Diese Frage lässt sich nicht ohne einen Blick auf die ökonomischen und politischen Vorbedingungen der Ereignisse des letzten Herbsts und die Gründe des Anti-Maidan, der sich Anfang 2014 formierte, beantworten. Die Deutung des Kriegs als einen Kampf von Ost gegen West und die Reduzierung des Konflikts auf die Frage der politischen Assoziierung der Ukraine entweder mit der EU oder der Zollunion verstellen den Blick auf die sozio-ökonomischen Konfliktlinien des Landes. Regionale Interessen spielen zwar eine Rolle – deren Artikulation wird aber von einer nationalen Politik bestimmt, die die bestehenden gesellschaftlichen Gegensätze auf eine kulturelle Dimension reduziert und darüber sozioökonomische Ungleichheiten kaschiert.

Die Vorgeschichte des Assoziierungsabkommens

Die finanzielle Lage der Ukraine sah im Herbst 2013 sehr düster aus. Das Defizit im Staatshaushalt und der Handelsbilanz wuchs stetig an und die Regierung sah sich sehr hohen Zahlungsrückständen gegenüber. Der Druck auf die seit Monaten überbewertete ukrainische Staatswährung Hrywnija nahm zu, eine Kapitalflucht setzte ein. Zu diesem Zeitpunkt war nicht absehbar, welche Kompensationsleistungen es vonseiten der EU für die sicheren Handelsverluste geben würde, die ukrainische Produzenten im Zuge einer EU-Assoziierung aufgrund des Imports zollfreier EU-Waren zu erwarten hatten oder wie die Kostensteigerung im Zuge einer Angleichung der Produkte an EU-Standards auszugleichen sei. Zudem forderte der IWF für die Gewährung weiterer Kredite eine Erhöhung der Gaspreise um ca. 40%, was Viktor Janukowitsch wohl die nächste Präsidentschaftswahl gekostet hätte (Paulsen 2014a). Vor diesem Hintergrund – und mit dem nötigen Druck vonseiten der russischen Regierung – setzte Präsident Janukowitsch das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU aus. Stattdessen wurde ein Abkommen mit Russland unterzeichnet, das eine Verbilligung der Gaslieferung, einen Kredit über 15 Milliarden Dollar und eine Vergünstigung für Nachzahlungen von Naftogaz an Gazprom vorsah. Deshalb wird Janukowitsch häufig vorgeworfen, die ukrainischen Interessen an Russland verkauft zu haben. Ohne Zweifel wusste die Janukowitsch-Regierung die auf Günstlingswirtschaft beruhenden staatlichen Strukturen zu nutzen und betrieb einen korrupten Staats- und Wirtschaftsapparat zu seinen Gunsten. Jedoch ist es keineswegs so, dass Janukowitsch ausschließlich Vertreter russischer Interessen war. Er kündigte den von der damaligen Ministerpräsidenten JulijaTymoschenko im Jahr 2009 ausgehandelten, für die ukrainische Wirtschaft fatalen Gas-Deal mit Russland auf, der eine jährliche Abnahme von 45 Milliarden Kubikmetern Gas inklusive einer „take or pay“-Klausel vorsah. In den Jahren 2012 und 2013 reduzierte er die von Russland abgenommene Menge Gas fast um die Hälfte. Darüber hinaus schloss er mit dem britisch-niederländischen Energiekonzern Royal Dutch Shell und dem US-amerikanisch-brasilianischen Konzern Chevron Verträge über die Förderung der ukrainischen Schiefergasvorkommen in Milliardenhöhe ab (siehe Danilijuk in LuXemburg 3/14) und versuchte die ukrainischen Gasquellen zu diversifizieren. Die Regierung Janukowitsch stellte somit ein erhebliches Risiko für die Gewinninteressen Gazproms dar. Gazprom wird als russischer Staatskonzern wahrgenommen, tatsächlich hält der russische Staat jedoch nur 49,99% der Aktien. Mit 27 Prozent der Aktien hat auch die US-amerikanische Großbank The Bank of New York Mellon ein starkes Interesse an der Prosperität des Konzerns – Gazprom ist ein Ost-West-Konzern. Ein Blick auf ihre politischen Entscheidungen der letzten Jahre zeigt, dass die Janukowitsch-Regierung den kleinen Spielraum zu nutzen suchte, den die Ukraine durch ihre Position zwischen der EU und der USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite hatte und der ihr ein begrenztes Handlungspotential ermöglichte.

