Herr Büyükkarabacak, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem militärisch-industriellen Komplex in der Türkei.  Wie schätzen Sie die Bedeutung des Krieges für das türkische Kapital ein? 

Das türkische Finanzkapital verdankt seine Entstehung weitgehend dem Krieg. In den letzten Jahren des Osmanischen Reiches war die Islamisierung und spätere Türkisierung des Kapitals eine vom Staat konsequent betriebene Politik. Insbesondere nach 1908 erklärte der Staat mit dem Millî İktisat-Programm (dt. Nationale Ökonomie) ausdrücklich die Ersetzung der armenischen und griechischen Handelsbourgeoisie durch die türkisch-muslimische Bourgeoisie zu seinem Hauptziel. In dieser Hinsicht sollte der Völkermord an den Armenier*innen auch als der wichtigste Schritt im Prozess der ursprünglichen Kapitalakkumulation der lokalen Bourgeoisie verstanden werden. Die Privilegien, die der Staat den lokalen Händlern während des Ersten Weltkriegs für die Versorgung der Großstädte mit Lebensmitteln gewährte, schufen wiederum eine muslimische Handelsbourgeoisie, die sich rasch bereicherte. Der Prozess der Islamisierung wurde bis in die 1970er Jahre hinein zum Teil von Pogromen begleitet.

Wie ist die heutige Situation, nach über 20 Jahren Herrschaft der AKP? 

Nach dem arabischen Frühling konnte Erdoğan alle türkischen Kapitalgruppen hinter sich versammeln, die auf billige Energieressourcen hofften. Doch als die Dinge in Syrien und Ägypten nicht wie geplant liefen, hatte Erdoğans hegemoniales Projekt keine Abnehmer mehr. Die von der AKP in dieser Zeit unternommenen Schritte zur Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes schufen jedoch erneut profitable Investitionsmöglichkeiten für viele wichtige Monopolgruppen des Kapitals. Dank des Wachstums in diesem Bereich entstand ein starkes Erfolgsnarrativ für das anatolische Kapital. Die Waffenexporte der Türkei in Höhe von umgerechnet rund 2,9 Milliarden Euro übersteigen zwar ihre Importe um 23 Prozent. Laut dem Stockholm International Peace Research Institute ist die Türkei trotz dessen immer noch der zwölftgrößte Waffenimporteur der Welt. Ab dem Jahr 2021 erreichte das gesamte Geschäftsvolumen der Waffen- und Kriegsindustrie umgerechnet 9,4 Milliarden Euro. Hervorzuheben ist, dass die Ausfuhren im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent und in den letzten 20 Jahren um das Zehnfache gestiegen sind. Somit unterstützt der Anstieg der türkischen Militärausgaben auch den Prozess der Kapitalakkumulation. Die Firmen Turkish Aerospace Industries, Aselsan und Roketsan gehörten 2022 zu den 100 größten Rüstungsunternehmen der Welt. Diese Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes und seiner symbolischen Macht innerhalb des herrschenden Blocks ist ein gefährlicher Trend, der die kriegerische Ausrichtung des türkischen Kapitalismus weiter verstärken wird. 

Wie hoch ist der Anteil des staatlichen Budgets, der heute direkt in den Verteidigungs- und Rüstungssektor fließt?

Nach dem Haushaltsentwurf für 2023 sollen rund 3,2 Billionen Lira (150 Milliarden Euro) Steuern eingenommen werden. Etwa ein Drittel davon wird für Zinszahlungen und Zahlungen für währungsgesicherte Einlagenkonten ausgegeben. Kurz gesagt, eine von drei Lira der Steuern, die der verarmten Bevölkerung abgenommen werden, wird direkt an das Finanzkapital verliehen. Der Anteil der Militärausgaben beträgt hier – wenn man alle damit verbundenen Ausgaben und Mittel unter dem Namen "Verteidigungs- und Sicherheitshaushalt" zusammenfasst – 469 Milliarden Lira [22,8 Milliarden Euro]. Dies sind rund zehn Prozent der Haushaltsausgaben für 2023. Diese Zahl macht deutlich, dass die Türkei eine riesige Kriegsmaschinerie anheizt. Wir sprechen hier von Ausgaben, die fast doppelt so hoch sind wie die der gesamten Sozialhilfe. Es wäre möglich, diese Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft zu nutzen, insbesondere zu einer Zeit, in der die Lebenshaltungskosten und die Armut das Leben für große Teile der Gesellschaft zur Hölle machen. Mit den Militärausgaben könnten 1 800 Schulen mit 24 Klassenräumen und weitere 180 Internate mit 1 000 Betten gebaut werden. 750 Tausend Familien könnten mit einem Einkommen in Höhe des Mindestlohns versorgt werden. 

