In den letzten Jahren ist immer öfter von reproduktiver Gerechtigkeit die Rede, wenn es um soziale Ungleichheit im Zusammenhang mit Kinderbekommen geht. Das Konzept der Reproductive Justice wurde 1994 von Schwarzen Feministinnen in den USA entwickelt und ist inzwischen weltweit ein Bezugsrahmen für feministische Bewegungen, die Fragen von Mutter- beziehungsweise Elternschaft herrschafts- und machtkritisch angehen wollen.

So beziehen sich etwa Schwarze Feminist*innen in Brasilien auf das Konzept, um Themen wie Polizeigewalt, Müttersterblichkeit oder eugenische Langzeitverhütungsprogramme stärker in Bündnisse zu reproduktiven Rechten einzubringen.1 Auch hierzulande gibt es zarte Anfänge: Diskussionsrunden, Netzwerkaktivitäten und Publikationen befassen sich damit, inwiefern dieser politisch-theoretische Zugang neue Allianzen und Programmatiken ermöglicht. Der Anspruch ist, eine Vielstimmigkeit und diverse Bündnisse zu ermöglichen, sich jedoch gegen eine einfache Aneignung oder Verwässerung des Konzepts durch einen hegemonialen Feminismus zu wenden. Das Konzept verschiebt entscheidende Koordinaten feministischer Kämpfe und grenzt sich von einem Pro-Choice-Feminismus ab, der dazu tendiert, reproduktive Selbstbestimmung zu individualisieren, zu entkontextualisieren, zu verrechtlichen und damit auch zu entschärfen (vgl. Schurian 2019).

Kurze Geschichte(n) des Konzepts

Reproduktive Gerechtigkeit zielt auf strukturelle Macht- und Gewaltverhältnisse und hinterfragt, welche Rolle sie dabei spielen, sich für oder gegen Kinder entscheiden zu können. In diesem Zusammenhang wird gefragt, welche Mutter- beziehungsweise Elternschaften und welche Formen des ­(familiären) Zusammenlebens gesellschaftlich befürwortet und gefördert oder eben ­abgewertet und teils sogar unmöglich gemacht werden. Es geht darum, die Erfahrungen von gesellschaftlichen Gruppen herauszustellen, deren (potenzielle) Mutter- oder Elternschaft gesellschaftlich als illegitim, unnormal oder sogar als gefährlich gefasst und diszipliniert wird. Auch die Frage, welche Kinder gesellschaftlich erwünscht sind und welche lieber nicht geboren werden sollen, gehört dazu. Vertreter*innen dieser Perspektive streiten allerdings in gleichem Maße für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und verweisen auf die Lebensbedingungen, die einen Zugang dazu beeinflussen. Vier Forderungen stecken den theoretisch-politischen ­Rahmen ab: erstens das Recht, sich gegen das Kinderbekommen entscheiden zu können; zweitens das Recht, sich für ein Kind oder Kinder entscheiden zu können; drittens das Recht, Kinder unter guten Bedingungen und frei von Gewalt aufziehen zu können; und viertens das Recht auf sexuelle Selbst­bestimmung.

Dass Rassismus, Behindertenfeindlichkeit und Klassenverhältnisse entscheidend beeinflussen, wie Kinderbekommen sowie Mutter- beziehungsweise Elternschaft organisiert sind, und dass heteronormative Geschlechterverhältnisse nicht unabhängig von diesen Machtverhältnissen zu verstehen sind – darum drehen sich gesellschaftliche Auseinandersetzungen schon weitaus länger. Erinnert sei etwa an die Widerstandsbewegungen gegen internationale Bevölkerungsprogramme im globalen Süden oder an behindertenpolitische feministische Bündnisse gegen selektive Pränataldiagnostik. Viele dieser Bewegungsgeschichten lassen sich heute auch als Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit reinterpretieren und neu entdecken. Für Aktivist*innen in den USA reicht die Geschichte des Widerstands gegen reproduktive Ungerechtigkeiten bis in Zeiten der Versklavung zurück. Auf einer Veranstaltung zu dem Band »Mehr als Selbstbestimmung – Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit« (2021) erklärte Vanessa Thompson, eine der Herausgeber*innen: »Die meisten Kinder wurden schon in einem sehr frühen Alter an andere Plantagenbesitzer verkauft. Gleichzeitig haben Schwarze Frauen eigenständig Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, die in der Plantagenökonomie strikt unter Strafe standen. Auch Kindstötungen, um Kindern die Sklaverei zu ersparen, lesen Schwarze Feministinnen als Widerstand gegen reproduktive Ungerechtigkeit und Ausbeutung.« Auch gegenwärtig werde »die Perspektive reproduktiver Gerechtigkeit in den Zusammenhang mit der Geschichte der Sterilisierung Schwarzer Frauen, der Pathologisierung Schwarzer Familien sowie der Tötung und Einsperrung Schwarzer Kinder und Jugendlicher durch Polizei- und Gefängnissysteme gestellt«.

