Beim Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« hat am 26. September 2021 eine Mehrheit der Berliner Wähler*innen dafür gestimmt, börsennotierte Immobilienunternehmen in Gemeineigentum zu überführen. Erstmals seit den großen Debatten über Sozialisierung rund um die Novemberrevolution 1918/19 wurde damit der Vorschlag in die öffentliche Debatte eingebracht, einen wichtigen Bereich der Daseinsvorsorge zu vergesellschaften. Und er wurde mit einer unausweichlichen politischen Entscheidung verknüpft: das Volksbegehren in einen Gesetzesvorschlag zu überführen. Sollte die neue Regierungskoalition – wie es sich abzeichnet – dieses Plebiszit von über einer Million Stimmen nun als bloßes Meinungsbild abtun, es mit Verfahrenstricks und juristischen Gutachterschlachten beiseiteschieben oder gar im Sand verlaufen lassen, so wäre sie im Kern politisch delegitimiert. Schließlich ist ihr Stimmenanteil geringer als die Zahl derjenigen, die für das Volksbegehren gestimmt haben.

Die gut vorbereitete Initiative greift eine uralte Forderung von sozialen Bewegungen auf, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Arbeiterbewegung zu einer veritablen politischen und geistigen Macht in Europa heranwuchs. Die Zukunftshoffnungen der Unterprivilegierten bündelten sich in der Formel der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Wie diese ausgestaltet werden sollte – dazu gab es verschiedene Vorstellungen: Die alt-marxistisch orientierte Arbeiterbewegung, insbesondere die deutsche Sozialdemokratie und die spätere Kommunistische Internationale, orientierten auf eine politische Organisation der Wirtschaft über den Staat. Die Vorstellung einer rationalen Planung der Ökonomie zur materiellen Bedürfnisbefriedigung schien angesichts der Krisenverwerfungen der kapitalistischen Marktwirtschaft und der ständigen Kriegsgefahr das Gebot der Vernunft. Minoritäre Strömungen der Arbeiterbewegung, insbesondere im Anarchismus und Syndikalismus wiederum hielten eine föderal organisierte Selbstverwaltung der Gesellschaft jenseits staatlicher Zwangsregulierungen für möglich. Somit stand der Idee einer Verstaatlichung der gesellschaftlichen Produktion der einer föderativen Selbstverwaltung jenseits staatlicher Eingriffe gegenüber.

Als in der Weltkriegskrise 1914–18 die revolutionären Bewegungen die Umsetzung dieser programmatischen Forderungen auf die Tagesordnung setzten, ergriff die leninistisch-bolschewistische Bewegung sofort die Verstaatlichungsoption. In Deutschland hingegen stand nach dem »Plakatsozialismus« (»Die Sozialisierung rollt«) und der düpierten, vom marxistischen Übervater Karl Kautsky geleiteten Sozialisierungskommission eine ernsthafte demokratische Umgestaltung des Kapitalismus überhaupt nicht mehr auf der Agenda. Erst im Zuge der Weltwirtschaftskrise tauchte 1928 in den sozialdemokratischen Gewerkschaften die abgeschwächte Konzeption einer »Wirtschaftsdemokratie« (WTB-Plan) wieder auf. Sie fand 1949 auch in das erste Programm des DGB Eingang (vgl. Naphtali 1928).

Gleichwohl entbrannte während der Revolutionszeit 1918/19 eine heftige Debatte über konkrete Sozialisierungsmaßnahmen. Eines dieser Modelle, das wegen seiner theoretischen Fundierung über den Tag hinausweist, stammt von Karl Korsch. Es lohnt, sich mit seinen Überlegungen zu beschäftigten, da sie für die aktuelle Diskussion instruktiv und weiterführend sein können. 

Was ist Sozialisierung? 

Der Jurist Korsch verknüpfte Überlegungen aus verschiedenen Richtungen der Sozialreform und des Marxismus. Insbesondere die Fragen der wirtschaftlichen Planung und der demokratisch ausgehandelten Bedürfnisermittlung spielten bei ihm eine zentrale Rolle. Bereits 1912 kritisierte er die »sozialistische Formel für die Organisation der Volkswirtschaft«. Im Augenblick einer Regierungsübernahme wäre die deutsche Sozialdemokratie völlig unvorbereitet, wie einer ihrer zentralen Programmpunkte, nämlich die »Vergesellschaftung der Produktionsmittel«, zu realisieren wäre, so Korsch. Der Schrecken des Weltkriegs machte viele Emanzipationsvorstellungen zunichte, doch die Selbstaktivierung der Massen in Räteorganisationen im Zuge der Novemberrevolution 1918 bot aus seiner Sicht neue, realistische Voraussetzungen für eine nicht-bürgerliche und selbstbestimmte demokratische Ordnung. Diese Erfahrungen nahm Korsch auf und aktualisierte sie als Assistent der von Karl Kautsky geleiteten Sozialisierungskommission für den Kohlenbergbau in seiner Programmschrift »Was ist Sozialisierung?« (1919).

