»Reporting from the Front« war das Motto der Architekturbiennale, die von Mai bis November 2016 in Venedig stattfand. Globale Migration als fundamentales Muster und elementare Herausforderung zog sich als roter Faden durch die Ausstellung. Der deutsche Pavillon »Making Heimat – Germany, Arrival Country« war einer der herausragenden Beiträge. Gestaltet von der deutschen Architektin Anna Scheuermann und dem kanadischen Migrationsforscher Doug Saunders, illustrierte er anhand von acht Thesen, was eine erfolgreiche »Einwanderungsstadt« ausmacht. Einwanderungsstädte, »Arrival Cities«, sind Städte oder Stadtviertel, in denen besonders viele Zuwander*innen in den ersten kritischen Jahren nach ihrer Ankunft wohnen. Eine von Saundersʼ Thesen lautet: »Die Arrival City ist informell.« Denn die Einwanderungsstadt ist geprägt von Arbeitsverhältnissen, Geschäften und Unternehmen, die nicht unbedingt unseren Standards von Normalarbeitsverhältnissen entsprechen. Etwa wie im Dong Xuan Center im Osten Berlins, eigentlich ein Gewerbegebiet für Großhandel. Vor allem Zugewanderte aus Vietnam, China, Indien und Pakistan arbeiten hier, teilweise mit, teilweise ohne Papiere. Unter der Hand ist ein Zentrum für alle möglichen Dienstleistungen entstanden, die mehr oder weniger toleriert werden, obwohl sie hier streng genommen nicht zulässig sind. »Restaurants deklariert das Ordnungsamt als ›Kantinen‹, Friseurläden entstehen aus dem offiziellen ›Friseurgroßhandel‹, der seine Stühle irgendwann nicht mehr verkauft, sondern Kunden darauf platziert.« (Schwarz 2016, 143) Um keinen Zweifel zu lassen, was mit der These gemeint ist, hieß die Unterzeile: »Die Tolerierung nicht gänzlich rechtskonformer Praktiken kann sinnvoll sein.« Wer dieser These im »Making Heimat«-Pavillon begegnete, die Bilder betrachtete und die Berichte las, dem war klar: Hier gibt es ein dickes Problem. Arbeit ist das Stiefkind der ohnehin mageren deutschen Debatte über Einwanderung und Integration. Bei kaum einem anderen Thema liegen die Lehren, die sich aus den weltweiten Beispielen erfolgreicher und gescheiterter Integration ziehen lassen, so weit entfernt von den traditionellen Glaubenssätzen, politischen Ängsten und administrativen Leitbildern der Mehrheitsgesellschaft. 1

Zwei Geschichten über Einwanderung

Es gibt zwei unterschiedliche Arten, wie von Zuwanderung erzählt wird. Die eine handelt von Flucht und Asyl: Menschen fliehen vor Krieg und Bürgerkrieg, vor politischer Verfolgung, vor Hunger und absolutem Elend. Sie brauchen unsere Hilfe; gleichzeitig müssen die Fluchtursachen bekämpft werden, damit sie gehen oder bleiben können. Diese Geschichte stellt die humanitäre Frage in den Vordergrund. Ihr Muster ist die Flucht: Aus zerbombten Städten, wie Sarajevo in den 1990er Jahren oder heute Homs und Aleppo, oder vor brutalen Diktaturen ins politische Exil, wie in den 1970er Jahren aus Chile oder heute aus Eritrea, den IS-Gebieten in Syrien und im Irak und demnächst vermutlich aus der Türkei.

