In der momentanen Vielfachkrise könnten eine echte Viertagewoche und ein Neues Normalarbeitsverhältnis nicht nur wirksame Mittel sein, um Krisenphänomene und Transformationskonflikte abzufedern, es besteht außerdem die historische Chance für ein gesellschaftliches Bündnis, das tatsächlich imstande wäre, Mehrheiten für progressive Politik zu organisieren. Angesichts der rapide eskalierenden Klimakrise, der zunehmenden sozialen Polarisierung und des Scheiterns des Projekts eines grünen Kapitalismus ist die Formierung eines Gegenprojekts, das die (Über-)Lebensbedingungen der Menschheit auf emanzipatorische Weise abzusichern vermag, dringlicher denn je. Zentral ist dabei die Frage, wie die Ökonomie sozial und ökologisch nachhaltig umorganisiert werden kann. Solche Eingriffe in die wirtschaftliche Organisationsweise verlangen nach breiten gesellschaftlichen Bündnissen, die aber nur dann möglich werden, wenn sich verschiedene gesellschaftliche Machtressourcen produktiv bündeln lassen.
Zu diesen Machtressourcen gehört die betriebspolitische Macht der Beschäftigten, wirtschaftliche Prozesse zu stören und zu unterbrechen. Dazu gehört die gesetzgeberische Macht progressiver Parteien, die Rahmenbedingungen ökonomischen Handelns zu verschieben und Märkte umzuformen. Und schließlich bedarf es der – vor allem – diskursiven Macht zivilgesellschaftlicher Gruppen von der Klimagerechtigkeitsbewegung über feministische Gruppen bis zu den Kirchen, die dazu beitragen können, die Formierung eines neuen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Common Sense in der öffentlichen Debatte zu befördern und öffentliche Unterstützung für radikale Reformen zu organisieren (Dörre 2021).
Angesichts der relativen Schwäche der Gewerkschaften liegt eine strategische Herausforderung darin, diese Ressourcen zusammenwirken zu lassen. Organisationspolitische Eigenlogiken und kulturell-habituelle Hürden stehen dem oft im Weg. Ein solches Zusammenwirken muss daher bewusst hergestellt und betrieben werden. Hilfreich sind Leuchtturmprojekte, die ein gemeinsames Ziel unterschiedlicher Akteure repräsentieren und als eine Art gegenhegemoniale Klammer dienen können. In den Kämpfen für solche Leuchtturmprojekte kann Solidarität unter den Bündnispartner*innen praktisch werden, die potenziell auch für weitere – und weitreichendere – Transformationsprojekte mobilisiert werden kann.
Historische Allianz für ein Neues Normalarbeitsverhältnis
Wir schlagen deshalb vor, den Kampf um eine echte Viertagewoche und ein Neues Normalarbeitsverhältnis von 28 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich und notwendigem Personalausgleich zu einem solchen Leuchtturmprojekt für die nächsten Jahre zu machen und darauf organisationsübergreifend hinzuarbeiten. Für Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen stellen Arbeitszeitverkürzungen einen Weg dar, eine bessere Teilhabe am von ihnen erwirtschafteten Reichtum sowie an der steigenden Produktivität ihrer Arbeit zu organisieren und damit ihre Lebensbedingungen qualitativ zu verbessern. Mit der Etablierung eines »Neuen Normalarbeitsverhältnisses« (Riexinger/Becker 2017) können sie außerdem das Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der Beschäftigten verschieben und mehr Souveränität hinsichtlich der Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse erreichen. Da die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung generationenübergreifend von einer breiten Mehrheit der Beschäftigten geteilt wird (Lott/Windscheid 2023), bietet sich hier die Chance, einen Konflikt zu produzieren, der Ausstrahlungskraft hat und dazu beitragen kann, die Gewerkschaftsbewegung zu erneuern.
