulation, zu zerstörerischem Wettbewerb zwischen den Völkern und letztendlich zum Zweiten Weltkrieg geführt hatten.
Diese Bewegung hatte ihr Hauptquartier in der University of Chicago mit ihrem angesehenen Wirtschaftsprofessor Friedrich von Hayek und seinem Starschüler Milton Friedman an der Spitze. Sie sicherte sich eine riesige finanzielle Unterstützung durch private US-Stiftungen, die von Unternehmen aus der Chemie-, Stahl- und Rüstungsindustrie gesponsert werden. Ihr kollektives Ziel war das zu fördern und herbeizuführen, was wir heute den
neoliberalen Kapitalismus nennen, und die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihn absichern und zu seiner Ausweitung beitragen.
Dank der üppigen Finanzierung und umsichtigen Vorbereitung hat die neoliberale Revolution mit der Wahl von Ronald Reagan und Margaret Thatcher Ende der 1970er Jahre die Staatsmacht übernommen. Das ist der Punkt, an dem, so scheint mir, die Linke den Überblick verloren hat. Die Progressiven, die Sozialdemokraten und selbst die Kommunisten hatten keine Vorstellung, was da ablief. Und da sie nie verstanden, was sie erwartete, haben sie sich nicht gegen die sich ausbreitende neoliberale Bewegung vereinigt und hatten auch keine Strategie, ihr zu begegnen.
Die ›neoliberalen Aktivist*innen‹ dagegen wussten genau, was sie taten. Ich nenne sie die ›rechten Gramscianer‹. Sie hatten viel besser als die Linke Antonio Gramscis Konzept der
kulturellen Hegemonie verstanden. Die Neoliberalen setzten an, die
Kultur der Westlichen Welt durch das zu verändern, was Gramsci den »langen Marsch durch die Institutionen« nannte. Aus diesem Grunde finanzierten sie alle Arten von Ideen produzierenden und Ideen verbreitenden Institutionen. Sie gründeten Denkfabriken, schufen Universitätsinstitute für »Recht und Wirtschaft« und zahlten für sie, finanzierten Filme, TV-Shows, Vorlesungen und Publikationen auf jedem Niveau, angefangen bei wissenschaftlichen Zeitschriften bis hin zu Uni-Zeitungen. Sie bildeten eine eng vernetzte Organisation, genannt die
Federalist Society für Rechtsanwält*innen, Richter*innen und Professor*innen auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften. Viele andere kulturverändernde Unternehmungen gingen von ihnen aus. Die Wirtschaft, die bis dahin erstaunlich wenig Einfluss auf die Gestaltung der Politik der USA genommen hatte, wurde deutlich aktiver bei der Propagierung eines unregulierten Kapitalismus, indem sie ihre Aktivitäten des Lobbying und der PR verstärkten. Ihre gut ausgebildeten Spin-Doktoren, ihre Sprecher* und Schreiber*innen besetzten schrittweise die Talkshows, die Kolumnen der Zeitungen und Zeitschriften und die Vorlesungsreihen an Universitäten. Stillschweigend übernahmen sie Alltagskonzepte und Alltagssprache, soweit sie ihren ideologischen Präferenzen entsprachen, und bauten sie in ihr eigenes Vokabular ein. Neoliberalismus wurde der neue ›gesunde Menschenverstand‹, erst in den USA, später in Europa und dem Rest der Welt. Es ist schwer zu sagen, wie viel Geld für dieses Unternehmen ausgegeben wurde. Aber ein Forscher behauptet, dass zwischen 1982 und 2002 eine Milliarde Dollar investiert wurde, um zu verändern, was die US-Amerikaner*innen denken. Diese Investition sollte sich auszahlen. Das Konzept und die Umsetzung des neoliberalen Programms haben funktioniert. Sie haben den Kapitalismus von sehr vielen Vorschriften und Regulationen befreit.