Die andere Geschichte handelt von globaler Migration. Menschen bewegen sich weltweit in großer Zahl, um sich anderswo eine Existenz aufzubauen. Sie suchen nach sozialem Aufstieg für sich und für ihre Kinder, und dabei schreiben sie die Geschichte und Ökonomie der kommenden Zeit. Der Akzent liegt nicht darauf, wo die Menschen herkommen, sondern wo sie hinwollen. Die Einwanderungsstädte sind Teil globaler sozialer Mobilität; sie sind die Orte, »wo die kommende Mittelschicht geschmiedet wird« (Saunders 2011, 3). Viele der erstaunlichen Veränderungen der globalen Sozialdaten in den letzten 20 Jahren, etwa der Rückgang der absoluten Armut, die Fortschritte bei der Bildung, aber auch der Umbruch von Geschlechterverhältnissen und die ökonomische Aufholjagd der Schwellenländer, sind in wesentlichen Teilen die Leistung derer, die sich auf den Weg gemacht haben – innerhalb ihrer Länder, aber eben auch über Ländergrenzen hinweg. Diese Variante der Geschichte stellt die soziale Frage in den Vordergrund. Ihre Akteure sind nicht die Individuen, die auf Zeit ihre Haut retten müssen, sondern Kollektive: Familien und Communities, die einen Plan für die nächsten 50 Jahre verfolgen, einen Plan, der mehrere Generationen umfasst. Ihr Muster ist die Anwerbung der »Gastarbeiter« aus der Türkei und Jugoslawien in den 1960er Jahren oder heute die Einwanderung aus Mexiko in die USA oder aus den Balkanstaaten nach Deutschland.

Der öffentliche Diskurs in Deutschland steckt zu 95 Prozent in der ersten Geschichte fest. Auch die Bewegung der Solidarität mit den Geflüchteten nimmt diese vor allem im Muster der Flucht wahr. Die Leistungen der Kommunen bei der infrastrukturellen Herausforderung der letzten 18 Monate konzentrierten sich auf die unmittelbare Erstaufnahme. All das ist nicht frei von Paternalismus und einer gewissen Stilisierung der Zugewanderten, die sie vornehmlich als Opfer und wenig als Akteure globaler Umbrüche begreift. Die Einwanderungsgesellschaft ist weiterhin das große Tabu, die Migrations- und Integrationspolitik, die an die »Willkommenskultur« anschließen müsste, ist ein ungeliebtes Thema. So aber lassen sich die Strukturen nicht aufbrechen, die dem Umbau Deutschlands zu einer modernen, offenen Einwanderungsgesellschaft im Weg stehen.

Eingewanderte sind keine »unfertigen Inländer«

Die offizielle Theorie der deutschen Arbeitsmarktintegration, wie sie von der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern vertreten und verbreitet wird, lautet: Erfolgreiche Arbeitsmarktintegration dauert drei bis sechs Jahre. Sie erfolgt in den Etappen Spracherwerb – Qualifizierung – Erwerbsarbeit, und zwar hintereinander und in genau dieser Reihenfolge. Erst wird Deutsch gelernt; dann eine Ausbildung gemacht; dann kommt das qualifizierte Normalarbeitsverhältnis. Flankiert wird diese Theorie von den Dogmen der Wohnungs- und Sozialpolitik: Konzentration an einem Ort ist schlecht; »Durchmischung« das oberste Gebot. Der Zuwanderer ist in dieser Sichtweise vor allem ein defizitärer Einheimischer, der alles erst einmal nachholen muss und den man am besten wie mit dem Salzstreuer auf die Mehrheitsgesellschaft verteilt, damit er nicht stört und schneller lernt, wie es in Deutschland so gemacht wird.

Dieses Leitbild scheitert aus mehreren Gründen. Erstens haben die meisten Migrant*innen keine Zeit zu verlieren. Sie haben Schulden, weil ihr Weg nach Deutschland viel Geld gekostet hat. Oder sie haben Familie und Communities in der alten Heimat, die dringend darauf warten, unterstützt zu werden. Deshalb wollen sie meist so schnell wie möglich arbeiten und Geld verdienen.