Institutionalisierte Ungerechtigkeiten ausloten

Wie aber lässt sich reproduktive Gerechtigkeit im deutschen Kontext interpretieren und welche Erfahrungen und Widerständigkeiten könnten dadurch sichtbar(er) gemacht und zusammengedacht werden? Aktivistische Theoretiker*innen und theoretisierende Aktivist*innen befassen sich mit den spezifischen institutionellen Bedingungen deutscher Sozial-, Familien-, Gesundheits-, Behinderten- oder Migrationspolitik: »Das Gesundheits- und Sozialsystem ist in Deutschland zwar um einiges besser ausgebaut und für breitere Teile der Gesellschaft zugänglich, als es in den USA der Fall ist«, so etwa Anthea Kyere (2021, 67) vom Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit.2 »Dennoch sind die vielfach bestehenden Ausschlüsse und Mechanismen der Nicht- und Unterversorgung und eines institutionellen Rassismus maßgeblich für die reproduktive Unterdrückung marginalisierter Communitys.« (Ebd.) Die Berichte, auf die sich Kyere bezieht, reichen von Erfahrungen geflüchteter Frauen mit einer globalen antinatalistischen Politik der Langzeitverhütung (konkret mithilfe von Hormonimplantaten, die den Frauen in Lagern entlang der Fluchtrouten in den Arm eingenäht wurden und deren Entfernung in Deutschland oftmals mit Hürden verbunden ist), mit mangelhafter reproduktiver Gesundheitsversorgung in den Lagern bis zu Ausschlüssen vom Zugang zu Eltern- oder Kindergeld gerade für diejenigen, die am meisten auf diese Transferleistungen angewiesen sind. Die deutsche Familienpolitik, die mit dem Elterngeld besserverdienende Eltern privilegiert und prekarisierte Gruppen leer ausgehen lässt, ist für solche Analysen institutionalisierter reproduktiver Ungerechtigkeit ein emblematisches Beispiel.

Formen marginalisierter Mutter- und Elternschaft

Von Erfahrungen mit abgewerteter Mutter- und Elternschaft berichtet die Frauen*gruppe der Erwerbsloseninitiative BASTA!. Auch in den Arbeitsagenturen gebe es immer wieder diskriminierende Praktiken, etwa wenn Personen mit kleinen Kindern gekündigt wird und dies als ›selbstverschuldet‹ eingeschätzt werde (vgl. Frauen*gruppe BASTA o. D.). Von einer weiteren Gruppe, für die Mutter- beziehungsweise Elternschaft gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, berichtet Ulrike Haase vom Netzwerk behinderter Frauen. Die Problematik reiche von der Sterilisation von Frauen, die als »dauerhaft einwilligungsunfähig« gelten, bis zum Alltag in gynäkologischen Praxen: »In Situationen, in denen Frauen einen Kinderwunsch haben, aber eine Schwangerschaft nicht klappt, ist es für behinderte Frauen besonders schwierig, ein Vertrauensverhältnis zu den Gynäkolog*innen aufzubauen, weil sie im medizinischen Umfeld immer wieder Diskriminierung erleben. Einmal erzählte mir zum Beispiel eine Ärztin auf sehr ehrliche Art und Weise, dass sie total überrascht war, als ein behindertes Paar zu ihr in die Praxis kam und den eigenen Kinderwunsch äußerte, weil das nicht in ihre Vorstellungen von Elternschaft passte. Ihr war ihre eigene Reaktion im Nachhinein unangenehm und am liebsten hätte sie das Paar nochmal von null an neu empfangen, um besser auf sie einzugehen.« (Kitchen Politics 2021, 89) Auch die Rechte von LGBTQI*-Schwangeren, -Gebärenden, -Eltern und -Familien werden auf vielfältige Weise eingeschränkt. Wie umfangreich das Themenspektrum ist, macht etwa das Manifest des Netzwerks Reproduktive Gerechtigkeit Berlin klar (2021). Zudem gibt es in einer Arbeitsgruppe des Gunda-Werner-Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung derzeit einen sehr vielstimmigen informellen Austausch zum Thema.