Die Linke hatte derweil angenommen, dass ihre eigenen Ideen, Werte und Institutionen, so wie sie waren, großartig seien und keinerlei Verteidigung und offensive Propaganda bräuchten. Einige progressive US-Stiftungen förderten weiterhin Projekte,
aber sie förderten niemals Ideen. Ihre Projekte zielten darauf ab, jenen zu helfen, die in vernachlässigten Bereichen leben. Aber diese Förderung dauerte nur, solange sie finanziert waren, zumeist drei Jahre lang.
Der Kern dieser langen Geschichte ist, dass die Progressiven den Krieg der Ideen verloren haben. Kapitalismus, Deregulierung und Privatisierung sowie privater Reichtum haben gewonnen. Steuern auf Unternehmen und private Einkommen wurden radikal gekürzt und der Finanzsektor von Einschränkungen befreit. Von den meisten Leuten hatte die Ideologie des Neoliberalismus Besitz ergriffen und sie fanden dies alles normal. Das Resultat war eine traumhafte Welt für den Kapitalismus.
Ich wäre sehr glücklich, wenn das neoliberale kapitalistische System, das sich nach den 1970er Jahren herausgebildet hatte, dabei wäre, zusammenzubrechen. Aber ich sehe kaum Anzeichen dafür. Auch wenn es noch zu früh ist zu sagen, was die Präsidentschaft von Trump alles mit sich bringen wird, so befürchte ich doch, dass er sein Bestes geben wird, um das neoliberale Projekt zu verteidigen und auszubauen. Warum sonst würde er sein Regierungskabinett mit Milliardären, Eigentümern von Großkonzernen und deren Managern besetzen?
Europa wird es nicht besser gehen. Nur ein Beispiel für den Erfolg des Neoliberalismus auf unserem Kontinent. Die Ökonomen messen ständig den Anteil, den Kapital und Arbeit am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in einem bestimmten Jahr erhalten. Es geht um das, was für Löhne und Gehälter ausgegeben wird, versus das, was das Kapital erhält, zum Beispiel für Dividenden sowie Pacht- und Zinszahlungen. In der Mitte der 1970er Jahre gingen rund 30 Prozent des BIP in Westeuropa an das Kapital und 70 Prozent an die Lohnarbeit. Bis heute hat sich der Anteil des Kapitals auf vierzig Prozent erhöht, sodass die Lohnarbeit ein Äquivalent von zehn Prozent des BIP verloren hat und nur noch 60 Prozent bekommt. Da das jährliche BIP Europas rund 16 Billionen Euro im Jahr beträgt, bedeutet dies, dass die arbeitende Bevölkerung seit Jahrzehnten jährlich etwa 1,6 Billionen Euro verliert, die transferiert werden, um das Kapital zu bereichern. Weder ist dies eine kleine Veränderung, noch ist es exakt das, was man ein Desaster für den Kapitalismus nennen könnte. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass der Anteil des BIP, der jetzt an die ›Arbeit‹ geht, auch die Löhne, Bonuszahlungen und Aktienanteile der Topmanager*innen und Banker*innen einschließt, die Millionen verdienen.
Die Unternehmen, die es früher gewohnt waren, ziemlich hohe Steuern zu bezahlen, um die öffentlichen Güter zu finanzieren, haben zudem viele Wege gefunden, dem auszuweichen. Während die Regierung vor allem die Interessen der größten transnationalen Konzerne und Banken im Auge hat, kommen die kleineren und mittleren Unternehmen nicht so gut weg. TTIP und CETA sind die jüngsten Beispiele für die Privilegien, die den größten transnationalen Konzernen zugestanden werden. 2017 könnten selbst Lobbyisten ihren Job verlieren, da Präsident Trump die Unternehmen direkt an die Spitze von Regierungsämtern setzt. Warum sollte man sich mit Lobbyisten oder anderen Mittelsmännern rumschlagen, wenn man den früheren Präsidenten von Exxon Mobil, Rex Tillerson, als Außenminister haben kann. Auch dies ist nicht gerade ein Hemmnis für den Kapitalismus.
