Der Amazon-Konzern expandiert. In den Ländern, in denen er bereits aktiv ist, kommen immer mehr Verteil- und Versandzentren hinzu und Amazon versucht zunehmend, auch die letzte Meile, also den Transport zum Kunden, in die Hand zu bekommen. Gleichzeitig versucht der Konzern, in immer mehr Ländern Fuß zu fassen. Gewerkschaften tun sich oft schwer mit dem Widerstand gegen diesen Riesen, insbesondere, weil er bei Streikaktionen den Versand in andere Länder verlegt. Aber es gibt Widerstand, auch auf transnationaler Ebene. Ein wichtiger Akteur darin ist die Amazon Workers International (AWI), ein transnationales Basisnetzwerk widerständiger Beschäftigter des Konzerns. Vom 20. bis 22. Januar 2023 findet in Genf, gefördert vom dortigen Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das erste transkontinentale Präsenz-Vernetzungstreffen der AWI statt. Florian Wilde, Referent für aktivierende und internationale Gewerkschaftsarbeit in der RLS, sprach mit Andreas Gangl, aktiv bei der AWI und für die Gewerkschaft ver.di Betriebsrat am Amazon-Standort Bad Hersfeld.
Kannst du uns die AWI kurz vorstellen: Seit wann seid ihr aktiv, was gab den Anstoß zu eurer Gründung, und wer macht da alles mit?
Das begann 2015. Damals liefen die Streiks bei Amazon in Deutschland schon seit einigen Jahren. Der Konzern hatte nach Polen expandiert und wir machten die Erfahrung: Wenn wir in Deutschland streiken, verlagert Amazon den Versand über die Grenze und die polnischen Kolleg*innen müssen Überstunden leisten. Daraufhin suchten sie Kontakt zu aktiven Amazon-Beschäftigten in Deutschland und kamen zu einem Treffen nach Bad Hersfeld. Dies kann als Geburtsstunde der AWI gesehen werden. Hervorheben kann man hierbei auch meinen leider zu früh verstorbenen Kollegen Christian Krähling, der von Anfang an versuchte, internationale Netzwerke aufzubauen und beispielsweise Streikkundgebungen in Madrid auf eigene Faust besuchte und Solidaritätslieder für kämpfende Belegschaften auf der ganzen Welt schrieb.
Mit der Zeit wurde unser Netzwerk größer, es kamen Arbeiter*innen aus Frankreich, Italien, Spanien, den USA und der Slowakei hinzu. Die Kolleg*innen kommen dabei aus unterschiedlichen Gewerkschaften. Als AWI wollen wir für jeden Amazon-Arbeiter offen sein. Klar unterliegt die Gruppe Schwankungen, da es immer abhängig von handelnden Personen ist. Aber die halbjährigen Treffen sind stabil mit 30 bis 40 Teilnehmenden aus meist fünf Ländern. Hinzukommen Liveschalten zu Kolleg*innen, die nicht kommen können. Bei unserem letzten Treffen in Poznań konnten so auch Arbeiter*innen aus den USA, Kanada und der Türkei teilnehmen. Wir freuen uns darauf, beim kommenden Treffen in Genf die direkten Kontakte zu Kolleg*innen aus Nordamerika und dem globalen Süden ausbauen zu können. Denn die AWI ist immer bestrebt, neue Kontakte in weitere Länder aufzubauen.
Wie genau läuft die Vernetzung der Beschäftigten über die AWI, und wie konkret unterstützt ihr euch gegenseitig?
Die AWI trifft sich regelmäßig alle sechs Monate. Für die Zeit dazwischen hat die Gruppe ein Komitee gewählt, dessen Mitglieder sich regelmäßig per Videokonferenz austauschen. Das Komitee plant auch die AWI-Treffen zusammen mit Arbeiter*innen aus dem jeweils gastgebenden Land.