Der Anti-Maidan als Antwort auf den Maidan

Offiziellen Zahlen zufolge war die Bevölkerung Ende 2013 geteilter Meinung zur Frage der politischen Assoziierung.  Eine zwischen Oktober und November 2013 durchgeführte Umfrage der von US-Aid finanzierten International Foundation for Electoral Systems (Ifes) ergab, dass 37% der Befragten für eine Assoziierung mit der EU votierten und 33% eine Assoziierung mit der von Russland dominierten Zollunion präferierten. 17% gaben an, dass die Ukraine gute Beziehung mit beiden Projekten haben sollte. Im Westen, Norden und in Kiew tendierten die Befragten eher zu pro-EU Positionen und im Osten und Süden des Landes bevorzugten sie überwiegend eine Assoziierung mit Russland (Ifes 2013, 7). Die Proteste, die im November 2013 in Kiew aufgrund der unterlassenen Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der EU ihren Ausgang nahmen, stießen im Osten des Landes auf wenig Gegenliebe (Center for Society Research 2014). Zu Massenprotesten kam es im Donbass erst nach der Absetzung der Janukowitsch-Regierung im Februar 2014. Im Anschluss hieran wurde an der von EU und USA massiv unterstützten Übergangsregierung vehement Kritik geübt. Mit der Besetzung von öffentlichen Gebäuden und dem demonstrativen Schwenken von Fahnen anderer Staaten/Staatengemeinschaften (in diesem Fall der russischen) fanden die Proteste hier eine ähnliche Ausdrucksweise wie im Westen des Landes. Eine Anti-Maidan-Bewegun entstand. Für ein hohes Mobilisierungspotential unter der Bevölkerung im Osten sorgten mehrere Gründe: Der Parlamentsbeschluss, die 2012 eingeführte Sprachenregelung aufzuheben, die es jeder Region ermöglichen sollte neben dem Ukrainischen weitere regionale Amtssprachen einzuführen (der Beschluss trat im Endeffekt jedoch nicht in Kraft); die überproportionale Präsenz der nationalistischen Partei Swoboda in der Übergangsregierung; das Skandieren nationalistischer Slogans der dreißiger und vierziger Jahre auf dem Maidan; die Bilder von zerstörten Lenin-Denkmälern in Städten im Westen des Landen und nicht zuletzt die wirtschaftlichen Folgen des Abkommens für die Ostukraine: ein Blickt auf die Handelsströme der Ukraine, macht die Skepsis der Bevölkerung im Donbass gegenüber der EU-Assoziierung verständlich: Ca. 25% der Exporte der Ukraine gehen jeweils nach Russland und in die EU, jedoch mit dem Unterschied, dass die Ukraine in die EU hauptsächlich nicht verarbeitete Rohstoffe und Halbfertigprodukte verkauft, nach Russland jedoch überwiegend Fertigprodukte und (militärische) Hochtechnologie. Die Wertschöpfung im Handel mit Russland ist also ungemein höher. Eine Assoziierung mit der EU wird aller Voraussicht nach die Wettbewerbsfähigkeit ukrainischer stahl- und hochtechnologieproduzierender Firmen gefährden, die überwiegend im Osten des Landes angesiedelt sind. Die bestehenden asymmetrischen Handelsstrukturen würden zum Vorteil der EU weiter verstärkt. Viele Menschen in den Regionen Donezk und Luhansk hatten Angst, dass ihre Forderungen nicht gehört und ihre Interessen durch die neue Regierung nicht gewahrt würden. Für die aus der ehemaligen sowjetischen industriellen Vorzeigeregion des Donbass stammende Bevölkerung ist die postsowjetische Transformationsphase bis heute eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen und viele Menschen lehnen eine weitere Öffnung der Ukraine gen Westen ab, insofern dies Marktliberalisierung, Austeritätspolitik, Privatisierung und das Dominieren transnationaler Konzerne bedeutet. Im März 2014 entwickelte sich im Donbass eine breite, in sich heterogene Bewegung, die ihren Unwillen mit den Ereignissen im Rest des Landes