Die Platzbesetzungen in Spanien und Griechenland fanden in linken Debatten hierzulande breite Beachtung, Gleiches gilt für die neuen linken Parteien Syriza und Podemos. Gewerkschaftliche Proteste in Südeuropa stie­ en hingegen auf eine deutlich geringere Resonanz.Eine intensivere Auseinandersetzung wäre jedoch durchaus produktiv: In Spanien etwa wurden nicht nur die fatalen Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten gewerkschaftlicher Gegenmacht sichtbar, sondern es entstanden auch innovative Formen basisdemokratischer Selbstorganisierung von Beschäftigten (vgl. Huke/Tietje 2014a; Huke 2016).2

Gewerkschaften in der Krise

Die ökonomische Krise und ihre austeritätspolitische Bearbeitung hatten für die Gewerkschaften in Spanien dramatische Konsequenzen und stellten etablierte Strategien infrage. Die instabile Entwicklung und die steigende Arbeitslosigkeit schwächten die gewerkschaftli­che Handlungsmacht in den Unternehmen, und ihre schwerfälligen Organisationsstrukturen erschwerten es ihnen, auf die rasch aufeinanderfolgenden Maßnahmen (Kürzungen im öffentlichen Dienst, Abbau des Kündigungsschutzes, Restrukturierungen und Privatisierungen im Bildung- und Gesundheitsbereich, Rentenkürzungen, Reformen der industriellen Beziehungen etc.) angemessen zu reagieren. Der Staat trat den Gewerkschaften in verhärteter Form entgegen, während etablierte Mechanismen der Partizipation, der Aushandlung und des sozialen Dialogs fast vollständig zum Erliegen kamen. Krisen einzelner Unternehmen sowie Angriffe auf das System der industriellen Beziehungen – nicht zuletzt die Verankerung eines Vorrangs betrieblicher Tarifverträge vor Flächentarifverträ­ gen – hatten zur Folge, dass gewerkschaftliche Auseinandersetzungen auf das betriebliche Terrain verlagert wurden. Ein immer größerer Teil gewerkschaftlicher Ressourcen musste aufgewendet werden, um die Einhaltung von Flächentarifverträgen in den Betrieben durchzusetzen. Verarmung und Prekarisierung erhöhten den Druck auf Beschäftigte, auch unsichere individuelle Arbeitsverträge unterhalb der tariflichen Standards zu unterschreiben.

Die spanischen Mehrheitsgewerkschaften Comisiones Obreras (CC.OO.) und Unión General de Trabajadors (UGT) ließen sich in vielen Fällen auf umfassende Zugeständnisse ein, in der Hoffnung, weitere Verschlechterungen vermeiden zu können. Sie stimmten der Erhöhung des Renteneintrittsalters ebenso zu wie Lohnkürzungen auf betrieblicher Ebene, um Arbeitsplätze zu erhalten, und akzeptierten Sozialpakte mit den Arbeitgeberverbänden, die Lohnsteigerungen unterhalb der Inflation vorsahen. Nur punktuell reagierten sie mit militanteren und hartnäckigeren Protesten wie mehrmonatigen Erzwingungsstreiks in einzelnen Betrieben und symbolischen Generalstreiks (vgl. Haas/Huke 2015; Huke/Tietje 2014b).

Begründet wurde die defensive und korporatistische Ausrichtung vonseiten der Gewerkschaften teilweise mit fehlender Konfliktfähigkeit, aber auch damit, dass über konfrontativere Strategien keine besseren Ergebnisse zu erzielen seien. Ein Gewerkschafter der CC.OO. wies im Interview darauf hin, dass die Beschäftigten in Griechenland mehrere Jahre versucht hatten, Widerstand gegen die Austerität zu mobilisieren. »Aber es hat ihnen nicht geholfen, die Kürzungen zu stoppen« (Interview vom 17.7.2012). Die Gewerkschaften drohten in der Folge in eine Abwärtsspirale zu geraten: Zugeständnisse aufgrund fehlender Konfliktfähigkeit schwächten ihre gesellschaftliche Legitimität und damit wiederum ihre Konfliktfähigkeit, was weitere Zugeständnisse zur Folge hatte.

Basisdemokratische Selbstorganisierung

Teilweise durchbrochen wurde diese Dynamik durch gesellschaftliche Mobilisierungen, die von den Platzbesetzungen der Bewegung 15-M ausgelöst wurden. Kennzeichen der Proteste waren eine Politik der ersten Person, basisdemokratische Versammlungen (assambleas), ziviler Ungehorsam und eher inklusive statt polarisierenden Forderungen. Kollektive politische Forderungen wurden ausgehend von individuellen Problemen formuliert. Die konsensorientierte und partizipative Form der Bewegungen ging mit einer akzeptierenden und wertschätzenden ›Politik der Zuneigung‹ einher und hatte eine Feminisierung der Politik zur Folge (vgl. Huke 2016).