In welchem Zusammenhang stehen die Kriegskonjunktur und die kurdische Frage? 

Die kurdische Frage in der Türkei ist so alt wie die Republik selbst. Der kurdische Widerstand, der nach 1980 begann, ist ein Ausdruck dieser ungelösten Thematik. Gelöst werden könnte sie durch die Stärkung der lokalen Demokratie und der Rechtsgrundlage für eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft. Doch der Gründungsgeist des türkischen Staates besteht darauf, lokale Demokratie und regionale Autonomisierung als einen Schritt zu betrachten, der unweigerlich zur Fragmentierung des Landes führen würde. In der Kriegskonjunktur, die sich nach 2015 verschärft hat, herrscht in dieser Frage eine große Harmonie zwischen dem Staat und allen Fraktionen der herrschenden Klasse. Selbst in den aktuellen Debatten über die Präsidentschaftskandidatur der Opposition wird ein starker Druck aufgebaut gegenüber dem potenziellen Kandidaten der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu[1]. Da angenommen wird, dass er in der kurdischen Frage nachgeben könnte, versucht man ihn in den Hintergrund zu drängen. Solange die kurdische Frage nicht mit lokalen demokratischen Mitteln und einem stärker dezentralisierten politischen System gelöst wird, ist der Krieg als Mittel unausweichlich. Daher bedeutet das Beharren auf dem Fehlen einer Lösung der Kurdenfrage unweigerlich das Beharren auf Krieg. 

2023 wird in der Türkei der 100. Jahrestag der Republiksgründung gefeiert. Können Sie zusammenfassen, welche Rolle die Streitkräfte bei der Gründung gespielt haben und wie sich diese Rolle im Laufe des letzten Jahrhunderts verändert hat?

Die Armee war damals eine Institution, die der türkischen Bourgeoisie als Quelle für intellektuelle Kader diente. So lässt sich auch die Tatsache erklären, dass die bürgerliche Revolution in der Türkei von Kadern innerhalb der Armee durchgeführt wurde. Nach den 1960er Jahren und dem Betritt der Türkei in die NATO (1952, Anm. d. Red.) fand eine Aussiebung in der Armee und der staatlichen Bürokratie statt. Die Kontrolle über die Streitkräfte lag dann bei einem antikommunistischen, eisernen Kern, was verheerende politische Folgen nach sich zog. Die Möglichkeit, dass einige Flügel der türkischen Armee eine progressive Rolle spielen könnten, ähnlich wie in der portugiesischen Nelkenrevolution, war in den späten 1960er Jahren real. Diese Tendenzen wurden jedoch stark zurückgedrängt. Die Verbindungen zwischen Kapital und Militär wurden nach den 1970er Jahren erneuert, unter anderem durch die Einbeziehung der OYAK (Ordu Yardımlaşma Kurumu, dt. Organisation zur Unterstützung der Armee) [2] in die Prozesse der Kapitalakkumulation. Bis in die 2000er Jahre, als der politische Islam an die Macht kam, konnte die Armee als die bevorzugte politische Partei des Finanzkapitals agieren. Doch mit der Aushöhlung des Kemalismus – der Quelle der ideologischen Hegemonie der Armee – verlor die Armee schrittweise ihre Rolle als autonomer politischer Akteur. Nachdem die AKP im Bündnis mit den Gülenisten 2007 die Vormundschaft der Armee beendete und durch ihre eigene ersetzte, sind wir heute in einer Phase, in der die Armee nicht mehr in der Lage ist, unabhängig zu agieren.