Zweitens stimmt das Leitbild nicht mit der Realität des eigenen Handelns überein. Die Geduld der deutschen Arbeitsmarktsysteme ist extrem begrenzt und die immanente Logik der Institution Jobcenter letztlich darauf gerichtet, ihre »Kund*innen« so schnell wie möglich auszuscheiden. Die Angebote der »nachholenden Integration« sind schlicht nicht ausreichend vorhanden, um Zuwandernde in großer Zahl auf höhere Sprachniveaus zu qualifizieren oder sie Berufsabschlüsse neu erwerben zu lassen. Das System Arbeitsmarktförderung schafft es schon bei im Inland Geborenen nur in geringer Zahl, ihnen anschließend dauerhafte, qualifizierte Berufstätigkeit zu ermöglichen.

Drittens versäumt diese Herangehensweise, den Blick auf die Stärken der Migrant*innen zu richten statt auf ihre Schwächen. Einwandernde sind keine unfertigen Inländer, sie verfügen über ein eigenes, soziales wie persönliches Kapital an Erfahrung, Motivation und Verbindungen. Sie selbst sind die wichtigsten Akteure von Integration, sowohl individuell als auch kollektiv, ihre Familien, Communities und Netzwerke.

Das ist genau der Perspektivwechsel, den die internationale Migrationsforschung zu Recht fordert. Hauptaufgabe von Integrationspolitik ist es demnach, Zuwandernde bei der Selbstintegration zu unterstützen und die Hindernisse zu beseitigen, die sich ihnen in den Weg stellen: mit schneller Arbeitserlaubnis und Gewerbefreiheit, billigem Wohnraum mit guten Verkehrsanbindungen, fairer Überführung ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen in formal anerkannte Qualifikationen, ohne die auf Dauer nichts geht in Deutschland. Es macht Sinn, dass Einwandernde dorthin wollen, wo schon ethnische Communities existieren, die ihnen weiterhelfen können. Es macht ebenso Sinn, dass sie ihre Familien nachholen können, dass sie so viel wie möglich auch ihre eigene Sprache sprechen, dass sie in migrantisch geführten Betrieben arbeiten, die ihre Situation kennen und wo ihre Herkunft ein Vorteil ist. Aber es gibt kein einziges Instrument der deutschen Arbeitsmarktpolitik, das migrantisch geführte Betriebe dabei unterstützt, Einwandernde zu beschäftigen. Betriebe können keine Zuschüsse beantragen, um konkrete Personen einzustellen. Betriebe müssen »Maßnahmen« beantragen und die Jobcenter weisen nach ihrer eigenen, unerfindlichen Logik zu – die meistens dazu führt, dass die Betriebe »Nein, danke« sagen.

Der Einsatz von Migrant*innen als Sprach- und Kulturmittler*innen kommt nur höchst zögerlich in Gang. Die Jobcenter geben Millionen für die sogenannten Förderzentren aus, die aus Sicht der Migrant*innen weitgehend nutz- und perspektivlos sind, schon allein weil sie sich zu einem cleveren Geschäftsmodell für kommerzielle Anbieter entwickeln, die damit Profit machen, dass sie den Jobcentern die Leute aus der Arbeitslosenstatistik ›abnehmen‹. Die Förderung migrantischer Vereine und Organisationen als strategisch wichtige und erfolgversprechende Integrationsakteure spielt dagegen bislang kaum eine Rolle.