Darin kritisiert er den praxishemmenden geschichtlichen Schematismus der II. Internationale, wie er auch im Erfurter Programm der SPD von 1891 zum Ausdruck kam: die Vorstellung, die ökonomische Entwicklung als treibender geschichtlicher Faktor würde quasi automatisch eine Lösung für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel bereitstellen, sobald die geschichtliche Konstellation herangereift sei. Des Weiteren greift Korsch ein wesentliches Element aus den Debatten der englischen Sozialreform wieder auf, wonach in der kapitalistischen Gesellschaft ein »Widerstreit der Interessen der Produzenten und Konsumenten« vorherrsche (ebd., 109). Dieser löse sich weder durch zentralistische Verstaatlichung noch durch rein syndikalistische Genossenschaften automatisch auf. Stattdessen müsse der Sozialismus, als erste Stufe der Entwicklung der Menschheit zur vollständigen Emanzipation der Arbeit, diesen Gegensatz praktisch zum Ausgleich bringen, so Korsch. Und zwar auch auf rechtlich institutionelle Weise in Form einer Rätedemokratie.

Die Verknüpfung von politischer Revolution, also staatlicher Machtausübung und dem Aktivismus der sozialen Akteur*innen von unten, könne in der rätedemokratischen Rechtsform die Gefahr des staatlichen Bürokratismus einerseits und der syndikalistischen Eigenbrötelei andererseits in Schach halten. Denn auch nach Ausschaltung sämtlicher kapitalistischer Privateigentümer ließen sich dieselben Produktionsmittel zur selben Zeit nur von einer bestimmten Anzahl von Arbeitern benutzen. Gleiches gelte für jedes Konsumtionsmittel: Es könne nur von einer bestimmten Anzahl von Konsumenten verbraucht werden. Wolle man aber in einer wirklichen sozialistischen Wirtschaftsform gerade neue Formen von Sondereigentum verhindern, so werde sofort deutlich, dass weder die reine Verstaatlichung noch die syndikalistische Selbstverwaltung allein den beabsichtigten Zweck erreichen könne. Es komme, so Korsch, durch die jeweilige Dominanz von Interessen entweder zu einem Produzenten- oder zu einem Konsumentenkapitalismus. Wirkliches sozialistisches Gemeineigentum entstehe demgegenüber erst dadurch, »dass in jeder Industrie, [...]an die Stelle des bisherigen Privateigentümers oder der von ihm eingesetzten Produktionsleiter die Vertreter aller arbeitenden Produktionsbeteiligten« treten – als wirkliche »Ausüber der Herrschaft über den Produktionsprozess«. Gleichzeitig müssten die Einschränkungen, die dem privatkapitalistischen Eigentum an den Produktionsmitteln schon »durch die staatliche ›Sozialpolitik‹ aufgenötigt [sind], zu einem effektiven Obereigentum der Gesamtheit weiterentwickelt werden« (ebd., 118). Also nur durch echte demokratische Planung und Kontrolle des Produktionsprozesses könne sozialistisches Gemeineigentum entstehen, so seine These. Sämtliche Industriezweige seien deshalb in Syndikate zusammenzufassen, die den institutionellen Rahmen genau dieses demokratischen Aushandlungsprozesses bilden sollten.

Die Gefahr eines neuen Konsumentenkapitalismus werde dadurch gebannt, dass sämtliche Industriebetriebe hinsichtlich der Beherrschung des Produktionsprozesses vollständige Autonomie besitzen. Diese Stärkung der betrieblichen Eigeninitiative und die Ausweitung der Autonomie auf alle Betriebsangehörigen solle die befürchtete bürokratische Schematisierung und Erstarrung verhindern. Ein Produzentenkapitalismus hingegen werde dadurch verhindert, dass nicht mehr für den Markt, sondern für den Bedarf der Gesellschaft produziert wird. Dieser Bedarf müsse öffentlich ermittelt werden und sei für die Produktion der autonomen Syndikate und Einzelbetriebe bindend, das Interesse der Gesamtheit der Konsumenten folglich gesichert. Ein echter Gemeinsinn für die sozialistische Produktion könne erst langsam erwachen und müsse deshalb von langfristig wirkender Bildung und Erziehung zum Sozialismus begleitet werden.

