Bemerkenswert ist ein Befund, der bei oberflächlicher Betrachtung möglicherweise gar nicht für Armuts- und Reichtumsberichterstattung relevant zu sein scheint: „Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass das Einkommen politische Meinungen beeinflusst. Einkommensarme Befragte wünschen sich in einer Vielzahl der Fälle andere Entscheidungen der Politik als ihre besser verdienenden Mitbürger_innen, dies gilt insbesondere für die Außen-, aber auch für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Darüber hinaus konnten wir erstmals für Deutschland nachweisen, dass politische Entscheidungen mit höherer Wahrscheinlichkeit mit den Einstellungen höherer Einkommensgruppen übereinstimmen, wohingegen für einkommensarme Gruppen entweder keine systematische Übereinstimmung festzustellen ist oder sogar ein negativer Zusammenhang. Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden. In Deutschland beteiligen sich Bürger_innen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.“ (Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015)

Ein Wahrnehmungsproblem?

Nun ist das keine neue Erkenntnis, wirft aber auch die Frage auf, welche Bedeutung die Armuts- und Reichtumsberichterstattung überhaupt hat bzw. haben kann. Über die Stärken und Schwächen des Verfahrens ist in Gutachten und in öffentlichen Diskussionen schon viel gesagt worden; zu der eigentlich entscheidenden Frage, wozu man aber diesen Bericht überhaupt braucht, gibt es offensichtlich grundsätzlich auseinandergehende Auffassungen. In einem der Gutachten heißt es etwa: „Das dem Bericht zu entnehmende, deutliche Auseinanderdriften von Wahrnehmung der Einkommens- und Vermögensverteilung und der vorhandenen Datenlage ist problematisch und zeigt Handlungsbedarf. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung kann einer Fehlwahrnehmung entgegenwirken, aber nur wenn die öffentliche Darstellung auf eine beschränkte Anzahl von Kernbotschaften fokussiert. Ein überbordender Bericht macht es den Medien einfach, problematische und daher Aufmerksamkeit erzeugende Einzelergebnisse herauszupicken. Die teilweise fehlende Fokussierung der vergangenen ARB auf die hauptsächlichen Verteilungstrends (u.a. verursacht durch den kleinteiligen Lebensverlaufsansatz) könnte am Ende sogar zu einem Auseinanderdriften von Wahrnehmung und Datenlage beigetragen haben.“ (Biewen) Das liegt auf der Linie mit einigen Äußerungen der zuständigen Ministerin und verschiedener unternehmernaher Wirtschaftsinstitute. Die Website des Ministerium heißt es ganz ähnlich: „Allerdings sind in der Wahrnehmung der Bevölkerung die Perspektiven für Aufstieg und Teilhabe am Wohlstand längst nicht für alle in unserem Land vorhanden.“ (Quelle) Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln widmet der Verteidigung der Agenda 2010 in der Ausgabe 6/2017 seines Newsletters iwd immerhin vier Seiten, auf denen sicher korrekte Daten aufgeführt werden – aber eben die sozialen Wirkungen geringfügiger bzw. unstetiger Beschäftigung schlichtweg verschwiegen werden.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hingegen betont, dass die Daten keinesfalls eine Abschwächung der Probleme beweisen. In seiner Stellungnahme macht er deutlich, dass diese Aussage mit methodischen Prinzipien zusammenhängt: „Der Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichts schreibt den bereits von der Vorgängerregierung eingeschlagenen Weg der Abkehr vom „Capability Approach“ – einem in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes ursprünglich zentralen Konzept, das Armut als Mangel an Verwirklichungschancen begreift – fort und bringt ihn zum Abschluss. Die Bundesregierung hat ihre Orientierung am Konzept der Verwirklichungschancen offenkundig aufgegeben.“ Diese Einschätzung deckt sich inhaltlich mit der eingangs wiedergegebenen Bewertung des Zusammenhangs zwischen politischen Handlungsspielräumen und Lebenslagen. Das schließt die Entkopplung von Fragen der Umverteilung und der Teilhabe ein. Dem entspricht letztlich auch die schwache Beleuchtung des Reichtumsproblems. Die Parallelgesellschaft der MilliardärInnen erweist sich als nicht befragbar und beforschbar – und verschwindet damit als Problem. Schon 2007 verwies Ferchland in einer Untersuchung der Tendenzen in der Sozialberichterstattung seit den 1990er Jahren auf den Umstand, dass ein Missverhältnis zwischen der Zahl der Berichte auf den verschiedensten Gebieten und der Entwicklung der sozialen Lage bestehe. (S. 374) Er benennt die Gefahr des Gewöhnens an Problemlagen, die die Berichte entwerten – weil sie ja doch nichts bewirken. Berichte verwandeln sich unter diesen Bedingungen in Legitimationsinstrumente und diskreditieren sich.