Aus Protesten gegen Kürzungen, Restrukturierungen und Privatisierungen im Bildungsund Gesundheitsbereich entstanden in einigen Regionen Bewegungen, die von Beschäftigten ausgingen und in ihrer Grammatik durch 15-M geprägt waren – die marea verde und marea blanca. Das organisatorische Zentrum der erfolgreichsten regionalen mareas bildeten Vollversammlungen innerhalb einzelner Einrichtungen, in denen Beschäftigte mit anderen Betroffenengruppen wie Patient*innen, Eltern, Schüler*innen oder Nachbar*innen gemeinsam die Proteste koordinierten. Diese wurden teilweise von Gewerkschaften initiiert, entwickelten jedoch rasch eine eigene Dynamik sowie eigenständige Strukturen, innerhalb derer bisweilen eine nichtgewerkschaftliche oder gar antigewerkschaftliche Stimmung herrschte, die auch schon die Bewegung 15-M durchzogen hatte. In dem Maße, wie jedoch deutlich wurde, dass und wozu Gewerkschaften nützlich sein können, konnte diese Ablehnung teilweise überwunden werden. Über die Vollversammlungen entwickelte sich eine horizontale Mobilisierung. In jedem Institut, in jeder Schule gab es Unterstützungsgruppen, die sich nach Stadtteilen versammelten sowie wichtige Demonstrationen und Streiks organisierten, die von Eltern unterstützt wurden, beschreibt ein Vertreter der linken Bildungsgewerkschaft Confederación de Sindicatos de Trabajadores de la Enseñanza (STEs) die Bildungsproteste in Madrid (Interview vom 18.3.2014). Im Gesundheitsbereich war die Dynamik ähnlich. Das Netzwerk P.A.T.U. Salud etwa entstand aus Versammlungen in sechs von Privatisierung bedrohten Krankenhäusern in Madrid. Indem es die Betroffenen zum Ausgangspunkt machte, gelang es dem Netzwerk, eine aktivierende Wirkung zu entfalten, berufs- und statusgruppenübergreifend zu mobilisieren und ideologische Konflikte weitgehend zu vermeiden. Viele machten die Erfahrung, eine Stimme zu haben und Leute um sich herum organisieren zu können. Das hatte es vorher nicht gegeben – es war ein Erbe der 15-M-Bewegung.

Zentral für Mobilisierungserfolge der mareas war es, dass »wir, die das vorangetrieben haben, Beschäftigte in unseren Einrichtungen waren, ohne Gewerkschaften dazwischen. […] Die Leute haben uns zugehört, weil sie wussten, dass unser einziges Interesse das von Beschäftigten war« (Aicart 2013). Netzwerken wie P.A.T.U. Salud gelang es, auch jene zu mobilisieren, die Demonstrationen bisher immer ferngeblieben waren, wenn deren Bild von Gewerkschaften oder politischen Parteien geprägt wurde. Mit »gewerkschaftlichen oder linken Bannern hätte es keine massiven mareas blancasgegeben« (Ruiz-Giménez 2014, 33). Ausgehend von den Versammlungen wurden sowohl im Bildungs- als auch im Gesundheitsbereich nicht nur Demonstrationen, sondern auch temporäre Besetzungen (encierros) und unkonventionelle Protestformen wie Hausbesuche bei Verantwortlichen (escraches) organisiert. Elternverbände riefen erstmalig in der spanischen Geschichte mit zum Streik auf. Auf den Balearen wurde aus basisdemokratischen Strukturen heraus ein mehrwöchiger Streik, inklusive Streikkasse, organisiert.

An den Vollversammlungen waren Leute aus sehr unterschiedlichen Gewerkschaften und solche, die keiner Gewerkschaft angehörten, beteiligt. Zentrales Prinzip war dabei eine Politik der ersten Person: Gab es in einer Einrichtung etwa eine Versammlung der marea verde, bestand sie aus den Lehrer*innen und Eltern dieser Einrichtung, in einem Stadtteil waren es die Bewohner*innen dieses Viertels. »Niemand repräsentiert niemanden, auch wenn alle wissen, dass ich von STEs bin« (Interview vom 18.3.2014).

Die unterschiedlichen Gewerkschaften gingen sehr verschieden mit den mareas um. Während sich die Asociación Nacional de Profesorado Estatal (ANPE) und Central Sindical Independiente y de Funcionarios (CSI-F), eher konservative sektorale Gewerkschaften, kaum beteiligten, taten dies CC.OO. und UGT schon – sie versuchten dabei allerdings, die Dynamik unter Kontrolle zu behalten. In ihren Augen dienten Versammlungen eher dazu, Meinungsbilder einzuholen, Entscheidungen sollten jedoch innerhalb der Gewerkschaftsorgane getroffen werden. Linke Minderheitsgewerkschaften spielten demgegenüber eine aktivere Rolle innerhalb der mareas: »Wir haben uns von Anfang an total aktiv beteiligt, aber ohne die Vollversammlungen kontrollieren zu wollen, sondern von unten an der Entscheidungsfindung partizipierend, mit unseren Vorschlägen, unseren Ideen« (ebd.). Durch die Aktivierung der Beschäftigten gelang es den neuen Strukturen teilweise, die Gewerkschaftsverbände unter Zugzwang zu setzen. Ein Beispiel hierfür war der unbefristete Streik im Bildungsbereich auf den Balearen. Die Gewerkschaften sahen zunächst keine Möglichkeit eines längerfristigen Streiks, Vollversammlungen in den Bildungseinrichtungen hatten jedoch eine derart aktivierende Wirkung innerhalb des Lehrerkollegiums, dass sich schließlich auch die Gewerkschaften am Streikaufruf beteiligten. Angeführt wurde der Streik von der basisdemokratischen assemblea de docents, die die Vollversammlungen koordinierte.