Auf den Treffen findet vor allem ein Informationsaustausch statt. Wir berichten uns gegenseitig, was bei Amazon in den verschiedenen Ländern so los ist und welche Strategien der Konzern aktuell anwendet. Auch wenn sich die rechtliche Lage zwischen den Ländern unterscheidet, geht Amazon eigentlich immer mit ähnlichen Strategien gegen Gewerkschaften vor.
Wir planen auch gemeinsame Aktionen, deren Umsetzung aber immer von den lokalen Gruppen abhängt. So gab es dieses Jahr ein gemeinsames AWI-Flugblatt zum Black Friday.
Sehr wichtig ist aber auch die zwischenmenschliche Ebene auf diesen Treffen in Pausen oder in den Kneipen Leipzigs, Poznańs oder hier in Bad Hersfeld. Es ist eine Gelegenheit, Arbeiter*innen aus anderen Ländern kennen zu lernen, die auch mehr miteinander verbindet, als dass wir bei Amazon angestellt sind.
Was war der bisher größte Erfolg, den die AWI erreichen konnte, und wo siehst du euer größtes Defizit?
Dies ist schwer zu bestimmen, da materielle Erfolge auf Grund der teilweise miserablen nationalen Arbeitsgesetze oft schwierig sind. Ich empfinde es als unseren größten Erfolg, dass wir überhaupt eine internationale Vernetzung aufgebaut haben, und dass der Austausch stattfindet. Amazon versucht, seine Standorte zueinander in Konkurrenz zu setzen und das Konkurrenzdenken auch innerhalb des Konzerns voranzutreiben. Dass wir dies mit unserem Austausch unterwandern und der Konkurrenz von oben unsere Solidarität von unten entgegensetzen können, ist bereits ein großer Erfolg. Ich kann mich noch zurückerinnern, als die Lager in Polen aufmachten. Die polnischen Kolleg*innen wurden uns von den Vorgesetzten fast als unsere Feinde dargestellt. Aber durch den direkten Austausch mit ihnen erkannten wir, dass sie unsere Kolleg*innen sind, und mit ganz ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Somit funktioniert die Konzernstrategie des gegeneinander Ausspielens der Beschäftigten der verschiedenen Länder nicht mehr.
Wie ist das Verhältnis der AWI zu den Gewerkschaften in den einzelnen Ländern, zu den internationalen gewerkschaftlichen Dachverbänden und zu den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Amazon-Kampagnen wie etwa Make Amazon Pay?
Um das gleich klarzustellen: AWI ist ein Netzwerk, keine eigene Gewerkschaft. Alle Mitglieder sind eingebunden in die jeweiligen Gewerkschaften ihrer Länder. Natürlich haben diese Gewerkschaften teilweise unterschiedliche Auffassung über Organisierungsformen und Strategien, und dies führte in der Vergangenheit auch mal zu Spannungen. Gewerkschaften wie die ver.di haben über UNI Global, einem weltweiten Gewerkschaftsverband, eine Amazon-Vernetzung, an der aber anarchosyndikalistische Gewerkschaften wie die polnische IP (Arbeiterinitiative) oder linksalternative Gewerkschaften wie die Solidaires aus Frankreich nicht teilnehmen. Für uns ver.di-Aktive in der AWI sind jedoch gerade dies die wichtigsten Partner in unserer praktischen Arbeit. Das führt manchmal zu Frustrationen und erschwert die transnationale politische Arbeit. Doch unseren Arbeiter-Aktiven geht es einzig um die Organisierung bei Amazon ̶ und dann muss man halt auch mal Druck ausüben auf die eigene Gewerkschaft, dass eine Zusammenarbeit auch über die traditionellen Dachverbandsgrenzen hinaus stattfindet.
In die Kampagne „MakeAmazonPay“ ist die AWI eingebunden und somit Bestandteil der internationalen Vernetzung. Wir freuen uns über die Aktionen am „Black Friday“, die von den Kollegen von MakeAmazonpay koordiniert werden und finden die zahlreichen Protestformen großartig. Es wird eben deutlich, was oft in den kleinen Kämpfen vor Ort nicht so klar wird: dass wir eine weltweite Bewegung sind. Wir haben auch neue Kollegen aus anderen Ländern im Rahmen des Black Fridays kennen gelernt. Ein paar haben wir auch schon zu dem AWI-Vernetzungstreffen im Januar 2023 im dortigen RLS-Büro nach Genf eingeladen. Allerdings können solche Kampagnen das betriebliche Organisieren nicht ersetzen. Der Kampf gegen Amazon findet nicht nur am Black Friday, sondern das ganze Jahr über statt.
