Auf dem Gründungsparteitag der KPD am 31. Dezember 1918 hielt Rosa Luxemburg die letzte öffentliche Rede ihres Lebens. Das Parteiprogramm begründend rief sie: »Nun, Parteigenossen, heute erleben wir den Moment, wo wir sagen können: Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner.« (Luxemburg 1918a, 494) Sie machte aber auch deutlich, welcher Marx gemeint war – nämlich der von 1848 und nicht jener Marx, dessen Vorstellungen zur Grundlage der Strategie der SPD in den 1880er und 1890er Jahren geworden war. Beide unterschieden sich ihrer Ansicht nach hinsichtlich des Verhältnisses von kurz- und langfristigen Zielen.
Die Programmatik der KPD war für Luxemburg das bewusste Zurück zu einer Strategie, in der revolutionäres Ziel und der Kampf um konkrete Reformen nicht mehr getrennt wären:
»Wenn wir heute in unserem Programm erklären: Die unmittelbare Aufgabe des Proletariats ist keine andere, als – in wenigen Worten zusammengefasst – den Sozialismus zur Wahrheit und Tat zu machen und den Kapitalismus mit Stumpf und Stiel auszurotten, so stellen wir uns auf den Boden, auf dem Marx und Engels 1848 standen und von dem sie prinzipiell nie abgewichen waren. Jetzt zeigt sich, was wahrer Marxismus ist und was dieser Ersatz-Marxismus war, der sich als offizieller Marxismus in der deutschen Sozialdemokratie so lange breitmachte.« (Ebd.)
In diesem »Ersatz-Marxismus« werde das sozialistische Ziel zwar in der Ferne beschworen, im Alltag konzentriere er sich aber auf eine durch und durch verbürgerlichte Reformpolitik. Der Geist des »wahren Marxismus«, auf den sich Luxemburg im Dezember 1918 berief, bestehe hingegen darin, »die große Idee des sozialistischen Endziels in die Scheidemünze der Tagespolitik umzuwechseln und die politische Kleinarbeit des Alltags zum ausführenden Werkzeug der großen Idee zu erheben«. In dieser Formulierung von 1903 fügte sie hinzu:
»Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.« (Luxemburg 1903, 373)
Engels taktisches Programm
Die von der SPD spätestens seit dem Vereinigungsparteitag von »Lassalleanern« und »Eisenachern« 1875 verfolgte und mit dem Erfurter Programm von 1891 zur offiziellen Position der Partei erklärte Strategie versuchte hingegen, Nah- und Fernziel unter den Bedingungen einer relativ stabilen nichtrevolutionären Situation in Europa miteinander zu verbinden. Strategisch wurde dies erstmals 1880 auf den Punkt gebracht, als Marx gemeinsam mit Engels und den Führern der neugegründeten Französischen Arbeiterpartei, Jules Guesde und Paul Lafargue, einen Entwurf erarbeitete, in dem Maximal- und Minimalprogramm unterschieden wurden. Das Maximalprogramm beschrieb »die Rückkehr aller Produktionsmittel in Kollektiveigentum« (Marx 1880, 238). Das Minimalprogramm konzentrierte sich auf die Forderungen nach allgemeinen demokratischen und sozialen Reformen innerhalb der gegebenen bürgerlichen Gesellschaft und sollte der Vorbereitung auf die Machtübernahme dienen. Die Arbeiterbewegung müsse für die Erreichung des kommunistischen Ziels alle Mittel nutzen. Das allgemeine Wahlrecht beispielsweise müsse »aus einem Instrument des Betrugs, das es bisher gewesen ist, in ein Instrument der Emanzipation umgewandelt« (ebd.) werden.