Die Auseinandersetzungen darum werden langwierig sein – jedoch gibt es wenige Forderungen der Gewerkschaftsbewegung, die sich eines derart breiten gesellschaftlichen Rückhalts erfreuen: Parteipolitisch gehört die Forderung nach Arbeitszeitverkürzungen zum Kernrepertoire der Parteien links der Mitte. Das gilt insbesondere für DIE LINKE, grundsätzlich aber auch für SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Auch wenn damit nicht zwangsläufig eine politische Unterstützung in konkreten Konflikten einhergeht, ließe sich hier ansetzen. Dank erfolgreicher Feldversuche (vgl. Frey 2023) ist die mediale Aufmerksamkeit für das Thema jedenfalls groß und auch weite Teile der Zivilgesellschaft stehen der Forderung offen gegenüber: Aus feministischer Perspektive bieten (Lohn-)Arbeitszeitverkürzungen die Chance, Lohn- und Sorgearbeit gerechter zu verteilen. Insbesondere für weibliche Beschäftigte stellen sie einen Weg aus der Teilzeitfalle bei gleichzeitig verbesserter Vereinbarkeit von Familie und Beruf dar. Die Debatte zu Arbeitszeitverkürzungen ermöglicht es außerdem, die Fixierung des öffentlichen Diskurses auf Lohnarbeit infrage zu stellen und eine Aufwertung anderer Arbeitsformen zu propagieren, wie sie etwa in der 4-in-1-Pespektive von Frigga Haug konzipiert wurde. Gerade vor dem Hintergrund der ungerechten Verteilung von Sorge- und Lohnarbeit beweist sich, wie sehr Arbeitgeberverbände an der gesellschaftlichen Realität vorbei argumentieren: Faktisch liegt die durchschnittliche Arbeitszeit infolge der massiv an Umfang zugenommenen Teilzeitbeschäftigung bereits heute bei nur etwa 30 Stunden. Allerdings erfolgte diese Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, also auf dem Rücken der Beschäftigten, insbesondere der Frauen, die ihre private Sorgearbeit durch Arbeitszeitverkürzungen lebbar machen. In Pflege- und Lehrberufen arbeitet bereits die Mehrheit der Beschäftigten in Teilzeit, weil längere Arbeitszeiten zu belastend sind.
Eine Aufwertung von Sorgebeziehungen durch Erwerbsarbeitsreduktion ist auch in konservativen und religiösen Milieus anschlussfähig. Erinnert sei an den Slogan der DGB-Kampagne für die Fünftagewoche: »Samstags gehört Vati mir.« Auch die aktuellen Positionen der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) und des evangelischen Dienstes in der Arbeitswelt (KdA) zeigen das. Heutzutage tritt neben die Stärkung der Familie auch das Motiv der Bewahrung der Schöpfung im Sinne einer Sabbat-Ökonomie, die Produktivitätsfortschritte in den Dienst des guten Lebens statt beschleunigter Akkumulation zu stellen sucht. Die Frage, ob steigende Produktivität in weiteres Wirtschaftswachstum und entsprechend steigenden Ressourcenverbrauch übersetzt wird oder ob stattdessen Zeitwohlstand ausgeweitet wird, ist wiederum zentral für die Bekämpfung der Klimakrise. Insofern kann Arbeitszeitverkürzung auch einen Konvergenzpunkt für Bündnisse zwischen Gewerkschafts- und Klimagerechtigkeitsbewegung bieten (Liebig 2021).
Die Forderung nach einer neuen Arbeitsteilung berührt schlussendlich elementare Fragen von Gerechtigkeit, Solidarität und der Aufhebung vielfacher gesellschaftlicher Spaltungen. Überarbeitung und Unterbeschäftigung sind Risiken für die Demokratie, sie nähren oft Ressentiments gegenüber Minderheiten, führen zu politischer Abstinenz oder zur Orientierung auf autoritäre politische »Lösungen«.