unterschiedlich und vielfältig begründete. In ihren  Aktionen verwiesen die verschiedenen Bewegungen auf das Vorhandensein rechtsradikaler Kräfte in der Regierung, die drohende Neoliberalisierung des Landes und formulierten den eigenen Wunsch nach mehr Selbstbestimmung. In Donezk gingen zehntausende Menschen auf die Straßen. Manche wollten eine Loslösung von der Ukraine, andere forderten eine Vereinigung mit Russland und viele wären schon mit einem Referendum über eine Föderalisierung und mehr Selbstbestimmung zufrieden gewesen. Der ukrainische Soziologe Volodymyr Ishchenko stellt den dezentralen Graswurzel-Charakter der Protestbewegungen in den Regionen Donezk und Luhansk heraus. Wer die basisdemokratische Selbstorganisation der Maidan-Proteste lobe, müsse erst recht die dezentrale, netzwerkartige Struktur der Proteste im Osten anerkennen, bei denen weder die „Partei der Regionen“ noch die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) eine annähernd so wichtige Rolle gespielt hatten wie die drei ehemaligen Oppositionsparteien für die Maidan-Proteste. Der Versuch der Kiewer Zentralregierung, die Proteste gewaltsam zu unterbinden, und die sich hieran anschließende sogenannte Anti-Terror-Operation sowie das Einsickern bewaffneter Kämpfer aus Russland führten jedoch bereits Anfang April zu einer Polarisierung und Militarisierung des Konflikts. Viele Menschen sahen sich einer Kriegssituation gegenüber, in der sie sich entweder in ihren Kellern verkriechen, aus ihrer Heimat fliehen bzw. als dritte Option sich selbst auf eine der beiden Seiten schlagen und kämpfen mussten.

Das Spiel mit den Ängsten und die Konstruktion von Feindbildern

Wie lässt es sich nun erklären, dass im Westen des Landes nationalistische Tendenzen gesellschaftlicher Konsens wurden und der Krieg gegen die Bevölkerung im Osten von Vielen als adäquate Problemlösung angesehen wird? Dies ist zum einen der konfrontativen Strategie der Regierungen in Kiew, Berlin, Washington und Moskau geschuldet, von denen eine jede gekonnt mit den Ängsten aller Beteiligten spielt. Von der Kiewer Regierung, sowie von den Regierungen der baltischen Staaten, Polens, der deutschen Bundesregierung[1] und der USA wird das Bild eines totalitären russischen Staatsmannes gezeichnet, der der Ukraine die Eigenständigkeit abspricht und seine Expansionsgelüste nach Westen auslebt um ein verlorengegangenes Reich wieder aufzubauen. Die Reduzierung des Problems auf eine Person (Putin) suggeriert, dass wir es mit der Tat eines Einzeltäters zu tun haben und legitimiert somit die Gegenposition. Auf russischer Seite funktioniert die Propaganda ähnlich. Nach der Einsetzung der Übergangsregierung, in welcher keine Repräsentanten der Ostukraine vertreten waren und die ganz offensichtlich die Interessen Berlins und Washingtons vertrat, wurde von Seiten Moskaus die  Angst der Bevölkerung Russlands und der überwiegend russischsprachigen Bevölkerung im Osten der Ukraine vor den Faschisten dazu genutzt, um die eigene Stellung als Schutzmacht zu untermauern und sich das Interventionsrecht vorzubehalten. Die Instrumentalisierung und Reproduktion dieser Ängste hat seit der ukrainischen Unabhängigkeit, vor allem aber seit der Präsidentschaft Juschtschenkos Tradition. Die letzten Jahre von Juschtschenkos Präsidentschaft waren durch eine starke Fokussierung auf die Erinnerungspolitik geprägt. Mit ihr sollte die Hungersnot in der Ukraine (Holodomor) in den Jahren 1932/33 als sowjetischer Genozid an ethnischen Ukrainern gedeutet und juristisch festgelegt werden. Gleichzeitig wurden Führungspersönlichkeiten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) wie