Berichterstattungen wozu und wie? Eine Frage der Politik.

Das verweist auf ein Problem, das nicht im Bericht selbst liegt, sondern in seiner Stellung im politischen Entscheidungsprozess. Obwohl, wie verschiedentlich betont, Wissenschaft und Verbände beteiligt wurden, bleibt der Bericht im Rahmen der, der einst mit der Agenda 2010 geschaffen wurde. Das ist durch die unmittelbare Anbindung an die Ministerialbürokratie wie auch die zeitliche Platzierung der Präsentation kurz vor den Bundestagswahlen nahezu unvermeidbar. Er wird so oder so Teil des Wahlkampfes werden und alle Interessengruppen werden ihn mit Bezug auf diesen auch nutzen. Ist der Wahlkampf vorbei, wird er jegliche orientierende Wirkung verlieren – genauer: er wird nie zu einem Prüfstein für Politik werden. Er wird der Öffentlichkeit als Kampffeld von Parteiinteressen präsentiert, er wird durch den Fokus des „für“ oder „gegen“ eine Partei oder gar Person wahrgenommen – oder ignoriert, weil er eben so erscheint.

Es ist angsichts dieser Situation mehr als legitim, sich auf die Forschungen zur Sozialberichterstattung früherer Zeiten zu besinnen. In ihrem methodischen Gehalt waren sie auch Ausdruck von Kräftekonstellationen und einer politischen Kultur, wie sie jetzt nicht mehr besteht – somit eher Kampfaufgabe. (Vgl. www.rosalux.de/gesellschaft/specials/soziales/erfahrungen-und-einstiegsprojekte/sozialberichterstattung/vom-datenfriedhof-zum-politischen-instrument.html)

Betrachtet man sich die ursprünglichen Intentionen der Sozialberichterstattung, so geht es um die Formulierung von Orientierungspunkten für die Politik des Staates, von Kommunen, von Organisationen. Es sollten auch diejenigen zu Wort kommen, die von den verschiedenen sozialen Lagen betroffen sind. Wohlgemerkt – sie sollten an der Erarbeitung beteiligt sein, nicht nur über Interessenvertreter ihre Meinung äußern. Das war der Ansatz, mit dem in den 1990er Jahren die Diskussion geführt wurde, auch wenn die Realität dem selten entsprach. Beispiele, wie der 1994 erschienene Sozialbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes oder der 2000 veröffentlichte Bericht von Hans-Böckler-Stiftung, DGB und Paritätischem (beide unter Leitung von W. Hanesch erarbeitet) waren diesem Prinzip näher, als dies die Berichte der Bundesregierung sind. Eine weitere Idee war, die verschiedenen Pfade der unterschiedlichen Berichterstattung auch aufeinander zu beziehen. Dies betrifft die sachliche wie auch die regionale Ebene. Es ist doch eine interessante Frage, wie sich z.B. die Aussagen des Alterssicherungsberichtes der Bundesregierung, des Armuts- und Reichtumsberichtes, der Berichterstattung an die Europäische Grundrechteagentur, des Berichtes an den Bundestag über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland (die beiden letztgenannten erarbeitet vom Institut für Menschenrechte) zueinander verhalten. Auf regionaler Ebene ginge es entsprechend um das Verhältnis zwischen den Aussagen der Sozialberichterstattung auf Bunds-, Landes- und kommunaler Ebene. Nur auf der kommunalen Ebene etwa läßt sich feststellen, was nun eigentlich sinkende Renten tatsächlich sozial bedeuten. So kommt eine Studie „50 und älter in Marzahn-Hellersdorf“ zu dem sicher nicht überraschenden Ergebnis, dass hinter den Durchschnittszahlen eine immer weiter fortschreitende Ausdifferenzierung der Lebenslagen steht, die entsprechende differenzierte und breite Angebote der öffentlichen Hand erfordern – auch weil die Tendenz sinkender Renten immer mehr Menschen von privatwirtschaftlichen Angeboten ausschließen. Die Verwaltung des Stadtbezirkes hat diesen Bericht zur Grundlage für die Veränderung ihrer sozialen Angebote genommen. Allerdings handelt es sich dabei in erheblichem Maße um „freiwillige“ Leistungen, nicht um Pflichtaufgaben – und damit ist ihre Finanzierung schwierig. Es gibt rechtlich keine Verbindung zwischen den Veränderungen in der sozialen Sphäre und der Gestaltung der Haushalte. Die Kriterien der Haushaltspolitik liegen auf ganz anderen Feldern.