Mit Ausnahme der balearischen assemblea de docents und dem im Kontext der Krise zumindest teilweise einer basisdemokratischen Logik folgenden Berufsverband von Mediziner*innen AFEM in Madrid verfügten die Bewegungen über keine von den Gewerkschaften unabhängige Streikund Mobilisierungsfä­ higkeit – beide waren wechselseitig aufeinander angewiesen. Trotz Teilerfolgen – in Madrid etwa konnte ein umfassendes Privatisierungsprogramm im Gesundheitsbereich verhindert werden – gelang es den basisdemokratischen Bewegungen nur begrenzt, dauerhaft tragfähige Organisationsstrukturen zu entwickeln. Während Streiks und permanente Mobilisierungen bei vielen Betroffenen rasch Ermüdungserscheinungen zur Folge hatten, entfalteten andere Teile der Bewegungen eine aktivistische Dynamik. Frustrationen aufgrund ausbleibender unmittelbarer Erfolge trugen dazu bei, dass die Mobilisierungen an Kraft verloren. Auch war für einige die individuelle Arbeitsbelastung auf Dauer nur schwer mit den zeitaufwendigen politischen Aktivitäten vereinbar.

Erfolgreich scheitern

Die Krise der Gewerkschaften und die mareas zeigen, dass spektakuläre Ereignisse – etwa Wahlerfolge und anschließende Niederlagen linker Parteien, Generalstreiks, aber auch Demonstrationen und Platzbesetzungen – nur einen kleinen Teil sozialer Auseinandersetzungen um die Auswirkungen von Austeritätspolitik und ökonomischen Krisen ausmachen.

Deutlich relevanter für gesellschaftliche Gegenmacht sind weit weniger öffentlichkeitswirksame Prozesse der alltäglichen Organisierung, des Aufbaus von Organisationsstrukturen und eines kontinuierlichen, mit Frustrationen und Niederlagen verbundenen »erfolgreichen Scheiterns« (Candeias/Völpel 2014, 11). Die Bilanz der mareas ist in diesem Zusammenhang eine ambivalente, wie ein Vertreter der balearischen assemblea de docents erklärt: »Wenn wir mit den negativen Aspekten anfangen, sehen wir, dass wir es mit dem Streik nicht geschafft haben, unsere Forderungen durchzusetzen. […] In Bezug auf die positiven Aspekte sehen wir, dass wir eine nie dagewesene Organisation der Beschäftigten aller Inseln erreicht haben […]; mit dem unbefristeten Streik haben wir die Bildung an die erste Stelle der öffentlichen Debatte gerückt […] und zwei historische Werkzeuge in Kämpfen wieder aufgewertet: den unbefristeten Streik und die Streikkasse« (Aicart 2014).

Die mareas zeigen, dass basisdemokratische Selbstorganisation und eine stärkere gesellschaftliche Einbettung von Arbeitskämpfen die Chance eröffnen, zumindest zeitweilig Abwärtsspiralen und defensive korporatistische Strategien von Gewerkschaften zu durchbrechen. Selbst in relativ ausweglos erscheinenden Situationen werden so politische (Teil-)Erfolge möglich. Gleichzeitig wird deutlich, dass soziale Bewegungen durch ihre Flüchtigkeit und ihre prekären Organisationsstrukturen nur begrenzt in der Lage sind, gewerkschaftliche Apparate zu ersetzen. Es ist daher notwendig, in sozialen Auseinandersetzungen unterschiedliche Organisationsmodelle produktiv zu vermitteln. »Kein Teil der pluralen Linken, keine Partei, keine Gewerkschaft, keine linke Avantgarde kann mehr eine Führungsrolle beanspruchen. Zugleich aber sollte vermieden werden, dass Pluralität in Spaltung umschlägt. Daher bedarf es der Entwicklung einer Mosaiklinken« (Candeias/Völpel 2014, 205). Eine leichte Aufgabe, so zeigt der Blick auf die Konflikte zwischen basisdemokratischer Selbstorganisation und Gewerkschaften in den mareas, ist das Projekt einer derartigen Mosaiklinken aber nicht.

1 Eine Ausnahme bildet der Band von Gallas et al. 2012.
2 Der Text basiert auf Interviews mit Gewerkschafter*innen und Aktiven der mareas, die im Rahmen des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Promotionsprojekts »Sie repräsentieren uns nicht. Soziale Bewegungen und Krisen der Demokratie in Spanien« geführt wurden.
3 Die stärkste Dynamik entfalteten die Bewegungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich in Madrid sowie im Bildungsbereich auf den Balearen.

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