Sicher könnte man Bernie Sanders, die Occupy Bewegung, Jeremy Corbyn oder die neuen, sehr aktiven Stadtregierungen in Madrid oder Barcelona als Gegenbeispiel anbringen, oder auch Attac nennen, eine Organisation, die in vielen europäischen Ländern aktiv ist. Auch ich hoffe, dass solche Leute und diese Bewegungen Zeichen der Zukunft sind. Aber bis jetzt sind sie nichts anderes als helle Hoffnungssterne in einer Galaxie des Neoliberalismus. Der Brexit und die Wahl von Donald Trump zeigen, dass die verbreitete Unzufriedenheit und Wut die Rechten begünstigen. Die neoliberale Propagandamaschine funktioniert perfekt. In den 1930er Jahren hat eine ähnliche Maschine aus den Juden, den Homosexuellen und den Kommunisten den Feind gemacht. Heute sind es die Migrantinnen und Migranten, die Muslima und Muslims, LGBT oder die Frauenbewegung.
Hoffnung aus dem Süden?
Bisher sind wir weitgehend im Norden geblieben, wo der Kapitalismus entstand und wo also auch wahrscheinlich sein Totenbett sein wird. Die Bevölkerung der relativ reichen, ›fortgeschritteneren‹, sogenannten entwickelteren kapitalistischen Länder macht nur rund 15 Prozent der Menschheit aus. Vielleicht könnten die 85 Prozentaus dem globalen Süden der kapitalistischen Entwicklung eine Grenze setzen? Meine Antwort fällt skeptisch aus.
Ungeachtet der Globalisierung sind diese Länder mit einigen wenigen Ausnahmen wie China für den Westen nicht mehr so wichtig wie früher. Während des Kalten Krieges bildete der Westen die ›Erste Welt‹, die Sowjetunion und ihre Bündnispartner die zweite und alle anderen fielen in die Kategorie der ›Dritten Welt‹. Der kapitalistische Westen musste sehr genau darauf Acht geben, was im globalen Süden passierte. Jeder dieser vielen Staaten konnte zur politischen und militärischen Basis der gegnerischen, der sowjetischen Seite werden. Diese Länder waren zudem ein nützliches Reservoir der Ausbeutung. Sie stellten Ressourcen und landwirtschaftliche Güter bereit, für die auf den Weltmärkten zu niedrige Preise gezahlt wurden und die so auch nicht in die falschen Hände, die der Sowjets, fallen konnten.
Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Fall der Mauer hier in Berlin sowie dem Zusammenbruch der Sowjetunion war der Kalte Krieg die bestimmende geopolitische Realität. Was die kapitalistische Welt am meisten fürchtete, waren »zwei, drei, viele Kubas« und Vietnams, wie Che Guevara gesagt haben würde. Teile der früheren ›Dritten Welt‹ sind gute Beispiele für Versuche, die Lage für die Bevölkerung zu verbessern. Aber sie stellen keine Bedrohung für den Weltkapitalismus dar, und es ist völlig grotesk anzunehmen, wie es das US-Establishment offensichtlich tut, dass ein lateinamerikanisches Land wie Venezuela eine Bedrohung für die USA sein könnte.
Jetzt, wo der Kalte Krieg nun wirklich und wahrhaftig vorbei ist, wo das Gespenst des Kommunismus – genau: dessen, was richtiger autoritärer Staatssozialismus genannt wurde – in Europa und den USA nicht mehr länger umhergeht, ist nicht nur das Konzept und die Industrie von ›Entwicklung‹ am Verschwinden, sondern kooperieren auch fast alle Eliten mit Ausnahme weniger Länder wie Nordkorea mit Begeisterung mit dem kapitalistischen Projekt. Die Doktrin von Davos und seine Propaganda der ›Globalisierung‹ haben den Platz von ›Entwicklung‹ eingenommen. Globalisierung klingt gut und erweckt den Eindruck, wir alle würden Hand in Hand zusammen in Richtung des gelobten Landes der Wohlfahrt und des Glücks für alle marschieren.