Diese von Luxemburg als »taktisches Programm von Engels« bezeichneten Überlegungen zu einer marxistisch orientierten Sozialdemokratie hatte er kurz vor seinem Tode in der »Einleitung« zu Marx’ »Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« entwickelt. Einerseits sollte sich die SPD nicht zu bewaffneten Konflikten provozieren lassen, andererseits aber in konsequenter Opposition zum Kaiserreich und seinen staatlichen Mächten bleiben. August Bebels Position der Todfeindschaft zum Kapitalismus war auch die von Engels: »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen.«
Diese Strategie basierte auf der klaren Annahme, dass die ökonomischen Krisen und mögliche weltkriegerische Auseinandersetzungen das bürgerliche System in die Katastrophe stürzen und den von Engels anvisierten »Tag der Entscheidung« herbeiführen würden. Es war aber keine Position des stillen Abwartens, sondern der energischen Vorbereitung und Stärkung ebenjener Kräfte, die es zu mobilisieren gelte. Das Wort vom »Gewalthaufen« war ernst gemeint. Das Nahziel sollte dem sozialistischen Fernziel dienen. August Bebel argumentierte auf dem Parteitag von 1891:
»Die bürgerliche Gesellschaft arbeitet so kräftig auf ihren eigenen Untergang los, dass wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben […] Ja, ich bin überzeugt, die Verwirklichung unserer letzten Ziele ist so nahe, dass wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden. […]Die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse, die fortgesetzten Kriegsrüstungen, wo sich jeder sagen muss, kommt der Krieg nicht heute oder morgen, so kommt er übermorgen sicher, und die Gewissheit, dass alle diese Dinge zum Verderben der heutigen Gesellschaft ausschlagen, das alles hat herbeigeführt, dass keiner mehr leugnet, wir treiben einer Katastrophe zu.« (Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1891, 172 u. 175)
Doch ging die Engel’sche Taktik nicht auf: Als es 1914 zur Katastrophe kam, war der »Gewalthaufen« SPD ein gefügiges Instrument des Burgfriedens mit dem Kaiserreich geworden (vgl. Schütrumpf u.a. in diesem Heft). Die Mittel hatten sich gegenüber dem Ziel verselbstständigt und es überwältigt. Der Zusammenhang von naheliegenden Reformkämpfen und Revolutionszweck war so sehr verloren gegangen, dass selbst die möglichen Kämpfe um das allgemeine Wahlrecht in Preußen oder gegen die sich immer weiter verschärfende imperialistische und militaristische Politik nicht mehr offensiv geführt wurden. 1918, noch im Gefängnis, wurde Luxemburgs Abrechnung mit der alten Taktik immer schärfer. Als im Frühling dieses Jahres deutsche Truppen bei der Niederschlagung der finnischen Sowjetrepublik mitwirkten, schrieb sie: »Die Heldentaten in Finnland etc. sind der Strich unter der Rechnung der alten d[eutschen] Sozd[emokratie] u. der zweiten Intern[ationale]. Sie vernichten die alte Autorität u. die Taktik von Engels – K[arl] K[autsky].« (Luxemburg 1918b, 1093) Das »taktische Programm von Engels (1895)« sei dem imperialistischen Zeitalter nicht gemäß gewesen (ebd., 1094). Die deutsche Sozialdemokratie sei auf diesem Wege zu einer systemtragenden Partei mutiert und so sei Wohltat Plage geworden.
Kritik und Selbstkritik
Luxemburgs Abrechnung mit der Strategie von Engels, Bebel und Kautsky implizierte zugleich eine radikale Selbstkritik: Sie hatte sich ihre »Sporen« in der deutschen Sozialdemokratie gerade dadurch verdient, dass sie die alte Strategie mit äußerster Entschiedenheit gegen Bernsteins Revision verteidigt hatte. Dabei war es zu einem Bündnis mit der Führung der SPD gekommen, nicht zuletzt mit Bebel, der in der Diskussion erkannt hatte, dass Theorie und Strategie nicht zu trennen waren, und sich deshalb seinerseits auf Luxemburg und andere Linke in der SPD stützte.