Spezifisch deutsche Genealogien rassistischer Gewalt

Politische Allianzen reproduktiver Gerechtigkeit stehen aber nicht nur vor der Herausforderung, aktuelle Kämpfe zusammenzuführen. Es gilt auch, die spezifisch deutsche Geschichte rassistischer Diskriminierung und Gewalt aufzuarbeiten und dabei deren Kontinuitäten wie Diskontinuitäten gerecht zu werden. So fordern Isidora Randjelović und Svetlana Kostić vom RomaniPhen e. V. und von IniRromnja, die Geschichte des Genozids, der Eheverbote, der Zwangssterilisationen und des Kindesentzugs, die Sinti*zze und Rom*nja erleiden mussten, als weiterhin präsente Vergangenheit zu thematisieren (vgl. Kostić/Randjelović 2021). Beide sehen das Potenzial des Konzepts der reproduktiven Gerechtigkeit genau darin, diese Fragen aus einer feministischen Perspektive anzugehen. Kostić verweist als angehende Sozialarbeiterin auf einen bevölkerungspolitischen Hintergrund: »Klassenarrogante rassistische Archive des Bevölkerungsdenkens können auch für den Umgang mit Sinti*zze und Rom*nja nachvollzogen werden.« (Ebd.) Loretta Ross, eine der Urheber*innen des Konzepts der reproduktiven Gerechtigkeit, spreche sehr treffend von den »unendlich recycelbaren Mythen der unwürdigen Mutter, die einer fahrlässigen Reproduktion beschuldigt wird, sei es als arme, migrantische, queere, mit Behinderung lebende Frau oder als Frau of Color. Dieses Mythen-Recycling trifft auch auf die historische Erfahrung von Rom*nja und Sinti*zze zu. Die rassistischen Diskurse sind als biologistische, aber auch als soziale Argumentation seit Jahrhunderten aufgebaut worden.« (Ebd.) Insbesondere Projektionen von Promiskuität und schlechter Mutterschaft, so Randjelović, seien zentral für eine bis heute andauernde Diskriminierung. Zudem werde politisch nicht an den schlechten Lebensbedingungen dieser Bevölkerungsgruppe angesetzt, vielmehr würden die Mütter angeschuldigt, wenn sie (weitere) Kinder bekommen.