Leider ist dies nicht der Fall. Vielmehr ist die kapitalistische Globalisierung ein Programm, welches »das Beste nimmt und den Rest übrig lässt«: Es nimmt die besten Leute, die besten Ressourcen und die besten Quellen von – was noch? – Kapital. Jährlich veröffentlicht Oxfam im Zusammenhang mit dem Davos-Festival im Januar, dass einige Dutzend Milliardäre über so viel Reichtum verfügen wie einige Milliarden Menschen, die am ›falschen Ort‹ geboren wurden. Dem Kapitalismus geht es richtig gut und die Eliten des Südens fragen nur, wie sie daran teilhaben können. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, scheint keine Bedeutung zu haben.
Die Nichtregierungsorganisation
Global Financial Integrity, berichtet, dass jährlich eine Billion Dollar (dies ist eine Eins mit zwölf Nullen) aus dem globalen Süden rausgesaugt werden. Ein Teil dieses Transfers ist nach jetzigen Regeln legal. Er basiert auf Preismanipulationen und anderen Techniken der transnationalen Konzerne. Ein anderer Teil dagegen ist völlig illegal, und ziemlich viel von dem Geld wandert in den globalen Norden, weil die Eliten des Südens dorthin ihren Reichtum schaffen. Sie sind der neuen internationalen, fast homogenen Klasse, die ich die Davos-Klasse nenne, beigetreten.
Also auch hier gibt es keine Hindernisse für den Kapitalismus.
Wer oder was dann?
Wenn der Kapitalismus so wenig aus dem Süden zu befürchten hat, dann kann vielleicht die dynamische Hinwendung des industriellen Nordens zu Robotern, selbstfahrenden Autos und künstlicher Intelligenz zu seinem Dahinscheiden beitragen? Solche Wandlungen und Schocks traten seit den frühesten Tagen des Kapitalismus auf, und es dauerte immer eine längere Zeit, bis sie absorbiert worden waren. Aber sie haben das Ungeheuer niemals umgebracht. Der nächste Übergang wird für viele wohl sehr schmerzhaft sein, aber nicht unmöglich. Viele werden sich in prekärer Beschäftigung wiederfinden oder auch ohne jeden Job sein. Aber es werden neue Industrien entstehen, und die Staaten haben die Mittel, um die Verluste an Arbeitsplätzen zumindest teilweise zu kompensieren. Ein ›militärischer Keynesianismus‹ funktioniert anscheinend auch nach Plan. Rüstung, bringt Profit, stimuliert die Wirtschaft und ihre Produkte sind globaler Exportschlager.
Ich sehe nur zwei mögliche Gründe, warum das Argument vom Sterbebett des Kapitalismus wahr sein könnte. Und offen gestanden, möchte ich diese nicht wirklich ins Auge fassen, da sie beide schrecklich sind. Das erste Argument, das für einen Zusammenbruch des Kapitalismus spricht, ist die wachsende Komplexität und wechselseitige Verflechtung der größten und profitabelsten Konzerne und die vollständige Übernahme der produzierenden und dienstleistenden Industrien und vor allem des Finanzsektors durch sie.
2011 erschien ein bemerkenswerter wissenschaftlicher Artikel von drei Forschern aus dem Züricher Polytechnikum (ETH). Er ist zugleich aufschlussreich und furchterregend. Die Forscher stellen die Verflechtung von mehr als 40 000 transnationalen Konzernen dar. Sie haben geprüft, wer welchen Teil wovon besitzt. Und am Ende kommen sie zu dem Schluss, dass es nur 147 Konzerne sind, die 40 Prozent des gesamten analysierten Bereichs kontrollieren. Ihre letztliche Reduktion auf die fünfzig am stärksten vernetzten Konzerne deckt auf, was sie »Eigentum auf des Messers Schneide« (
knife-edge property) nennen. Wenn irgendein ernsthaftes Ereignis – so wie der plötzliche Bankrott der Lehman Brothers – einen dieser fünfzig Konzerne trifft, dann würde die ganze Struktur wie eine Dominoreihe umfallen, da sie in ihrer Größe und Komplexität, mit ihren Tochtergesellschaften und dem Eigentum so eng miteinander verflochten sind. Besonders besorgniserregend ist, dass alle Konzerne in dieser Liste – mit der Ausnahme von Walmart und dem Chinesischen Ölkomplex – Finanzunternehmen sind: Banken und Hedgefonds beziehungsweise aus dem Bereich der Versicherung oder anderer Finanzdienstleistungen kommen. Wenn also ein spektakulärer Zusammenbruch einen dieser Konzerne ereilt, würde über Nacht das Finanzsystem kollabieren. Jeder, der ein Einkommen hat, ein Bankkonto, Versicherung, finanzielle Rücklagen, soziale Sicherheit, einen Job oder Geschäft … würde diese verlieren (vgl.