Stephan Bandera oder Roman Shukhevych, Offizier der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), die zur Zeit der Besatzung der deutschen Nationalsozialisten in der Ukraine mit den NS-Gruppen kollaborierten und an Genoziden gegen die polnische und jüdische Bevölkerung beteiligt waren, nun als ukrainische Freiheitskämpfer gefeiert. Diese Geschichtedeutung sollte Juschtschenkos Mitte-Rechts-Koalition stützen und gleichzeitig alle politischen Akteure diskreditieren, die sich positiv auf das sowjetische Erbe bezogen. Auf Seiten der „Partei der Regionen“ und der KPU ließen sich ähnliche Mechanismen finden. Fernsehsender, die in der Einflusssphäre hoher Parteifunktionäre der „Partei der Regionen“  standen, beispielsweise von Rinat Akhmetov oder Valery Koroshkovsky, räumten der nationalistischen Partei Swoboda im Vorfeld der Wahlen im Jahr 2010 überproportional viel Sendezeit ein. Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass hiermit die großen Parteien im Westen des Landes geschwächt und die eigene Anhängerschaft gegen ein klares Feindbild mobilisiert werden sollte Umland 2011). Weitergehende Vermutungen, die auf eine direkte Finanzierung von Swoboda durch die „Partei der Regionen“ zielen, scheinen plausibel (Paulsen 2014b). 

Identitäre Umdeutungen der sozialen Frage und Perspektiven für die Linken

Statistiken über das Protestverhalten in der Ukraine vor dem Beginn der Maidan-Proteste im Herbst 2013 zeigen ähnliche Interessen in verschiedenen Teilen der ukrainischen Bevölkerung. Sozio-ökonomische Themen standen im Zentrum der meisten Demonstrationen in allen Landesteilen und die überwiegende Zahl richtete sich gegen die steigenden Lebensmittelpreise (58%), die kommunale Abgabe auf Wohnhäuser (54%), Arbeitslosigkeit (34%), Lohn- und Pensionsrückstande (32%), Korruption (27%) und Kriminalität (20%) (siehe auch Ifes 2013,7). Die Themen mit der geringsten Priorität waren der Studie zufolge die Kooperation mit der EU, der Nato, Konflikte zwischen religiösen Gruppen und territoriale Ansprüche benachbarten Länder, welche sich gegenüber allesamt im niedrigen einstelligen Prozentbereich bewegten (KIIS 2012). Eine weitere Studie zeigt, dass in den Jahren 2009 und 2010, 56% der Proteste sozioökonomischen Themen galten, 15% sich auf die staatsbürgerlichen Rechte, 18% auf die Identitätspolitik[2] und 11% auf konkrete politische Akteure bezogen (Ishchenko 2011, 374). Die Studien zeigen außerdem, dass die sozioökonomischen Proteste hauptsächlich von informellen und Betroffenengruppen organisiert, jedoch weniger von institutionalisierten politischen Akteuren gefördert wurden und auch geringere mediale Aufmerksamkeit erhielten. So spielten sozioökonomische Gründe nur bei 20% der von Parteien organisierten Proteste eine Rolle, wohingegen Identitätspolitik doppelt so häufig in den Veranstaltungen dieser institutionalisierten Akteure vorkam wie im Durchschnitt. Die großen Parteien und Medienanstalten konzentrierten sich also bereits im Vorfeld des Konflikts in hohem Maße auf die Fragen der Erinnerungs- und Identitätspolitik und nutzten diese als Mobilisierungsthemen für die eigene Anhängerschaft (Ishchenko 2011, 374). Mit Beginn der Maidan-Proteste verschob sich die thematische Ausrichtung der Proteste grundlegend: Sozioökonomische Themen spielten nur noch in 7% der Proteste eine Rolle, wohingegen die Identitätspolitik (37%), die Frage staatsbürgerlicher Rechte (52%) und die Politik bestimmter Parteien (67%) stärker in den Fokus gerieten. Dieser Trend hin zu nationalen Themen und kulturalistischen Ansätzen bestätigt sich auch in den Zahlen über das Protestverhalten im