Reformen und Spaltung in der Integrationspolitik

Die deutsche Arbeitsmarktpolitik für Geflüchtete hat sich in den letzten eineinhalb Jahren stark verändert. Dabei sind einerseits überfällige Reformen vollzogen worden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist bereits nach drei Monaten möglich. Die berüchtigte »Vorrangprüfung«, also die Prüfung, ob wirklich kein/e Inländer/in für diese Stelle zur Verfügung steht, wird meist nicht mehr angewendet. Wer in Deutschland eine Ausbildung beginnt, wird mindestens geduldet und kann nach erfolgreichem Abschluss ein Bleiberecht erhalten. Das sind wichtige, an sich selbstverständliche Voraussetzungen dafür, dass Menschen sich um ihre Integration durch Arbeit kümmern können. Doch die meisten Verbesserungen gelten nur für diejenigen aus Herkunftsländern, denen der Bundesinnenminister nach politischen Erwägungen »eine hohe Bleibeperspektive« bescheinigt, das heißt für diejenigen aus Syrien, Irak, Iran, Eritrea oder Somalia. Nur sie können beispielsweise sofort die Deutschkurse machen, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bezahlt werden (»Integrationskurse«). Die anderen dürfen das erst, wenn sie nach teils jahrelangen Asylverfahren endlich einen Aufenthaltsstatus erhalten haben: entweder nach der Genfer Flüchtlingskonvention (was heute die häufigste Grundlage ist), als politisch Verfolgte nach dem klassischen deutschen Asylrecht (nach § 16a des Grundgesetzes, was heute die Ausnahme darstellt) oder im Rahmen des »subsidiären Schutzes«, weil es in ihrem Herkunftsland bewaffnete Konflikte, Folter oder die Todesstrafe gibt (§ 4 des Asylgesetzes). Ein Großteil der Geflüchteten ist nach dem Willen der Bundesregierung damit erst einmal vom Deutschlernen ausgeschlossen – ein migrationspolitischer Irrsinn. Nahezu vollständig ausgegrenzt werden diejenigen, die aus sogenannten sicheren Herkunftsländern kommen. Das sind derzeit die Balkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien, ferner Ghana und Senegal. Die Bundesregierung drängt darauf, dass auch Marokko, Tunesien, Algerien und Afghanistan (!) dazukommen. Wer aus »sicheren Herkunftsstaaten« kommt und nach dem 1. September 2015 einen Asylantrag gestellt hat, hat grundsätzlich keinen Zugang zu Integrationskursen, hat ein dauerhaftes Arbeitsverbot, muss in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben oder den Weg in den illegalen Aufenthalt antreten. Von jeglichen Integrationsleistungen ausgeschlossen sind auch Zuwandernde aus EU-Mitgliedsstaaten, namentlich die Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa. Sie genießen zwar EU-Freizügigkeit, das heißt, niemand kann ihnen verwehren, sich in Deutschland aufzuhalten. Sie haben jedoch keinen Zugang zu Sprachkursen, Berufsqualifizierung oder Arbeitsmarktförderung. Überdies sollen sie erst nach fünf Jahren Anspruch auf Sozialleistungen bekommen.

Spezifische Instrumente sucht man vergebens

Welche Instrumente bietet nun die Arbeitsmarktintegration für jene an, die nicht aus den aufgeführten Gründen davon ausgeschlossen sind? Für den Spracherwerb gibt es bislang durch den Europäischen Sozialfond geförderte Kurse des BAMF, die bis zum Sprachniveau B2 (»gute Mittelstufe«) reichen; das Programm läuft Ende 2017 aus. Die neue »Deutschsprachförderverordnung« (kein Witz!) soll berufsbezogenen Spracherwerb auch bis zum Sprachniveau C1 (»fortgeschrittene Kenntnisse«) fördern. Dieser Zugang ist aber von der individuellen Gnade der Jobcenter abhängig. Neben den Sprachkursen gibt es eigentlich nur ein Instrument, das speziell auf Geflüchtete zugeschnitten ist: die »Maßnahmen bei einem Arbeitsgeber zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung« (MAG), unbezahlte Betriebspraktika für die Dauer von sechs Wochen.

Alle anderen Instrumente, die derzeit zum Einsatz kommen, gehören zum allgemeinen Regelinventar der Jobcenter. Für junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren sind das die sogenannten Einstiegsqualifizierungen (EQ-Maßnahmen), sechs- oder zwölfmonatige Betriebspraktika mit einer minimalen Vergütung (maximal 231 Euro im Monat). Der Anteil derer, die anschließend auf einen Ausbildungsplatz des Betriebes wechseln, ist recht hoch. Weitgehend ohne Aussicht auf irgendeine Anschlussperspektive sind dagegen die »Förderzentren« der Jobcenter, von denen es inzwischen auch welche speziell für Geflüchtete gibt. Dasselbe gilt für die Ein-Euro-Jobs, die für Geflüchtete nach dem Willen der Bundesregierung nur 80-Cent-Jobs sind, auf die aber weder Geflüchtete noch Kommunen sonderlich viel Lust haben: Groß angekündigt als Programm mit 100.000 Einsatzstellen, waren bis zum Jahresende 2016 nur circa 10.000 zustande gekommen. Anstatt festzustellen, dass dies offensichtlich das falsche Instrument ist, wird mit Zwang nachgelegt: Wer die Teilnahme verweigert, wird mit Sanktionen belegt.