Eduard Bernstein hatte ab 1896 alle Annahmen infrage gestellt, die dem Erfurter Parteiprogramm und der alten Strategie zugrunde lagen. Erstens versuchte er zu zeigen, dass sich keineswegs alle Produktionsmittel in den Händen weniger Kapitalisten zentralisierten, sondern es starke Gegenbewegungen zur Konzentration des Kapitals gebe. Auch könne nicht davon die Rede sein, dass die kleinbürgerlichen, bäuerlichen und Mittelschichten einfach verschwinden würden und sich die Klassenstruktur polarisiere: »Weit entfernt, dass die Gliederung der Gesellschaft sich gegen früher vereinfacht hätte, hat sie sich vielmehr, sowohl was die Einkommenshöhe als was die Berufstätigkeiten anbetrifft, in hohem Grade abgestuft und differenziert.« (Bernstein 1899, 79) Vor allem aber sah Bernstein eine klare Tendenz zur Demokratisierung und dies auch in der Wirtschaft:
»Politisch sehen wir das Privilegium der kapitalistischen Bourgeoisie in allen vorgeschrittenen Ländern Schritt für Schritt demokratischen Einrichtungen weichen. Unter dem Einfluss dieser und getrieben von der sich immer kräftiger regenden Arbeiterbewegung hat eine gesellschaftliche Gegenaktion gegen die ausbeuterischen Tendenzen des Kapitals eingesetzt, die zwar heute noch sehr zaghaft und tastend vorgeht, aber doch da ist und immer mehr Gebiete des Wirtschaftslebens ihrem Einfluss unterzieht.« (Ebd., 10)
Weder müsse es zur Katastrophe kommen, noch sei es zwingend erforderlich, dass grundlegende Eigentumsveränderungen erst nach Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse möglich seien. Es könne auch unter bürgerlichen Regierungen zum Auf- und Ausbau sozialistischer Eigentumsformen kommen.
Rosa Luxemburg hielt strikt entgegen: Von umfassenden Tendenzen zur Abschwächung der Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft sei nichts zu sehen. Die Polarisierung in zwei gegensätzliche Klassen – Kapitalisten und Proletarier – führe weiterhin zum Verschwinden der Mittelschichten. Die bürgerlichen Klassen würden auf die Entwicklung des Klassenkampfs mit dem Abbau von Demokratie antworten. Nur die Drohung einer sozialen Revolution würde ihnen soziale Reformen abnötigen. Würde diese Drohung aufgegeben, wären auch keine weiteren Erfolge bei den gewerkschaftlichen, demokratischen und sozialen Formen des Kampfes der Sozialdemokratie möglich. Vor allem aber:
»Was macht uns dann in unserem alltäglichen Kampfe zur sozialistischen Partei? Es ist nur die Beziehung dieser drei Formen des praktischen Kampfes zum Endziel. Nur das Endziel ist es, welches den Geist und den Inhalt unseres sozialistischen Kampfes ausmacht, ihn zum Klassenkampf macht. Und zwar müssen wir unter Endziel nicht verstehen […] diese oder jene Vorstellung vom Zukunftsstaat, sondern das, was einer Zukunftsgesellschaft vorangehen muss, nämlich die Eroberung der politischen Macht. Diese Auffassung unserer Aufgabe steht im engsten Zusammenhang mit unserer Auffassung […], dass die kapitalistische Gesellschaft sich in unlösbare Widersprüche verwickelt, die im Schlussresultat eine Explosion notwendig machen, einen Zusammenbruch, bei dem wir den Syndikus spielen werden, der die verkrachte Gesellschaft liquidieren wird.« (Luxemburg 1899a, 237)
Es gebe prinzipiell keine Möglichkeit, wie Luxemburg (1899b, 400) ironisch gegen Bernstein schreibt, »das Meer der kapitalistischen Bitternis durch flaschenweises Hinzufügen der sozialreformerischen Limonade in ein Meer sozialistischer Süßigkeit zu verwandeln«. Trotz der Entwicklung von Sozialreformen und Demokratie werde die Wand zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft nur immer höher und fester gemacht. Diese Wand sei vor allem politisch. Sie könne nur durch den »Hammerschlag der Revolution, d. h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat« (ebd.), niedergerissen werden.
