Als hilfreich in dieser tiefen Krisensituation erwies sich allerdings eine weitere Quelle gewerkschaftlichen Einflusses: die institutionellen Machtressourcen durch die gesicherte gewerkschaftliche Mitwirkung in den sozialpolitischen Institutionen. Hierzu zählen die Gremien der staatlichen Rechtsetzung beim Bundesarbeitsministerium (BMAS) ebenso wie die Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaften, in denen unter gewerkschaftlicher Mitwirkung Regelungen zum Gesundheits- und Infektionsschutz vor dem Corona-Virus erarbeitet wurden.
Arbeitsschutzstandards in der Pandemie sichern
Vom BMAS wurde im April 2020 ein einheitlicher Arbeitsschutzstandard SARS-CoV-2 vorgelegt, der Regelungen und Maßnahmen für die Betriebe definiert. Auf dieser Basis haben dann die Berufsgenossenschaften weitere branchenspezifische Regelungen erarbeitet. Die gewerkschaftlichen Handlungshilfen haben dies konkretisiert.
Im staatlichen Ausschuss für biologische Arbeitsstoffe wurde das Corona-Virus in die Risikogruppe 3 („Biostoffe, die eine schwere Krankheit beim Menschen hervorrufen und eine ernste Gefahr für Beschäftigte darstellen können; die Gefahr einer Verbreitung in der Bevölkerung kann bestehen“) eingestuft. In Kombination mit weiteren staatlichen Regelungen der Arbeitsstättenverordnung, der Betriebssicherheitsverordnung, des Ausschusses für Arbeitsmedizin usw. sind diese Vorgaben Messlatte für die betriebliche Umsetzung. In all diesen Gremien sind die Gewerkschaften an der Rechtsetzung beteiligt. Das bedeutet, dass verbindliche Regeln erarbeitet werden, die die staatlichen Arbeitsschutzverordnungen konkretisieren. Dies kann durchaus als eine institutionelle Machtressource für die Gewerkschaften gewertet werden, da in dieser tiefen Krisen- und Verunsicherungssituation auf dieser Basis schon im April 2020 erste Orientierungspunkte für die betriebliche Praxis geschaffen werden konnten.
Der Arbeitsschutzstandard SARS-CoV-2 vom April hatte rechtlich eher einen Empfehlungscharakter, allerdings mit starker Wirkung. In der Fortsetzung sind weitere Arbeiten an einer Corona-Regel verfolgt worden, die einen ausdrücklichen Verpflichtungsgrad besitzen soll. Auch daran haben die Gewerkschaften mitgewirkt. In gemeinsamer Abstimmung durch die staatlichen Arbeitsschutzausschüsse im Geschäftsbereich des BMAS sollte bis Ende Juli 2020 die SARS-CoV-2 Arbeitsschutz-Regel verabschiedet werden. Mit der SARS-CoV-2-Arbeitsschutz-Regel wird der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard des BMAS vom April in geeigneter Weise konkretisiert und der Praxis für den Zeitraum der epidemischen Lage von nationaler Tragweite gemäß § 5 Infektionsschutzgesetz zur Verfügung gestellt. Auch wenn sich der Abstimmungsprozess aufgrund der Blockadehaltung der Unternehmerverbände sehr konfliktreich entwickelte, gibt es die berechtigte Hoffnung, dass ein verbindlicher Rahmen für den Gesundheitsschutz an allen Arbeitsstätten, einschließlich dem Homeoffice als Form mobiler Arbeit, verankert werden kann. Eine Veröffentlichung und damit Inkraftsetzung ist im August 2020 geplant. Für die Gewerkschaften und die Interessenvertretungen wäre ein positives Ergebnis eine außerordentlich hilfreiche Handlungsbasis.
Die für Arbeitsschützer und Betriebsräte neue Situation besteht darin, dass das Herzstück des Arbeitsschutzgesetzes – nämlich die verpflichtende Gefährdungsbeurteilung – aktuell nicht überall im Mittelpunkt stehen muss, da eine Gefährdung durch Covid-19 außer Frage steht. Allerdings sind ohne eine Gefährdungsbeurteilung die möglichen neuen Risiken einer Veränderung der Arbeitsorganisation nur unzureichend einzuschätzen. Gleichzeitig wird auch deutlich, wie mangelhaft solche Gefährdungsbeurteilungen insgesamt umgesetzt sind. Aber angesichts des Infektionsrisikos sind unmittelbare Maßnahmen entscheidend. Und hier gilt das TOP-Prinzip mit seiner Rangfolge: Technische Maßnahmen stehen unbedingt vor organisatorischen, gefolgt von personenbezogenen. Konkret bedeutet das: Technische Maßnahmen wie zum Beispiel die Installation von Trennwänden, um den geforderten Mindestabstand von 1,5 Meter zu gewährleisten, können ebenso wie größere Raumflächen zum erforderlichen Schutz beitragen. Zu organisatorischen Maßnahmen gehören eine Veränderung der Arbeitsabläufe, um das Einhalten von Sicherheitsabständen zu sichern, oder die Berücksichtigung zusätzlicher Zeitfenster, um regelmäßiges Händewaschen zu ermöglichen. Personenbezogene Schutzmaßnahmen sind eine Ergänzung, so zum Beispiel das Tragen von Schutzmasken. Hier ergeben sich Auseinandersetzungen, da aus Unternehmersicht die Verteilung von Schutzmasken kostengünstiger ist als aufwendige technische Maßnahmen oder aber die Veränderung der Arbeitsorganisation, um die Beschäftigten zu schützen. Solche arbeitswissenschaftlich abgesicherten Standards werden von den Arbeitgeberverbänden auch in der Corona-Krise attackiert. Es kündigen sich hier schon für die kommenden Monate harte Konflikte an.