Veranstaltlichung als Schlüssel zu Sozialistischem Eigentum

Die Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« schlägt vor, die zu vergesellschaftenden Wohnungskonzerne in eine »Anstalt öffentlichen Rechts« zu überführen, und greift damit einen weiteren programmatischen Gedanken von Korsch auf. Als rechtliche Form, die ein Industriezweig nach der Sozialisierung annehmen sollte, hält er die »Veranstaltlichung« für geeignet, wie sie bereits als Modell der Carl- Zeiss-Stiftung in Jena erfolgreich praktiziert wurde. In einer von Ernst Abbe ausgearbeiteten Verfassung wurde das gesamte Produktionsvermögen in eine Stiftung überführt, also einer »juristischen Person« übereignet. Die wirtschaftliche und technische Leitung der Betriebe übernahm ein Verwaltungs- und Stiftungsrat, wodurch eine persönliche Bereicherung der alten Eigentümer*innen ausgeschlossen wurde. Der erzielte Gewinn kam der wissenschaftlichen Forschung zugute, dem Ausbau von Sozialeinrichtungen, dem Bau von Arbeiter*innenwohnungen oder der Errichtung von Kultureinrichtungen, etwa des berühmten Jenaer Volkshauses von 1903. Die Arbeiter*innen selbst hatten mit ihren Ausschüssen lediglich das Recht auf Anhörung in Betriebsbelangen. An diesem Vorbild setzte Korsch mit seiner Idee einer umfassenden Erweiterung der Selbstbestimmungsrechte im Betrieb an.

Der aus der Soziologie Albert Schäffles und Max Webers stammende, heute etwas angestaubt anmutende Begriff »Veranstaltlichung« charakterisiert der Sache nach nichts anderes, als dass es im Zuge der Rationalisierung der Arbeitsprozesse zu einer Versachlichung der sozialen Beziehungen kommt. Die gesamte soziale Ordnung wird angesichts wachsender Arbeitsteilung weniger durch Moral aufrechterhalten als vielmehr durch Neutralisierung und Verrechtlichung, also durch Veräußerlichungen oder eben »Veranstaltlichung«.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung moderner kapitalistischer Industriegesellschaften diskutiert auch Korsch die Sozialisierungsfrage: Wie lassen sich langfristig die immer weniger auf personale Autorität basierenden betrieblichen Abläufe in eine Eigentumsform des Gemeinwesens transformieren, die zugleich die Chance böte, das Gemeineigentum sozial, ökonomisch und rechtlich unter demokratischer Kontrolle zu halten, ohne sich der Gefahr bürokratischer Stagnation auszusetzen? Sicher wirkte die persönliche Erfahrung aus dem Jenaer Zeiss-Modell anregend dafür, als Vergesellschaftungsform die »Veranstaltlichung« im Gegensatz zur Verstaatlichung zu wählen. Die »Veranstaltlichung« bietet als rechtliche Form des anonymisierten und entpersönlichten Eigentums, zumindest der Möglichkeit nach, eine Form der demokratischen Selbstverwaltung, die die Entwicklungsfähigkeit des Sozialismus sowohl gegenüber fesselnden Bürokratien als auch gegenüber dominierenden Partialinteressen in Schach halten könne – und darum ging es ihm.

Vorläufiges Scheitern

Korsch verstand seine rätesozialistischen Überlegungen nicht nur als Alternative zur Verstaatlichungsideologie, sondern auch als Alternative zu einer einfachen Rückkehr zur kapitalistischen Produktionsweise, zu deren Anwalt sich die modernisierte Sozialdemokratie aufgeschwungen hatte. In der politischen Lage des revolutionären Deutschlands von 1919 fanden seine Ideen jedoch keinen politischen Rückhalt. Nach der Verabschiedung der bürgerlich-demokratischen Weimarer Reichsverfassung im August 1919 war eine sozialisierte Volkswirtschaft in der von ihm vorgeschlagenen Form nicht mehr durchsetz- bar. Die verstaatlichte Gesellschaft der Sowjetunion mit ihrer Planwirtschaft schien politisch zeitweilig die einzig verbleibende Alternative, für die sich die zunehmend in Abhängigkeit geratene KPD engagierte.