In einem ihrer Vorträge sagten Sie "Kriege schaffen die Voraussetzungen dafür, dass die ideologische Einheit der Arbeiterklasse durch nationalistische Propaganda und Organisation zerrüttet wird". Was heißt das konkret in Bezug auf die Türkei?

Die Erhöhung von Rüstungsausgaben löst keine kapitalistischen Krisen aus, sondern sie verschärft die Verarmung der Menschen. Der Plan und die darauffolgenden Maßnahmen, mit denen die kurdische Bewegung ab 2015 in die Knie gezwungen werden sollten, zielten nicht nur darauf ab, die organisierte Macht des kurdischen Volkes zu beseitigen. Es ging auch darum, die Ausbeutung der Arbeitskraft zu vertiefen und die Profitraten des Kapitals im Allgemeinen zu erhöhen. Die Errichtung des Palast- und Kriegsregimes wurde dem Kapital mit der Begründung beworben, dass "wir Streiks verbieten können, wie wir wollen". Die Schwächung des sozialen Widerstands hat zu einem erheblichen Anstieg des absoluten Mehrwerts geführt. Aus dem schockierenden Rückgang des Anteils der Arbeiterklasse am Nationaleinkommen lässt sich ablesen, dass das Palastregime nicht nur Krieg gegen die Kurd*innen führt. Der Anteil der saisonbereinigten Arbeitsentgelte sank innerhalb der vergangenen sechs Jahre um 8,2 Prozentpunkte. Es begann während des Ausnahmezustands 2016, als die Gewerkschaftsrechte eingeschränkt wurden. Die realen Durchschnittslöhne sind in den letzten drei Jahren um 3,8 Prozent und im letzten Jahr um 8,8 Prozent gesunken. Das Palastregime ist nicht in der Lage seine subimperialistischen Projekte zu verwirklichen, und sein Zugang zu billigen Ressourcen, die ständig aus dem Ausland kommen, ist begrenzt. Doch das Regime hat es geschafft, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, indem es die Arbeiter*innen durch seine Kriegspolitik noch unorganisierter und widerstandsunfähiger gemacht hat. Die Erhöhung der Kriegsausgaben, der effektive Einsatz des staatlichen Zwangsapparates gegen die Gesellschaft und die Zentralisierung der Exekutivgewalt führen also nicht zwangsläufig zu kapitalistischen Krisen, aber der Kapitalismus muss nicht in die Krise geraten, damit das Leben der Werktätigen zur Hölle wird. Für die Werktätigen bedeutet die kapitalistische Ordnung eine ständige Depression und Zerstörung. Daraus wird ersichtlich, dass es für die Arbeitnehmer*innen auch eine Frage des Brotes ist, sich gegen die Kriegspolitik zu wehren.

Um welche Forderungen sollte eine Friedensbewegung in der Türkei aufgebaut werden?

Eine Friedensbewegung, die die täglichen Probleme der Menschen stärker mit dem Militarismus in Verbindung bringt, wäre sehr sinnvoll. Aktuell gibt es keine solche Bewegung in gesellschaftlich einflussreicher Stärke. Bemühungen kommen von der HDP und den Sozialisten, die sich im Parlament gegen Kriegsresolutionen aussprechen. In der Atmosphäre, die durch die wirtschaftliche Depression und Verarmung und insbesondere durch das jüngste Erdbeben entstanden ist, hat die Kriegstreiberei der Regierung jedoch immer weniger Adressat*innen. Wenn es der Arbeiterklasse gelingt, den Herrschenden die Karte des Nationalismus und der Kurdenfeindlichkeit mit einer starken Antikriegspolitik aus der Hand zu schlagen, kann sie die Chance auf ein menschlicheres Leben gewinnen.  


Das Gespräch führte Svenja Huck.