Wozu also das alles?

Somit stellt sich die Frage, ob und wie der ARB mit seinem reichhaltigen Datenmaterial und seinen durchaus kontroversen Studien, Gutachten und Stellungnahmen politische Wirksamkeit erlangen könnte. Die Verknüpfung verschiedener Stränge der Berichterstattung, die sachlich zusammengehören, wäre ein Ansatz.

Um das zu erreichen, bedarf aber offensichtlich einer vierten, tatsächlich öffentlichen Kraft, neben Wissenschaft, Interessenverbänden und Regierungsapparat. Die „Delegierung“ der Berichterstattung an den Bund ohne die Etablierung eines öffentlichen Gegengewichtes ist auch mit dafür verantwortlich, dass der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zwar umfangreich ist, aber im eigentlichen Sinn nicht politikwirksam wird. In der Rezeption und Interpretation der Ergebnisse ist das Schwergewicht auf Regierungs- und Medienseite sowie der angepassten akademischen Kreise verschoben.

Eine mögliche Form ist sicher die „Schattenberichterstattung“ (wie bei vielen anderen Berichten üblich). Damit wäre die Möglichkeit gegeben, die Voten der verschiedenen Interessenverbände zu bündeln und deutlicher die gemeinsamen Positionen zu dem regierungsamtlichen Bericht zu artikulieren.

Ein Befund aus einem mehrjährigen Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Analyse von verschiedenen Formen der Sozialberichterstattung kommt ausgehend von den kommunalen sozialpolitischen Problemlagen zu dem Ergebnis: „Sozialberichterstattung ist kein Selbstzweck, sie fundiert und evaluiert die Kommunalpolitik, unterstützt die demokratische Beteiligung, trägt zur Transparenz sozialpolitischer Entscheidungsprozesse und der sozialen und sozialräumlichen Entwicklung bei. Inwieweit die Sozialberichterstattung diesen Anforderungen gerecht wird, hängt vor allem davon ab, dass sie als eine öffentliche Angelegenheit behandelt wird. Neben der Gewährleistung der öffentlichen Zugänglichkeit der Berichtsdokumente (Internetpräsentation) ist von entscheidender Bedeutung, einen öffentlichen problemorientierten Diskurs über die Grundaussagen der Berichte und der daraus abzuleitenden Folgerungen zu initiieren. Dazu bedarf es der Erörterung der Berichte in den demokratischen Gremien (Bezirksverordnetenversammlung, Fraktionen, Ausschüsse) und der sachlichen medialen Berichterstattung. Darüber hinaus sollten Möglichkeiten und Foren für Diskussionen mit den Bürgern geschaffen werden. Die erfolgreiche Bewertung der sozialen Entwicklung, die Präzisierung des Handlungsbedarfs, die Ausarbeitung und Formulierung von Zielen und Leitbildern der kommunalen Entwicklung erfordert die demokratische, kontroverse und öffentliche Diskussion durch eine reflexive Stadt(teil-)gesellschaft (Heitmeyer 2008). Eine solche (kommunale) Gesellschaft ist nicht a priori vorhanden, aber die Erarbeitung guter Sozialberichte und ihre angemessene öffentliche Behandlung können als Impulse die Herausbildung einer reflexiven Stadtgesellschaft fördern.“ (Wilfried Barthel/Rainer Ferchland/Dieter Zahn: Marzahn-Hellersdorf. Tendenzen der sozialdemografischen und sozialräumlichen Entwicklung. Studie als Beitrag zur Sozialberichterstattung, Berlin 2008 (unveröffentlicht)) Diese Aussage ließe sich berechtigt auf die gesellschaftliche Ebene übertragen.

Es geht also um eine Diskussion, um die Einleitung eines politischen Prozesses. Betrachtet man die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der wechselnden Bundesregierungen, so erscheinen die Berichte als Ende der öffentlichen Diskussionen, wodurch sie sich auch, wie das hier nur angedeutete Beispiel Berlin-Marzahn zeigt, entschieden von kommunalen Sozialberichten unterscheiden. Die Ergebnisse der Berichte müssen in zwei Bereichen als Feld der Auseinandersetzung verstanden werden – bezüglich des Verwaltungshandelns (ist es den konstatierten Problemlagen adäquat) und bezüglich der Haushaltspolitik (entspricht der Haushalt den aus den Berichten ableitbaren Handlungserfordernissen). Diese Fragen können auf allen politischen Ebenen gestellt werden und könnten helfen, die Blockaden, die die Sachzwangargumentationen im Stile der Agenda 2010 aufzubrechen.