Kämpfe für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch anders angehen

Der Zugang zu Verhütung und Schwangerschaftsabbruch bleibt eine zentrale Forderung, die gerade 2021 anlässlich des 150. Jahrestags der Einführung des Paragrafen 218 für feministische Allianzen wichtig ist. Während einer Fachkonferenz forderte Jane Wangari von Women in Exile, dass sich feministische Bewegungen hierzu stärker mit sozial ausgegrenzten Communitys solidarisieren. Der Zugang zu Abtreibungsmöglichkeiten sei beispielsweise für geflüchtete Frauen in Aufnahmelagern kompliziert: Es fehle an Informationen, das Thema sei in den Communitys oftmals mit einem Tabu behaftet, sie seien der Willkür der jeweils zuständigen Sozialarbeiter*innen und Ärzt*innen ausgeliefert und sie würden oft an Beratungsstellen verwiesen, die mit konservativen Vorstellungen und moralischen Schuldzuschreibungen arbeiteten. Gleichzeitig, so Wangari, interessierten sich Ärzt*innen kaum für die Kinderwünsche der Frauen, wenn sie etwa wegen Zysten vorschnell die Entfernung der Gebärmutter anordneten. Besonders bitter sei, dass sich viele Frauen Kinder wünschten, die Lebensbedingungen in den Lagern es aber schwierig machten, dies zu realisieren. Geflüchtete Frauen sehen sich insofern mit ambivalenten, insgesamt aber vielfach entmündigenden Haltungen gegenüber ihren reproduktiven Wünschen konfrontiert. Feminist*innen in diskriminierten Communitys führen aufreibende und manchmal auch widersprüchliche Kämpfe: für reproduktive Selbstbestimmung und Frauenrechte in ihrem persönlichen Umfeld sowie gegen die institutionelle Abwertung und Entrechtung von Mutter- beziehungsweise Elternschaft durch die Dominanzgesellschaft.

Was reproduktive Gerechtigkeit für die Kämpfe gegen den Paragrafen 218 bedeutet, kann auch mit Blick auf Argentinien diskutiert werden: Dort ist es der »grünen Welle« gelungen, den kostenlosen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen für alle, auch für Frauen ohne Aufenthaltsstatus, ins Gesetz zu schreiben. Die Aufmerksamkeit für diskreditierte Mutter- beziehungsweise Elternschaften lenkt den Blick zudem auf Fragen, die in klassischen Pro-Choice-Debatten eher ausgeblendet werden: Inwiefern passt ein Schwangerschaftsabbruch manchmal gut zu Sichtweisen in der Dominanzgesellschaft, die bestimmte Frauen eher vom Gebären abhalten möchten? Wann ist die Entscheidung für einen Abbruch den prekären Lebensbedingungen geschuldet? Um mit solch heiklen Fragen sensibel umzugehen, braucht es parteiische Initiativen wie zum Beispiel Space2grow in Berlin. Das Projekt bietet eine Peer-to-peer-Beratung von und für geflüchtete und migrierte Frauen zu reproduktiver Gesundheit an; seine Fortführung ist derzeit finanziell gefährdet.3

Storytelling und gegenseitige Bezugnahmen als ein Anfang

Die Herausforderungen für eine Politik der reproduktiven Gerechtigkeit sind also umfangreich: Die Politikfelder sind vielfältig, die Geschichte(n) bitter und tief verwurzelt. Und die Frage, was der Kampf für das Recht auf Mutter- und Elternschaft für eine feministische Familienpolitik heißt, ist noch kaum bearbeitet.

Laut Loretta Ross (2021) ist es notwendig, die Perspektiven marginalisierter Communitys sichtbar zu machen und die Geschichte des Konzepts der reproduktiven Gerechtigkeit etwa auch im Schwarzen Feminismus zu würdigen. Gleichzeitig sei das Konzept ein offener und antiessenzialistischer Rahmen für intersektionale Kämpfe. Ein erster Schritt in diese Richtung liegt für Constanze Schwärzer-Dutta vom Berliner Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit im Erzählen und Zuhören. »Denn diejenigen, die am meisten von reproduktiver Unterdrückung betroffen sind, wissen auch am meisten darüber, welche Politikfelder das betrifft und wie diese in ihrem Alltag ineinandergreifen […]. Sie haben Erfahrungen damit gemacht, was Ross mit dem Satz ›Imperien brauchen Körper‹ beschreibt. Denn diese Imperien sind darauf angewiesen, die Reproduktion […] zu regulieren. Im öffentlichen Raum fangen wir dieses Storytelling gerade erst an. Im Privaten und in den Community-Strukturen findet es teilweise schon lange statt. Allerdings gibt es diese Angst in Deutschland: vor den Behörden, dem Jugendamt, die Angst vor dem üblichen victim blaming, vor den unendlich recycelten Mythen, sei es auf Spielplätzen oder in politischen Diskursen. Dennoch: Wir brechen das Schweigen zunehmend« (Schwärzer-Dutta 2021).

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