Das Agieren der SPD im Ersten Weltkrieg hatte Luxemburg gezeigt, dass sie im »Guerillakrieg« gegen den Revisionismus nichts als »Pyrrhussiege« errungen hatte. Lange auf der gleichen Seite wie Kautsky, hatte sie den »Parlamentarismus als einzige Politik« (Luxemburg 1918b, 1108) dadurch legitimiert, dass sie ihm die höhere Weihe der Vorbereitung auf eine sozialistische Revolution gab. Zugleich wandte sie sich lange nicht gegen die Oligarchisierung und Bürokratisierung der SPD. Luxemburgs Hoffnung, dass die Massen wieder die Partei übernehmen könnten, erfüllte sich weder vor noch nach 1914. Ihre Versuche, die Forderung nach einem entschlossenen Kampf um die Republik und damit gegen den Kaiser und sein »persönliches Regime« in der Partei zu verankern, sowie ihr Anliegen, auf die offensive Nutzung militanter Formen wie den politischen Massenstreik zu orientieren oder gezielt die Legalität des Kaiserreichs zu verletzen (bspw. die Arbeiter*innen aufzuklären, im Kriegsfall nicht auf ihre Klassenbrüder zu schießen) – all das fand zwar in der Mitgliedschaft der Partei großen Widerhall, aber nicht in ihren Machtzentren. Nie war Luxemburg so beliebt bei den sozialdemokratischen Arbeiterinnen und Arbeitern wie 1914 und nie so machtlos in der SPD als Organisation. Ihr Fazit aus der Strategie der SPD seit dem Ende des Sozialistengesetzes: Eine perfekt organisierte Arbeiterbewegung brachte eine disziplinierte Arbeiterschaft in den Ersten Weltkrieg ein. Luxemburg (1918b, 1106) verwendete das böse erhellende Wort: »Das war der Krieg des deutschen Gewerkschafters.« Max Weber (1924, 409) behielt recht, als er 1907 prognostizierte, »auf Dauer [wird es] nicht die Sozialdemokratie [sein,] die Städte oder den Staat erobert, sondern […] der Staat […], der die Partei erobert«.
Auf der Suche nach neuer revolutionärer Realpolitik
In der Diskussion zu Programmatik und Strategie der gerade erst gegründeten KPD stellte Luxemburg die Strategie von Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« der des späten Marx und Engels sowie der der SPD gegenüber. Worin aber lag die Differenz? Luxemburg sah sie vor allem darin, dass anders als Ende 1847 und Anfang 1848 Marx und Engels nach der Niederschlagung der Pariser Kommune davon ausgegangen waren, »nun habe das Proletariat noch eine unendlich weite Strecke Wegs vor sich, bis der Sozialismus zur Wirklichkeit werden könnte« (Luxemburg 1918a, 495). Ende 1918 aber habe sich gezeigt, dass das Sofortprogramm aus dem »Manifest« und das des Spartakusbundes weitgehend deckungsgleich seien. Durch die Folgen des Ersten Weltkrieges sei eine Situation entstanden, in der es nur zwei Möglichkeiten gegeben habe: »Untergang in der Anarchie oder Rettung durch den Sozialismus« (ebd., 496). Im Kapitalismus sei es völlig unmöglich, progressive Lösungen für die Krise zu finden. Ihre Schlussfolgerung in dieser zugespitzten Situation war: »Für uns gibt es jetzt kein Minimal- und kein Maximalprogramm; eines und dasselbe ist der Sozialismus; das ist das Minimum, das wir heutzutage durchzusetzen haben.« (Ebd.)
In ihren Reden auf dem Gründungsparteitag der KPD ging Luxemburg davon aus, dass die Aufgabe nicht darin bestehen könne, unmittelbar die politische Macht zu ergreifen, sondern das neue Prinzip, das sich in der Revolution zu Wort gemeldet habe, das heißt die Arbeiterräte, umfassend zur Geltung zu bringen:
»Heute müssen wir uns auf das System der Arbeiterräte konzentrieren, müssen die Organisationen nicht durch Kombination der alten Formen, Gewerkschaft und Partei, zusammengeschlossen, sondern auf ganz neue Basis gestellt werden. Betriebsräte, Arbeiterräte, und weiter aufsteigend, ein ganz neuer Aufbau, der nichts mit den alten überkommenen Traditionen gemein hat.« (Luxemburg 1918c, 487)
Anstelle eines Generalangriffs schlug Luxemburg (1918a, 511) eine neue Strategie der Schaffung von Elementen der neuen Gesellschaft im Schoße der alten vor:
»Wir […] müssen uns die Frage der Machtergreifung vorlegen als die Frage: Was tut, was kann, was soll jeder Arbeiter- und Soldatenrat in ganz Deutschland? Dort liegt die Macht, wir müssen von unten auf den bürgerlichen Staat aushöhlen, indem wir überall die öffentliche Macht, Gesetzgebung und Verwaltung nicht mehr trennen, sondern vereinigen, in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte bringen. […] So soll die Machteroberung nicht eine einmalige, sondern eine fortschreitende sein, indem wir uns hineinpressen in den bürgerlichen Staat, bis wir alle Positionen besitzen und sie mit Zähnen und Nägeln verteidigen.«
Sie sah das auch als Programm der ökonomischen Phase der Revolution, die die politische Phase ablösen müsse.