In der kritischen Rückschau auf das Scheitern des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, dem äußerlich eigentlich »nichts im Wege gestanden« habe, nennt Korsch zwei Gründe dafür: Zum einen habe es an einem die Massen mit sich »fortreißenden Glauben an die sofortige Realisierbarkeit des sozialistischen Wirtschaftssystems« (ebd.,219) gefehlt. Zum anderen beschreibt er – wie bereits 1912 angedeutet – eine »fast unverständliche Rückständigkeit der sozialistischen Theorie gegenüber allen Problemen der praktischen Verwirklichung« des Sozialismus (ebd.). Nicht zuletzt deshalb habe sich das Bürgertum als herrschende Klasse politisch und ökonomisch wieder konstituieren können.

Mit dem Hinweis auf die sozialpsychologischen Gründe des Scheiterns hatte Korsch frühzeitig auf den unzertrennlichen Zusammenhang von politischer Bildung und demokratischem Gestaltungsvermögen aufmerksam gemacht. Eine sozialisierte Volkswirtschaft in einem demokratischen Gemeinwesen könne nur funktionieren, wenn die erkämpften Kontroll- und Mitbestimmungsbefugnisse auch tatsächlich wahrgenommen würden. »Die praktische Möglichkeit der direkten Demokratie hängt von der andauernden, nie erlahmenden, sich stets erneuernden lebendigen politischen Willensbildung in den Grundzellen der Räteverfassung, den Urwahlkörpern ab.« (Oertzen 1976, 339)

Der kurze Frühling der Sozialisierung

Angesichts des fatalen Zusammenspiels von kapitalistischer Macht und gesellschaftlicher Barbarei im Nationalsozialismus erlebte die Forderung nach Sozialisierung nach 1945 einen erneuten kurzen Aufschwung. So wurden 1946/47 in allen deutschen Landesverfassungen Sozialisierungsnormen fixiert, die den Gesetzgeber zu einem konkreten, von der Verfassung erteilten Sozialisierungsauftrag verpflichteten. Selbst das CSU-geführte Bayern beauftragte den Staat ausdrücklich damit, die Grundproduktion zu vergesellschaften.

Die wiederbegründete SPD nahm auf ihrer Konferenz von Wennigsen am 5. Oktober 1945 nicht nur Leitsätze für ein Wirtschaftsprogramm auf, das die sofortige Sozialisierung der Grundindustrie, der Energiewirtschaft, des Verkehrswesens, der Versicherungen und Banken vorsah, sondern auch deren planwirtschaftliche Lenkung in Institutionen der Wirtschaftsdemokratie. Und auf ihrem Parteitag von Hannover im Mai 1946 erinnerte sie daran, dass das Dritte Reich durch das Finanzkapital auch deshalb zur Macht gebracht worden war, um die Gefahr einer sozialistischen Demokratie in der Wirtschaftskrise zu bannen. Die Demokratie sei im Kapitalismus stets gefährdet, wie andererseits der Sozialismus ohne Demokratie ein Zerrbild und objektiv unmöglich sei. Die Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel sei deshalb sofort erforderlich, hieß es in den damaligen Parteitagsreden.

Die Umsetzung dieser mehrheitlich geforderten Maßnahmen scheiterte nicht zuletzt am Willen der westlichen Besatzungsmächte, insbesondere an den USA. Dies zeigte sich besonders pikant in der Abstimmung der hessischen Landesverfassung am 1. Dezember 1946: In der Hoffnung, damit das Anliegen zum Scheitern zu bringen, bestand die US- amerikanische Besatzungsmacht darauf, dass der Sozialisierungsartikel 41 einem Sonderplebiszit unterworfen wurde. Die Wähler*innen stimmten jedoch mit 76,4 Prozent für die Gesamtverfassung und mit 72 Prozent für Artikel 41 (vgl. Wilken in diesem Heft).

Und noch 1951 auf der Staatsrechtslehrertagung zum Thema »Enteignung und Sozialisierung« kam der eher NS-belastete Hans Peter Ipsen zum Ergebnis, dass »aus der positiven Entscheidung des  Grundgesetzes zur sozialstaatlichen Gestaltung [...] die Sozialisierung legalisiert worden ist« und damit der Akt »der Ablösung der kapitalistischen Ordnung« ohne Verfassungsänderung und ohne Bruch der legalen Ordnung stattfinden könne (Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1952, 102; vgl. außerdem Drohsel/Röhner in diesem Heft).

Diese verfassungsrechtliche Interpretation für eine etatistische Eingriffsforderung in die Eigentumsfrage verkehrte sich zwei Jahre später in der Sozialstaatsdebatte in ihr schieres Gegenteil. Gegen die wirtschaftsliberale Deutung des Eigentumsbegriffs von Ernst Forsthoff sprach damals der sozialistische Staatsrechtler und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth (1954, 338ff). Er arbeitete heraus, inwiefern durch den Sozialstaatsartikel 20 in Verbindung mit Artikel 28 die Voraussetzung für eine grundsätzliche Erweiterung der Wirtschafts- und Sozialordnung bis hin zu einem demokratischen Sozialismus gegeben sei, und hielt so eine verfassungsrechtlich garantierte Ermöglichung einer sozialistischen Gesellschaft im Klima des Kalten Krieges zumindest in der Diskussion.