Ein schwerwiegendes Defizit, das sich in der Krise noch einmal verschärft hat, sind die fehlende Kontrolle und mangelhafte Unterstützung durch die Arbeitsschutzverwaltung. Die föderal strukturierten Arbeitsschutzkapazitäten sind schon seit Langem heruntergefahren worden und widersprechen allen ILO-Vorgaben (vgl. Kohte 2015, 170 ff.). Eine effektive Kontrolle findet nicht mehr statt. Hinzu kommt, dass auf dem Höhepunkt der Corona-Krise für die Beschäftigten sowohl der staatlichen wie der berufsgenossenschaftlichen Aufsichtsdienste Homeoffice angesagt war und eine betriebliche Aufsicht vollständig ausfiel. Diese Situation grenzt an Staatsversagen, da die Vorgaben des Arbeitsschutzgesetzes seit Langem nicht mehr kontrolliert werden. Schon vor der Corona-Krise hat eine internationale Vergleichsuntersuchung konstatiert, dass Deutschland bei der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen von 33 europäischen Staaten auf Platz zehn liegt (EU-OSHA 2019). Wenn Corona einen erhöhten Gesundheitsschutz verlangt, dann besteht noch ein enormer Verbesserungsbedarf – auf allen Ebenen.
Es drohen neue Angriffe
Dies gilt erst recht mit Blick auf die nahe Zukunft. Wenn für die erste Phase der Pandemie bei den Unternehmern aus Angst vor dem Infektionsrisiko und einer möglichen Stilllegung des Betriebs weitgehende Kooperationsbereitschaft im Gesundheitsschutz erkennbar war, so droht für die nächste Phase eher eine Konfliktverschärfung. In den Vordergrund rücken für die Unternehmer nach der großen Ausfallphase eine radikale Erhöhung aller Produktivitätspotenziale und damit aus ihrer Sicht die Abwehr aller regulativen Behinderungen. Da im Herbst 2020 möglicherweise eine dramatische Welle von Insolvenzen und damit ein Anstieg der Arbeitslosigkeit drohen, verschärfen sich die Rahmenbedingungen. Der schon in den Frühsommermonaten beginnende Druck auf arbeitspolitische Standards wird zur großen Herausforderung.
Noch bevor die akute Phase der Corona-Krise bewältigt war, legte Gesamtmetall – der Dachverband der Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie – im Mai 2020 eine Wunschliste für das Wiederhochfahren der Wirtschaft und die Zeit danach vor (vgl. Gesamtmetall 2020). Gefordert wird zunächst ein „Belastungsmoratorium“. Doch dahinter verbirgt sich eine Kampfansage an den Sozialstaat. Für nahezu alle Bereiche der Arbeits- und Sozialverfassung werden tief greifende Einschnitte gefordert. Und das in einer wirtschaftlichen Jahrhundertkrise, in der nicht weniger, sondern mehr soziale Sicherheit das Gebot der Stunde ist. Gefordert wird ein Sozialabbau in historischer Dimension: Ausweitung der Möglichkeit von Befristungen, einseitige Flexibilisierung der Arbeitszeit, Aufweichung der Mindestlohnregelungen, Rücknahme der Rente ab 63 und der Mütterrente I und II, Verzicht auf die umkämpfte Grundrente, Abschaffung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung. Die Liste ist lang und kaum ein Bereich der Sozialpolitik bleibt verschont. Hans-Jürgen Urban (2020a), geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, bezeichnet dies als ein „aggressives Kahlschlagkonzept“: “Gesamtmetall geht mit einer sozialen Kälte und sozialpolitischen Aggressivität vor, die ihresgleichen sucht.”
Kontraproduktiv und im direkten Widerspruch zur geplanten SARS-CoV-2-Arbeitsschutz-Regel sind auch die Vorschläge zum Gesundheitsschutz. Die gesetzlich fixierte Rangfolge (TOP-Prinzip) von technischen, organisatorischen und persönlichen Schutzmaßnahmen in den Betrieben wird infrage gestellt. Stattdessen fordert Gesamtmetall „große Spielräume bei der Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen“. Statt sich angesichts der Infektionsgefahren für die Belegschaften für einen erweiterten Gesundheitsschutz zu engagieren, sollen bewährte Standards wie zum Beispiel das erläuterte TOP-Prinzip außer Kraft gesetzt werden. Wörtlich heißt es: „Eine übertriebene Gründlichkeit oder Perfektionismus dürfen nicht im Vordergrund stehen, schließlich sind Industriebetriebe weder Labore noch Krankenhäuser.“ (Gesamtmetall 2020)