Der Erste Weltkrieg war in Europa und darüber hinaus eine Zeitenwende. Mit den Nachkriegsrevolutionen und -krisen wurde das Zeitalter der orthodox-marxistischen Sozialdemokratie beendet. Es kam zur Spaltung der sozialistischen und Arbeiterbewegung. Die Frage von Strategie und Taktik zur Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wurde von jetzt an völlig neu gestellt. Luxemburg konnte die ungelösten Aporien von Reform und Revolution innerhalb des alten Konzepts noch aufzeigen und sie hatte sich auf den Suchprozess begeben, um auf völlig neuer Grundlage völlig neue Antworten zu finden. Der Mord an ihr hat diesen Suchprozess jäh beendet.
Von dem deutschen Physiker Gustav Robert Kirchhoff ist die Sentenz überliefert »Eine gute Theorie ist das Praktischste, was es gibt.« Den Marxistinnen und Marxisten im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert fehlte eine solche Theorie, die in der Lage gewesen wäre, revolutionäre Realpolitik für Zeiten der relativen Stabilität und für Zeiten der offenen großen Krise anzuleiten, bzw. ein lebendiges, sich wechselseitig befruchtendes Verhältnis von guter Theorie und guter Praxis. Der Marxismus, wie Luxemburg ihn hochhielt, versagte in seiner praktischen Funktion. An Luxemburg, einer der herausragenden Marxistinnen jener Zeit, lässt sich studieren, warum. Drei Gründe seien genannt:
Für eine praktische Theorie des Sozialismus
Erstens hat sich Marx’ Bilderverbot verheerend ausgewirkt. Es gab keine Sozialismustheorie, die diesen Namen verdient hätte. Die Fixierung auf die revolutionäre Übernahme der politischen Macht ließ die konkreten Fragen der sozialistischen Gestaltung einer komplexen Gesellschaft im »Nebelland der Zukunft« (Marx). In der Neuen Zeit, der wichtigsten Zeitschrift des Marxismus jener Zeit, hatte es über Jahrzehnte keinen einzigen Artikel zur Frage gegeben, wie Wirtschaft und Politik unter den Bedingungen der Widersprüche einer neuen Gesellschaft zu gestalten seien. Es wurde Marx’ Diktum gefolgt, eine solche Diskussion würde die Siegesgewissheit schmälern. Wäre dies aber der Fall gewesen, verweist dies auf die ungeheure Schwäche der sozialistischen Vision. Sie konnte ganz offensichtlich keiner kritischen Prüfung unterworfen werden, ohne dass des Gedankens Blässe den Glauben an sie angekränkelt hätte. Der Spartakusbund hatte im Moment der Revolution kein positives überzeugendes Gestaltungsprogramm, das mehrheitsfähig hätte werden können. Auch heute ist klar, dass ohne eine überzeugende sozialistische Vision einer Alternative zum Kapitalismus keine wirksame linke Politik möglich ist (vgl. Dörre 2018, 110ff). Es gab aber noch eine andere Illusion, die August Bebel so ausdrückte: »Ist die politische Macht in unseren Händen, so findet sich das Weitere von selbst.« (Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1891, 159) Die Lage der Bolschewiki 1917 widerlegte dies.