Dreh- und Angelpunkt: Planung

Offen blieb in all diesen grundlegenden Erörterungen der Sozialisierungsfrage das Problem der Planung. Dabei bildet die Frage der Bedarfserhebung eine grundlegende Voraussetzung für eine Transformation der profitorientierten Marktwirtschaft in eine Produktion von Gebrauchswerten. Korsch hatte das Problem bereits 1919 erkannt. Dieser Teil seines Vorschlags war jedoch vor einem Jahrhundert der am schwierigsten zu bearbeitende, da zum einen die Sozialwissenschaften nicht darauf ausgerichtet waren, sich dieses Problems anzunehmen, und es zum anderen unmöglich schien, Bedarfsfeststellung jenseits von staatlichen Planungsbehörden auch nur zu denken. Die Frage der demokratischen gesellschaftlichen Aushandlung von allgemeinen Bedürfnissen erfordert gesellschaftlich und kulturell ein relativ stabiles geistiges Umfeld. Nur so lässt sich eine eigene Entwicklungsdynamik bewahren und verhindern, dass diese in Planungsbürokratien oder Bedürfniserweckungskonzernen erstickt. Durch die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologien stehen diese Fragen heute mehr auf der Agenda, als sich das Korsch der Möglichkeit nach vor über einem Jahrhundert hat ausdenken können. Damals versuchte er vorsichtig zwischen der industriellen Autonomie der Betriebsinteressen, den Interessen der Gesamtheit der Konsument*innen  und der staatlichen Regulierung auszutarieren, um sein Modell entwicklungsfähig zu halten. Heute aber schwindet zunehmend die zeitliche Differenz zwischen der Entstehung bzw. der öffentlichen Verständigung über die allgemeinen, sozial und ökologisch verträglichen Bedürfnisse und der durch diese Subjekte ausgehandelten produktiven Realisierungen. Durch die wachsende Bedeutung von Produktionssoftware für die Herstellung von Gebrauchsgütern sind diese Prozesse heute sogar in enger Verzahnung demokratisch planbar. Die Programme können technisch kollektiv und somit bedürfnisgesteuert demokratisch in der Free-Software-Bewegung entwickelt werden, können also transparent und demokratisch gestaltet werden. Die Produktivkraftentwicklung und der Wandel gesellschaftlicher Bedürfnisse lassen sich heute weitgehend als zeitlich in Konsonanz verlaufende Prozesse denken und  einleiten.

Sozialismus kommt von Sozialisierung

Die veränderten technischen Möglichkeiten als zusätzliche Chance vorausgesetzt, erscheint es mir von großer Bedeutung, dass die Enteignungsinitiative in Berlin als Rechtsform für die Sozialisierung der enteigneten Immobilien im Anschluss an Korsch eine Anstalt des öffentlichen Rechtsvorschlägt. Die »Veranstaltlichung« stellte für Korsch einen Schlüsselbegriff in der Debatte um die Eigentumsfrage dar. Ebenfalls in Korschs Sinne zielt die Initiative auf eine demokratische Verwaltung unter Beteiligung der »Stadtgesellschaft und der Mieter*innen« und schafft damit die Verbindung zu einer demokratischen Bedarfsfeststellung ebenso wie zu einer innovativen Neugestaltung sozialen Wohnens (vgl. Demirović/Hamann in diesem Heft). Vor allem aber hat sie eine öffentliche Diskussion entfacht, die weit über den eigentlichen Anlass hinausführt: Es geht erneut um die unhaltbaren Auswirkungen kapitalistischer Profitwirtschaft, die alle Lebensbereiche bis hin zur Grundversorgung der unmittelbaren Bedürfnisse verschlingt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Kern angreift. Und es geht um die Frage, wie sich dies nicht nur reformerisch konterkarieren lässt. Wie und in welchen sozialen Formen wollen wir Gesellschaft in Zukunft gestalten? Im Begriff der Sozialisierung, der mehr umfasst als nur eine rechtstechnische Umgestaltung einer Betriebsform, drücken sich diese Fragen scharf aus. Wie in den großen Debatten um Sozialisierung Anfang des letzten Jahrhunderts steht nicht weniger als die Frage nach einem grundlegend veränderten gesellschaftlichen Zusammenhalt zur Diskussion.