August 2014. Zu dieser Zeit nehmen Fragen der Identitätspolitik bereits 54% der Protestaktivität ein. (Center for Social and Labor research 2014, 7) Die diskutierten Zahlen zeigen, dass die unterlassene Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen im Herbst letzten Jahres zwar einen wichtigen Mobilisierungsfaktor für die Proteste darstellte, die Unzufriedenheit mit den sozialen Umständen jedoch als Hauptgrund für die Ablehnung der Janukowitsch- Regierung gesehen werden muss. Die Umbruchsituation, die im Anschluss an die Demonstrationen entstand, wurde von Unsicherheiten über den weiteren gesellschaftlichen Verlauf begleitet. Viele Menschen hatten Angst, nicht gehört und übergangen zu werden und somit eine historische Chance auf eine Veränderung in ihrem Sinne zu verpassen. Zu diesen Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängsten kamen unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie eine gesellschaftliche Veränderung aussehen sollte. Diese waren sowohl von der jeweiligen wirtschaftlichen Struktur und Verflechtung der Regionen als auch von unterschiedlichen politisch-ideologischen Bezugsrahmen bestimmt. Die Marginalisierung sozialer Proteste und das Umdeuten des Konfliktpotenzials in Fragen nationaler bzw. kultureller Zugehörigkeit entlang bestehender regionaler Muster half den jahrzehntelang forcierten Stereotypen und Feindbildern in dieser Situation höchster Unsicherheit ihre Wirkmächtigkeit zu entfalten, unterstützte den Diskurswechsel hin zu Fragen der Identitätspolitik und diente als Legitimationsgrund der Zentralregierung für den Krieg im Osten. Die Parlamentswahlen im Oktober geben einen Eindruck von dieser Neuausrichtung gesellschaftspolitischer Diskurse im Land: Zwar hat die nationalistische Partei „Swoboda“ den Einzug ins Parlament knapp verpasst und auch Oleg Lyashkos „Radical Party“ bekam mit 8% der Stimmen nicht so viele wie befürchtet. Jedoch bedienten sich Politiker, die gemeinhin dem konservativen bzw. liberalen Lager zugerechnet werden immer stärker nationalistischer Rhetorik um die zunehmend patriotische und nationalistische Wählerschaft zu bedienen. Auch sind einige der neuen Parlamentarier ganz offen Neo-Nazis. So wurde etwa Andrij Biletsky, seines Zeichens Kommandeur des ultranationalistischen „Azov-Bataillons“, mit Unterstützung von Arsenij Jazenjuks Partei „Peoples Front“ in das Kiewer Parlament gewählt. Dagegen sind linke Gruppen weiterhin marginalisiert. Einige politische Aktivisten mussten sogar ins Ausland fliehen. In einer immer stärker nationalistisch aufgeheizten Stimmung sinkt das Mobilisierungspotential für linke Gruppen, wird es immer komplizierter sozialen Protest überhaupt zu artikulieren. Denn er wird von seinen Gegnern anders codiert, etwa wenn Ministerpräsident Jazenjuk betont, Proteste seien als ukrainefeindlich und pro-russisch anzusehen. Hinzu kommt der fortdauernde Krieg im Osten des Landes, bei dem Menschen um ihr Überleben fürchten müssen und an politische Arbeit kaum zu denken ist. Nichtsdestotrotz plant derzeit eine Gruppe junger Aktivisten die Gründung einer sozialistischen Partei mit dem Ziel, linke politische Gruppen und Gewerkschaften zusammenzubringen in der Hoffnung auf lange Sicht eine politisch relevante Kraft zu werden und die marginalisierten sozioökonomischen Fragen wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Denn Massenproteste sind in der Ukraine weiterhin denkbar bzw. werden immer wahrscheinlicher, wenn sich die soziale Situation der Bevölkerung aufgrund des Krieges, der schwachen ukrainischen Wirtschaft und der von EU und IWF diktierten Austeritätspolitik weiter verschlechtert.