Besonders schwierig ist die Situation im Bereich der Berufsanerkennung. Obwohl die Bundesagentur hier gerne Erfolge meldet, werden in der Praxis hauptsächlich Abschlüsse im Gesundheitsbereich anerkannt, wo der Fachkräftemangel Druck ausübt. Anträge kommen ganz überwiegend von EUBürger*innen, höchst selten von Geflüchteten. Der Weg, wie ein syrischer Handwerker oder eine iranische Lehrerin in ihren bisherigen Berufen weiterarbeiten können, ist in keiner Weise geebnet.

Es gibt eine »Positivliste« der Bundesagentur für Arbeit, die »Mangelberufe« identifiziert, für die halbwegs geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung erfolgt. Nur in diesen »Mangelberufen« ist eine Arbeitsmarktzuwanderung von außerhalb der EU überhaupt zulässig; es ist der einzige Weg der legalen Einwanderung jenseits des Asylrechts. Abgesehen von der »Positivliste« ist das Engagement der Bundes- und Landesbehörden bei der Berufsanerkennung gering. Generell gilt: Es wird viel beraten, aber erforderliche Nach- und Zusatzqualifikationen müssen meist selbst bezahlt werden. Nur mühsam entwickeln sich derzeit im Rahmen des sogenannten IQ-Programms Angebote, die nicht nur beraten, sondern tatsächlich berufliche Qualifikationen vermitteln. 2

Das Ganze ist kein rechtebasiertes System mit klaren Regeln und Ansprüchen, sondern ein Flickenteppich, der für die Betroffenen nahezu unüberschaubar ist. An sich naheliegende Probleme wie das, dass Qualifikationsnachweise in der zerbombten Herkunftsstadt verbrannt sind, erweisen sich oft immer noch als schier unüberwindliche Hindernisse. Insbesondere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge scheitern dagegen häufig schon am Schulabschluss – weil das deutsche Bildungssystem zwar eine Schulpflicht kennt, aber kein Recht, so lange zur Schule zu gehen, bis man auch einen Abschluss erreicht hat.

Deutschland: Ein rückständiges Einwanderungsland

Untersuchungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bescheinigen Deutschland einige Anstrengungen bei der Arbeitsmarktintegration, aber auch massive Schwächen. Die ILO stellt fest, dass Zuwandernde nach Herkunftsland diskriminiert werden, dass es zu wenig beruflich orientierte Sprachbildung gibt, die Verfahren der Berufsanerkennung schlecht sind und Einwandernde mit einem hohen Maß an klassischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen haben. Vor allem kritisiert die ILO das extreme Insistieren auf formalen Qualifikationen in Deutschland. Informell erworbene Qualifikation und Erfahrung zählt kaum und lässt sich meist nicht in formale Anerkennung übersetzen. Kurz gesagt: Deutschland ist ein ausgesprochen rückständiges Einwanderungsland. Davon sind allerdings in steigendem Maße nicht nur Zugewanderte betroffen. Die Rigidität des deutschen Systems, das starre Hintereinanderschalten und die formale Trennung von Qualifikation und Berufstätigkeit behindern auch jede Menge im Inland Geborene. Die Liste der damit verbundenen Probleme reicht vom beruflichen Wiedereinstieg für Frauen über Menschen, die nach 20 oder mehr Berufsjahren ihren Job verlieren, bis zu Beschäftigten, die trotz beruflicher Erfolge aus den Begrenzungen ihrer vorberuflichen Abschlüsse nie herauskommen. Das System sichert Privilegien nach Bildungsabschluss und sozialer Herkunft bis ans Lebensende. Auch Beschäftigte, die nicht zugewandert sind, stellen immer häufiger fest, dass der klassische »Aufstieg durch Arbeit« durch vielfältige gläserne Decken und strukturelle Diskriminierungen blockiert ist. Gerade der öffentliche Dienst gibt ein unrühmliches Beispiel ab: Schon wer ›nur‹ einen Fachhochschulabschluss hat, kann die bewerbungsrelevante Grenze zwischen TV-L 12 und TV-L 13 heute nicht mehr überschreiten. Berufserfahrung und informell erworbene Qualifikationen werden generell rapide entwertet.