Im Kapitalismus und über ihn hinaus
Zweitens muss Marx’ Kapitalismustheorie überprüft werden. Luxemburg (1913, 411) hatte geglaubt, dass die Grenzen der Ausdehnung der kapitalistischen Märkte die absolute Barriere für den Kapitalismus bilden würden, an der er zerbrechen müsse. Kautsky hatte die Grenze in der Hyperzentralisation eines Ultraimperialismus gesehen. Alle Marxistinnen und Marxisten gingen davon aus, dass die kapitalistische Produktionsweise von derart gravierenden Krisen geprägt sein werde, dass ihr Zusammenbruch unvermeidlich sei und das Proletariat der einzig mögliche Konkursverwalter. Der Einbau und die Unterordnung von Prinzipien der Vergesellschaftung, die über den Kapitalismus hinausweisen und eine solidarische Gesellschaft antizipieren, die Entstehung von Bindestrich-Gesellschaften unter der Dominanz der Kapitalverwertung waren theoretisch nicht angedacht worden. Mit ihrem Blick auf den organischen Zusammenhang von Kapitalverwertung und nicht-kapitalistischen Produktionsweisen (vgl. Soiland in diesem Heft) hatte Luxemburg als eine der Ersten den Weg dafür gebahnt – durchaus gemeinsam mit Eduard Bernstein. Die Frage aber, wie eine Strategie der gleichzeitigen Politik im Kapitalismus und über ihn hinaus, also eine Strategie doppelter Transformation (vgl. Klein 2013; Candeias 2017), kapitalismustheoretisch begründet werden kann, ist bis heute nicht beantwortet worden.
Verbindende Klassenpolitik
Drittens hatte sich Marx’ und Engels’ Annahme, die Proletarier müssten sich nur ihrer Klasseninteressen bewusst werden, um zum Hauptakteur sozialer Revolution zu werden, als falsch erwiesen. Wirkliche Umwälzung entsteht, wie alle historischen Erfahrungen zeigen, aus der Verbindung von sehr unterschiedlichen sozialen und politischen Bewegungen mit jeweils sehr unterschiedlichen Interessen, die zudem in sich widersprüchlich sind, vorwärtswie rückwärts weisen. Lenin paraphrasierend kann man auch sagen: Wer eine reine Arbeiterrevolution erwartet, ist nur der Phrase nach revolutionär. Aber dies ist zunächst nur eine negative Aussage. Es bedarf einer klassenverbindenden Politik, die die durch die kapitalistischen Strukturen gespaltenen Gruppen solidarisch miteinander zu verbinden vermag (vgl. Candeias 2017). Und es geht um eine neue revolutionäre Haltung, die sich nicht den durch uns alle hindurchgehenden Widersprüchen entzieht: »Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit – dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus.« (Luxemburg 1918a, 406) In diesem Sinn der radikal revolutionären und zutiefst menschlichen Verbindung von Gegensätzen im Leben und Werk von Luxemburg konnte Volker Caysa (2017, 57; auch auf LuXemburg-Online) schreiben: »Rosa Luxemburg hat ein bejahenswertes, schönes Leben geführt, insofern sie ein bis in den Tod konsequentes, wahrhaftiges Leben geführt hat.«
Das Warum, das Wie und das Wer einer sozialen Revolution erwiesen sich 1917/18 als ungeklärt. Es ist zweifellos richtig: »Die Betonung der Aktion war […] Rosa Luxemburgs wichtigster Beitrag zum praktischen Marxismus.« (Nettl 1967, 27) Aber die ihr vorliegende marxistische Theorie beförderte nicht nur, sondern erschwerte auch die Entwicklung einer wirksamen emanzipatorischen Strategie. Heute, am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, braucht die Linke in Deutschland, Europa und international auch eine für revolutionäre Realpolitik praxistaugliche Theorie, die den Herausforderungen eines grundlegenden zivilisatorischen Umbruchs gemäß ist, der die Dominanz von Kapitalverwertung überwindet und eine sozialökologische Transformation einleitet. Wer auf hohe See hinausfährt, ist angewiesen auf einen Kompass, eine solidarische Crew und die Fähigkeit, die Segel gegen den Wind zu setzen, der dem Schiff entgegenweht. Von Rosa Luxemburg kann man lernen, was alles dafür getan werden muss – auf dem Feld der Theorie, der politischen Praxis und der persönlichen Lebensführung. Hic Rhodus, hic salta!