Vitali, Battiston & Glattfelder 2011).
Immer mehr Forscherinnen und Forscher sehen Komplexität als den Mörder hinter der Ecke, der darauf wartet, den Kapitalismus niederzustrecken – und mit ihm alles und jeden. Im Vergleich dazu würden der Kollaps von Lehman Brothers und die Ereignisse vom September 2008 nur noch als kleiner Schluckauf erscheinen. Dabei darf man nicht vergessen: Obwohl es schon acht Jahre her ist, sind die Wunden, die der Bankrott von Lehman Brothers zugefügt hat, nicht geheilt. Was wäre, wenn es zu zwei, drei, fünfzig Lehmans-Brothers-Pleiten käme? Mir schaudert bei der Vorstellung.
Der zweite Grund, den ich dafür sehe, dass der Kapitalismus stirbt, ist der Tod des gesamten Planeten, wie wir ihn kennen. Das würde unser Wirtschaftssystem ziemlich blöd dastehen lassen. Wenn der Kapitalismus weiter darauf besteht, unser einziges Heim zu überheizen, es mit klimaschädlichen Gasen vollzupumpen, und die Ozeane steigen zu lassen, dann wird eres schaffen, alles und jeden mit sich in den Abgrund zu reißen, unsere Zivilisation und das Leben der meisten Arten, eingeschlossen auch der Menschen. Ökolog*innen weisen seit vielen Jahren daraufhin, dass selbst für das Kapital nicht allein die eigenen Regeln zählen könnenn, sondern auch die Regeln der Erde beachten müssen. Dies schließt die Gesetze der Physik, Chemie und Biologie ein, denn sie werden am Ende über die kleinlichen menschlichen Vorlieben für Profit triumphieren. Wer die Gesetze der Natur missachtet, ist automatisch dazu verurteilt zu scheitern. Unser Problem besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Botschaft ankommt.
Und die Linke?
Ich möchte an dieser Stelle auf die Rolle der Linken in der derzeitigen gesellschaftlichen Konstellation zu sprechen kommen. Einige von uns sind der Meinung, sie befinde sich selbst in einer Krise, weil es ihr an Antworten auf die neoliberale Krisenpoltik fehle.Ich bin ganz im Gegenteil der Auffassung, dass die Linke in dieser Frage ganz gut abgeschnitten und eine Reihe von praktischen Vorschlägen und Antworten entwickelt hat, wie unsere Wirtschaftswelt sicherer und unsere Gesellschaften besser werden können. Wir wissen, dass es das Erste, was man tun müsste, um eine neue Finanzkrise zu verhindern, wäre, die Banken unter Kontrolle zu bringen, das Investmentbanking vom kommerziellen Banksystem zu trennen, die größten Banken zu nationalisieren oder zu sozialisieren. Dazu würde auch gehören, das Geld, das in den Steueroasen versteckt wurde, zurückzuholen, die Finanztransaktionen und das oberste eine Prozent der Vermögenden zu besteuern. Es ginge mit einem Wort darum, Regulierungen durchzusetzen, die größere Gleichheit sichern. Die Tagesordnung ist klar und sie heißt: »Stoppt den Neoliberalismus!«
Aber unsere Regierungen ziehen es vor, im Interesse der mächtigsten Spieler zu handeln, die keine von diesen Maßnahmen begrüßen. Unsere Vorschläge sind machbar, aber nicht dann, wenn man den Banken und Konzernen alles gibt, was sie nur wollen.