Erfolgreiche Großversuche
Die Pandemie, Umweltkatastrophen und die gegenwärtigen Kriege haben eine neue Ära eingeläutet, eine Art »Zeitenwende«. Dazu gehören auch die fast disruptiven Veränderungen in der deutschen Autoindustrie: ein Aus für Verbrennermotoren, drastisch verschobene Märkte, sinkende Produktion, unausgelastete Kapazitäten in Europa und damit einhergehender Beschäftigungsabbau – immerhin minus 60 000 Beschäftigte seit 2019. Bei Opel, Ford, Bosch und Conti wurden ganze Standorte geschlossen, bei VW und Audi sind Kurzarbeit und Personalabbau an der Tagesordnung. Diese Verwerfungen wären mit einer deutlichen Arbeitszeitverkürzung abzufedern. Dabei könnten nicht nur Personalüberhänge aufgefangen, Zeit für Umschulungen gewonnen und den Beschäftigten Ängste genommen werden (vgl. Candeias/Krull 2022).
In der eigenen Arbeitsbiografie hat einer der Autoren (Stephan Krull) dieses Textes drei historische Etappen von Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung selbst erlebt und mitgestaltet: Meine Berufsausbildung als Schriftsetzer in einer kleinen Druckerei begann Mitte der 1960er-Jahre mit dem Einstieg in die 40-Stunden-Woche. Die Sechstagewoche war passé, die Arbeitswoche einen Tag kürzer und das unabhängige Leben einen Tag länger. Mitte der 1980er-Jahre fing ich bei Volkswagen an: Nachdem die 35-Stunden-Woche durch harte Streiks und breite gesellschaftliche Unterstützung unter dem Slogan »Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen« durchgesetzt worden war, wurde mehr Personal benötigt. Schließlich war ich in der Überproduktionskrise am Beginn der 1990er-Jahre als Mitglied der Tarifkommission der IG Metall an der Beschlussfassung zur 28,8-Stunden-Woche beteiligt, als Mitglied des Betriebsrats bei VW dann auch an deren Umsetzung. Das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser einmaligen Arbeitszeitverkürzung war der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen. Die übelste Art Personal abzubauen wurde dem Unternehmen mit dem Tarifvertrag zur Arbeitszeitverkürzung genommen, die Verfügungsgewalt über Menschen stark eingeschränkt. Niemand mit einem Arbeitsvertrag bei Volkswagen muss seither darum bangen, zum nächsten Monatsende betriebsbedingt entlassen zu werden. Für die Standortpolitik hat das weitreichende Folgen, ebenso für das Sein und Bewusstsein der Beschäftigten. Weil diese Arbeitszeitverkürzung alle Beschäftigten gleichermaßen betraf, wurde in diesem Prozess auch Solidarität gelernt.
Und sie veränderte das Leben einer ganzen Stadt: Bei Volkswagen wurde 40 Jahre lang bis in die 1990er-Jahre in der Produktion in zwei Schichten gearbeitet: von 5.30 bis 14 Uhr und von 14 bis 22.30 Uhr. Wolfsburg hat mit der Autofabrik und den 60 000 Beschäftigten dort »geatmet« – frühmorgens, mittags und spätabends. Mit Beginn der 28,8-Stunden-Woche im Frühjahr 1994 wurde in der Lackiererei, in der ich als Betriebsrat tätig war, die tägliche Arbeitszeit auf sechs Stunden an fünf Tagen reduziert: Die Frühschicht von 7 bis 13 Uhr und die Spätschicht von 13 bis 19 Uhr. Niemand musste mehr frühmorgens in der Tiefschlafphase aufstehen, niemand kam mehr völlig erschlagen am Nachmittag oder mitternachts, wenn alle schliefen, nach Hause. Es war eine große Befreiung, die Menschen und das Leben in der Stadt veränderten sich, wie auch entsprechende politische, soziologische und ökonomische Untersuchungen zeigen. Tatsächlich war diese Arbeitszeitverkürzung dadurch, dass zum Beispiel Schichtzuschläge eingespart, Flexibilisierung ermöglicht (es gab ca. 160 verschiedene Arbeitszeitmodelle) und die Arbeitsproduktivität gesteigert werden konnten, auch ein Gewinn für das Unternehmen.