Die Rückständigkeit Deutschlands im Bereich des Arbeitsmarktes zu überwinden liegt daher nicht nur im Interesse der Zugewanderten. Dringend erforderlich wären dafür:
 

  • Ein veränderter Qualifikationsbegriff und neue Formen der Vermittlung zwischen erworbener und anerkannter Qualifikation. Dazu gehört eine Reform der Berufsanerkennung, die auf den Rechten derjenigen basiert, die sie in Anspruch nehmen, die verlässlich ist, starre Zeitleisten auflöst und Nachqualifizierungen staatlich finanziert. Dazu gehört ebenso, dass die arbeitsbegleitende Qualifizierung und Ausbildung ausgebaut wird und spezifische Angebote gemacht werden, nicht nur für Flüchtlinge, sondern für alle – für Frauen und Jugendliche, für ältere Arbeitnehmer*innen und für diejenigen, die von der abschmelzenden Eisscholle der »Old Economy« in absehbarer Zeit herunter müssen.
  • Eine proaktive staatliche Politik gegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Hierzu zählt etwa, die Arbeits- und Gewerbeaufsicht sowie affirmative action (Bevorzugung bei gleicher Qualifikation) stark auszubauen. Ebenso gehört dazu, die Frage von Aufstiegsmöglichkeiten und -rechten, von sozialer Durchlässigkeit und »Aufstieg durch Arbeit« wieder auf die Agenda der Tarifparteien und der staatlichen Gesetzgebung zu bringen. ›Informelle‹ Optionen dürfen sich nicht neben, sondern müssen sich innerhalb des Tarifsystems entwickeln.
  • Eine Migranten-zentrierte Integrationspolitik. Dazu gilt es, migrantische Träger, migrantische Communities, migrantische Frauen- und Jugendorganisationen sowie migrantisch geführte Betriebe als zentrale Akteure der Arbeitsmarktintegration zu fördern. Die Stärkung des Non-profit-Sektors als niedrigschwellige, weniger durchformalisierte Einstiegszone in den Arbeitsmarkt wäre ebenfalls eine erfolgversprechende Strategie. Arbeit ist der Motor der Integration, nicht ihre Krönung am Schluss: Dieses Denken muss Leitmotiv sein für die Reform des Arbeitsmarktsystems. Der deutsche Arbeitsmarkt kann und soll nicht ›informell‹ werden. Aber das, was informelle Arbeitsmärkte für erfolgreiche Integration leisten, kann studiert und im formalen Arbeitsmarktsystem nachempfunden werden. Alles andere führt dazu, dass Arbeitsmarktintegration in großen Teilen scheitert und dass Zuwanderung vor allem eine neue Unterklasse auf dem Arbeitsmarkt schafft, der jener soziale Aufstieg verwehrt bleibt, um dessentwillen sie sich auf den Weg gemacht hatte. Und nicht nur das: Damit würden auch die Chancen verpasst, die in einer Modernisierung der Systeme von Arbeit und Qualifikation für alle liegen.

1 Danke an Markus Saxinger vom Bremer und Bremerhavener IntegrationsNetz für fachliche Korrekturen und Ergänzungen und an Professorin Rose Baaba Folson, die den Anstoß für den Artikel gegeben hat.

2 www.netzwerk-iq.de

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