[3] Die Linke weiß, was zu tun ist, wie es zu tun ist und sie kann jedem genaue Instruktionen geben, der davon überzeugt werden kann, zuzuhören. Das Schwierigste ist, sie dazu zu bringen, zuzuhören.
Hoffnung auf Veränderung
Das Gerede von „Revolution“ als Lösung ist völlig verschwunden, zumindest bei denen in der Linken, die ich kenne. Ich sehe darin einen Fortschritt. Jeder ist heute pragmatischer, realistischer und damit befasst, aus der heutigen Ungerechtigkeit, Ungleichheit und dem nahenden Klimachaos eine Art demokratischer Ordnung zu schaffen. Die meisten Linken haben begriffen, dass Revolution kein sehr hilfreiches Konzept ist, außer man benutzt es als Metapher. Wo könnte denn die Revolution stattfinden? In New York, London oder einem anderen großen kapitalistischen Zentrum? Hätte ich den Namen des Zaren und die Adresse des Winterpalastes, dann wäre ich dabei, versprochen! Aber heute, einhundert Jahre nach diesem historischen Ereignis, müssen wir begreifen, dass der Kapitalismus irgendwie überlebt hat und zudem blüht und gedeiht. Er ist immer noch mit uns, mächtiger als jemals zuvor. Die Demokratie dagegen ist in einem schlechten Zustand. Immerhin ist die Revolte gegen Donald Trumps Präsidentschaft und den von den Republikanern beherrschten Kongress in den USA sehr aktiv und wird in einer ganz und gar demokratischen Weise realisiert.
Diese Bewegung und das klare Streben nach einem größeren politischen Engagement in den USA zeigen, dass Rosa Luxemburg recht hatte und dass die, die sie die ›Massen‹ nannte, sich wieder in Bewegung gesetzt haben. Das ist es, was mir die größte Hoffnung macht. Die Menschen in der ganzen Welt sind nicht nur auf der Straße und protestieren
gegen schlechte Politiker und noch schlechtere Politik, sondern sie sind in aller Stille dabei, ihre eigenen Strukturen aufzubauen – in tausendfachen unterschiedlichen Räumen. Anstatt den Kapitalismus
zu stürzen, sind sie dabei, sich
von ihm zu lösen. Die Zahl von Start-Ups und genossenschaftlichen Unternehmen, wo Menschen zusammenarbeiten und niemand den anderen ausbeutet, wächst jedes Jahr. Solche Genossenschaften sind eine Idee des 19. Jahrhunderts, aber diese Idee wird auf verschiedenste Weise modernisiert. Nahrungsmittelkooperativen, die auf lokal angebauten Nahrungsmitteln basieren, verbreiten sich und halten die Preise dadurch unten, dass alle Genossenschaftsmitglieder jede Woche oder jeden Monat einige Stunden Arbeit leisten. Sie nutzen gemeinsam Werkzeuge, die sie sonst kaufen müssten, obwohl jede*r sie nur ein oder zwei Mal im Jahr braucht. Immer neue Reparaturwerkstätten entstehen, so dass wir nicht jedes Mal, wenn etwas kaputt geht, es neu kaufen müssen. Transportgenossenschaften sind ein anderer Trend. In vielen Städten und Regionen gibt es lokale Währungen, die viel genutzt werden.