Aus gewonnenen Kämpfen lernen
Weniger Arbeit für den gleichen Lohn. In der ab November 2023 laufenden Tarifrunde fordert die IG Metall für die Beschäftigten der Stahlindustrie die 32-Stunden-Woche. Der Bezirksleiter NRW und Verhandlungsführer der dortigen Tarifkommission, Knut Giesler, macht dabei klar: »Wir wollen eine echte Entlastung für die Beschäftigten erreichen, ohne dass sie deshalb weniger verdienen.« Denn Arbeitszeit ist nicht nur eine ökonomische Kategorie, sondern hat – wie oben dargestellt – soziale, ökologische, demokratische und kulturelle Dimensionen. In der aktuellen Situation und angesichts des geringeren Personalbedarfs moderner und nachhaltiger Produktionsanlagen, wie moderner Elektrolichtbogenöfen zur Stahlproduktion, sind Arbeitszeitverkürzungen außerdem ein Mittel zur Beschäftigungssicherung in den entsprechenden Branchen. Da die Abwehr klimapolitischer Maßnahmen im Kontext sogenannter Kulturkämpfe zunimmt, ist die soziale Absicherung in der Transformation in Richtung einer nachhaltigeren industriellen Produktion elementar. Die Forderung nach der 32-Stunden-Woche in der Stahlindustrie ist damit ein paradigmatisches Beispiel für sozial-ökologische Klassenpolitik: Sie kombiniert den ökologischen Umbau der Branche mit der Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und weist damit einen Weg jenseits konservativer Interessenspolitik – und in Richtung eines Bündnisses mit weiten Teilen der Zivilgesellschaft.
Zugleich handelt es sich um eine solidarische Forderung, zielt sie doch auch auf die Überwindung der Ungerechtigkeit zwischen älteren und jüngeren, zwischen weiblichen und männlichen Beschäftigten (vgl. Detje/Meyer-Ahuya im kommenden Heft 02/23): Prekäre Beschäftigung in Praktika, Minijobs und kurzer Teilzeit sind vor allem jung und weiblich. Ohne Verkürzung und faire Teilung der Arbeitszeit ist Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und eine Verbesserung der Lage der prekär Beschäftigten sowie der sogenannten stillen Reserve und deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht möglich. Auch hierfür ist das Bewusstsein an der Spitze der IG Metall in NRW groß. Immer wieder betonte Knut Giesler die ungleiche Verteilung von Lohn- und Sorgearbeit, die Probleme der Teilzeitbeschäftigung und der systematischen Marginalisierung von Millionen Menschen ohne Arbeit.
Denn die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung stößt wegen ihres emanzipatorischen Charakters seit jeher auf den Widerstand der ökonomisch und politisch Herrschenden. Umso mehr müssen sich unterschiedliche Akteure um ein breites gesellschaftliches Bündnis bemühen: Gewerkschaften allein werden die Auseinandersetzungen nicht für sich entscheiden können, solange es keinen gesellschaftlichen Rückenwind gibt. Gleichzeitig reicht die Feststellung einer objektiven Interessensüberschneidung nicht aus – im Prinzip vorhandene Interessenlagen müssen bewusst aktiviert, kulturelle Hürden abgebaut und Gelegenheiten für gemeinsame politische Praxis geschaffen werden, um das gemeinsame Interesse zum Gegenstand gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung zu machen.
Wenn es jedoch gelingt, die Machtressourcen von Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und progressiven Parteien zu bündeln, wie aktuell ansatzweise ver.di und Fridays for Future im Kampf um gute tarifliche Arbeit im Nahverkehr (vgl. Steinert 2023), kann die gegenwärtige Renaissance der Arbeitszeitpolitik zu einem grundsätzlichen gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufbruch beitragen und einen linken Pol der Hoffnung kenntlich und alltäglich erfahrbar machen.