In Deutschland streiken die Amazon-Beschäftigen schon seit zehn Jahren immer wieder für einen angemessenen Tarifvertrag. Dabei konnten einige Erfolge, aber noch kein echter Durchbruch erzielt werden. Was müsste eurer Ansicht nach passieren, damit sich das ändert?
Amazon hat in Europa ein riesiges Netzwerk an Versandlagern aufgebaut. Dadurch schafft es Amazon, die Streikmaßnahmen an einzelnen Warenlagern in Deutschland oder Frankreich durch kurzfristige Verlagerungen zu unterwandern. Um dieser Strategie unsere Solidarität entgegenzusetzen, muss natürlich die Organisierung stärker werden, damit mehr Standorte in den Arbeitskampf einbezogen werden können. Das ist mühselige Kleinstarbeit, aber anders ist es nicht möglich. Unsere Kolleg*innen von der IP fahren gerade alle Amazon Standorte in Polen im Rahmen einer Urabstimmung über einen Streik ab, die demnächst stattfinden soll. In Polen müssen über 50 Prozent der Kolleg*innen bei Amazon landesweit für einen Streik stimmen. Aber auch in Deutschland wächst Amazon immer weiter und es ist schwer hinterherzukommen, auch wenn sich zuletzt mit Dortmund, Achim bei Bremen und Winsen bei Hamburg neue Standorte der Streikbewegung angeschlossen haben.
Das gewerkschaftliche Organizing bei Amazon wird oft zusätzlich erschwert durch die nationalen Arbeitsgesetze. Diese müssten dringend im Interesse der Belegschaften angepasst werden. Ein Beispiel ist das polnische Streikrecht, was mit seinen hohen Hürden für Urabstimmungen Streiks fast unmöglich macht. Wenn man bedenkt, dass bei Amazon in Polen sehr viele als Leiharbeiter*innen tätig sind und auch die Fluktuation sehr groß ist, ist das Erreichen dieser Gesetzesvorgabe wie ein Kampf gegen Windmühlen.
Welche Rolle spielen Organizing-Methoden für die AWI?
Zwar wird auf den Treffen selten konkret über Organizing-Methoden gesprochen, jedoch sind die meisten Teilnehmer*innen Vertreter*innen von Grassroot-Methoden. Selbstorganisierung ist der Ansatz, basisdemokratisch. Wir teilen das Ideal einer Gewerkschaft, in der die Arbeiter*innen weite demokratische Mitbestimmungsrechte auch über die Gewerkschaftsstrategie haben. Das wird in Deutschland bei ver.di von Bezirk zu Bezirk leider sehr unterschiedlich gehandhabt.
Wie jedes Jahr erzielten die internationalen Aktionen der Gewerkschaften zum „Black Friday“ wieder einige Aufmerksamkeit. Was für Aktivitäten habt ihr über den „Black Friday“ hinaus für das nächste Jahr geplant?
Was 2023 an einzelnen Aktivitäten kommen wird, möchte ich hier konkret noch nicht erwähnen. Es wird aber zwei Vernetzungstreffen geben. Neben dem Treffen in Genf wird es in Sered in der Slowakei vom 24. bis 26. März ein weiteres geben, was unsere treuen Kolleg*innen vor Ort organisieren. Und wir wollen auch die »5. Konferenz gewerkschaftliche Erneuerung« der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 12. bis 15. Mai in Bochum wieder für die Vernetzung innerhalb Deutschlands nutzen. Ich bin mir auch sicher, dass es wieder ein AWI-Treffen im Herbst geben wird, auf dem wir auch den nächsten Black Friday vorbereiten werden.