Städte machen mehr Hoffnung und sind leichter zu ändern als ganze Nationen. Bewegungen in Richtung der Remunizipialisierung der Wasserversorgung und anderer öffentlicher Dienstleistungen, die privatisiert wurden, haben an Kraft gewonnen. In Spanien schließen sich Städte zusammen, um Wege zu finden, ihre Schulden loszuwerden. Einige dieser Schulden werden für illegitim erklärt. Dies ist nicht so sehr ein moralischer als ein technischer Begriff. Wenn durch frühere Stadtregierungen Kredite aufgenommen und Schulden akkumuliert wurden und das Geld dann verschwendet oder nicht so genutzt wurde, dass es den Bürgerinnen und Bürgern nutzte, dann sollten diese Schulden auch nicht zurückgezahlt werden. Die Bürgerinnen und Bürger werden ermutigt, an den Stadtregierungen zu partizipieren oder sogar den Haushalt zu bestimmen wie beim partizipatorischen Haushalt in Porto Alegre in Brasilien. Menschen lernen, Strukturen zu schaffen, die politisch „horizontal“ sind und in allen Phasen eine öffentliche Partizipation erlauben. Dies steht im Gegensatz zu vertikalen Strukturen, wo sich die Bürgerinnen und Bürger auf ihre Vertreterinnen und Vertreter verlassen müssen und nicht direkt partizipieren können. Die Leute sagen laut und eindeutig: »Wählen ist nicht genug!«
Ich kann das Thema der basisbewegten Kämpfe gegen den Kapitalismus nicht verlassen, ohne die eindrucksvollen Bewegungen gegen TTIP und CETA vor allem in Deutschland zu erwähnen. Hier wurde großartiges bei der Bildung und Mobilisierung der Leute erreicht. Aber ohne die Staatsmacht auf unserer Seite zu haben, können wir nicht gewinnen. Und bisher zumindest ist der einzige Weg, um die Staatsmacht zu übernehmen, zumindest in Demokratien, der Weg von Wahlen, die von politischen Parteien gesteuert werden. Ja, wir sind verpflichtet, dazu aufzurufen, Parteien zu wählen, die die richtigen Versprechungen machen. Aber wir müssen auch in der Lage sein, die Führung abzuberufen oder abzusetzen, wenn sie nicht liefern.
Das Problem geht jedoch über solche praktischen Lösungen hinaus und ist tiefer. Wir müssen jene Gramscianischen Kämpfe führen, bei denen sich die Neoliberalen über Jahrzehnte hervorgetan haben. Die Lösungen gegen Kapitalismus und Neoliberalismus werden auch kulturell sein oder es wird sie nicht geben. Wenn unsere deutschen Genossinnen und Genossen die gleiche politische Energie auf diese Kämpfe wenden würden, wie sie es getan haben, um gegen TTIP vorzugehen, werden wir in einer viel besseren Position sein. Wir müssen den Einfluss solcher Offizieller wie Wolfgang Schäuble oder eines Wirtschaftsestablishments zurückdrängen, das ernsthaft glaubt, dass die Lösung in Austerität liegt, oder denen es egal ist, wenn Millionen Griechen in eine verzweifelte Situation gebracht werden. Das ist nicht nur inhuman, es zerstört zudem die Europäische Union.
Das ist der Gramscianische Auftrag, den ich meinen Genossinnen und Genossen der deutschen Linken geben möchte: Geht nicht nur gegen das neoliberale Dogma dadurch vor, dass ihr erklärt, was falsch ist, sondern tragt unsere Werte, unsere Lösungen vor und macht dies zum Teil eines politischen Projekts. Es gibt keinen Grund zu verzweifeln. Denn schon Friedrich Hölderlin wusste: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“
Dieser Beitrag geht zurück auf eine Luxemburg Lecture, am 3. März 2017 in Berlin gehalten hat. Aus dem Englischen von Michael Brie
Anmerkungen
[1] Ich danke Dimitrios Konstantakopoulos für die Hilfe beim etymologischen Verständnis.
[2] Es handelte sich um ein wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm, dass unter Punkt 4 der außenpolitischen Zielsetzungen Trumans in der Rede zum Antritt seiner zweiten Präsidentschaft genannt wurde und nicht auf Europa beschränkt war.
[3] Siehe zum Beispiel mein Buch, das in der französischen Ausgabe übersetzt den Titel trägt: “Ihre Krisen, unsere Lösungen". Im Englischen wurde durch den Verlag ein Titel gewählt, gegen den ich vergeblich angekämpft habe: “Whose Crisis, Whose Future?”, Blackwell 2010.