Was ist linke Bildungsarbeit? Und was versteht ihr unter emanzipatorischer politischer Bildung?

STEFAN KALMRING: Politische Bildung ist mit einer Entwicklung konfrontiert, die nicht nur das Emanzipatorische, sondern auch das Politische zu verdrängen droht. Konzepte wie Diversity bringen Kernprobleme zum Verschwinden: Bestimmungen von Herrschaft, Macht oder Interessen scheinen darin zwar aufgehoben, sind es aber nur in entleerter Form. Wo Bildungsziele wie Mündigkeit oder Gerechtigkeit durch Leitmotive wie Beschäftigungsfähigkeit oder Teilhabe ersetzt werden, verliert Bildung ihren emanzipatorischen Anspruch. Bildung sollte aber ›gefährlich‹ sein, um eine Formulierung des US-amerikanischen Historikers Howard Zinn zu benutzen. Sie sollte auf die Kritik und Überwindung von Herrschaft zielen und zwar sowohl gesamtgesellschaftlich als auch im Bildungsprozess selbst. 
Dazu müssen aber die drei Ebenen Wissen, Handeln und Persönlichkeitsentwicklung zusammengebracht werden. Linke Bildung muss sich nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form vom Mainstream unterscheiden und dabei geschichtssensibel sein. Emanzipatorisch gedachte Prozesse sind auf der Linken immer wieder auch herrschaftsförmig umgekippt. Die machtvolle Belehrung im Namen der Aufklärung steht einem Lernen gegenüber, das Selbstermächtigungsräume schaffen sollte. So etwas wie das Parteilehrjahr in der DDR will heute niemand mehr. Aber wir müssen fragen, ob nicht solche Traditionen in unserer Bildungspraxis fortwirken.
Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci helfen uns, das linke Mosaik als Bildungsbewegung zu denken. Luxemburg hat die Bedingungen für Selbstlernprozesse der Massen im politischen Prozess ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt, während Gramsci formulierte, dass jedes hegemoniale Verhältnis immer auch ein pädagogisches ist, Politik ohne Bildung wirkungslos bleibt. Mit Bezug auf die schulkritischen Arbeiten Klaus Holzkamps, Paulo Freires und Ivan Illichs sowie auf Oskar Negts Theorie des »exemplarischen Lernens« lassen sich Bildungsformate entwickeln, die an den Alltagserfahrungen der Lernenden anknüpfen und eine autoritäre Belehrungspädagogik unter linken Vorzeichen vermeiden.

KATRIN REIMER-GORDINSKAYA: Was emanzipatorische Bildung ist, lässt sich nur im Verhältnis zu jeweils dominanten und/oder hegemonialen Bildungspraxen und mit Blick auf spezifische Bereiche bestimmen – also Alltag, Bewegungen, Parteien, Bildungssystem. Geknüpft ist sie allerdings daran, gedanklich und praktisch für Verhältnisse zu sorgen, in denen »die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, wie es im Kommunistischen Manifest heißt. Eine solche allgemeine Befreiungsperspektive fordert Lernprozesse heraus, in denen auch gegenhegemoniale Bündnisse gesucht und gebildet werden können. Darin liegt eine wesentliche Differenz zwischen neoliberal eingemeindeten und widerständigen Impulsen im Diversitäts-Intersektionalitäts-Block, den Stefan angesprochen hat. Im Anschluss an die genannten BildungstheoretikerInnen muss politische Bildung ihren Ausgangspunkt in subjektiven und/oder kollektiven Handlungsproblematiken nehmen. Sie sollte diese aber auf ihre gesellschaftliche Entstehung sowie auf Widersprüche hin analysieren helfen. Wenn dies gelingt, wird expansiv begründetes Lernen – wie Holzkamp das sagt – ermöglicht, weil eigene Probleme und Interessen verhandelt werden, anstatt fremdgesetzte Lehrziele durchzusetzen.
Ich möchte aber noch auf drei Punkte hinweisen, die oft missverstanden werden: Die genannte Subjektorientierung steht nicht im Gegensatz zur Aneignung von (Gesellschafts-) Theorie, sondern schließt diese unbedingt ein. Didaktik und Formate allein garantieren noch keine emanzipatorische Bildungsarbeit, sie entscheiden aber mit darüber, was überhaupt gelernt werden kann. Methoden, die auf Anschaulichkeit und Erleben zielen, unterschreiten jedoch das Denken gesellschaftlicher Verhältnisse und verschenken oft das kritische, erkenntnisleitende Potenzial von Emotionen.

HEINZ HILLEBRAND: Ich würde es so formulieren: Wenn politische Bildung emanzipatorisch sein will, muss sie ihren Teil dazu beitragen, die gesellschaftlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zu begrenzen und langfristig abzuschaffen. Gleichzeitig sollte sie subjektive Handlungs- und Kritikfähigkeit stärken und Selbstveränderung im progressiven Sinne unterstützen. Peter Weiss schreibt: »Wenn wir uns nicht selbst verändern, bleibt es für uns folgenlos.« Wichtig ist mir, dass beide Aufgaben zusammen und nicht gegeneinander gestellt werden.
Linke politische Bildung muss ihre eigene Arbeit reflektieren, die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie stattfindet. Der neoliberale Kapitalismus ist unterdrückend, prekarisierend und ausbeutend, aber eben nicht nur. Im Prozess der Umwälzung der Lebensverhältnisse landet einiges auf dem Müll, das da auch hingehört. Es entstehen neue Freiheiten und Spielräume, allerdings meist als limited goods, die eine entsprechende Gehaltsklasse voraussetzen. Solche Widersprü- che gibt es auch im umkämpften Bereich der Bildung. Inhalte und Methoden des Bildungsmarktes werden vielfach kritiklos in linke Zusammenhänge übernommen. So sind in der linken Bildungsarbeit viele »TrainerInnen« unterwegs – ein Begriff, der Asymmetrien und entsprechende Lernerwartungen befördert.
Die theoretischen Bezüge sind bei uns ähnlich, im Konkreten gibt es Differenzen. Nehmen wir den Begriff der Subjektorientierung, auf den auch Katrin eingegangen ist. Als »subjektorientiert« wird auch die Weiterbildung in manchen Unternehmen bezeichnet. Natürlich wollen wir kein DDR-Parteilehrjahr mehr. Allerdings wurde die Ablehnung desselben nicht selten ins Gegenteil verwandelt: in Beliebigkeit. Das Gegenteil von einem Fehler ist eben auch ein Fehler.

Worin liegt die strategische Perspektive eures Tuns, und wie verbinden sich darin Politik und Bildung?

SK: Der/die Lernende ist keine leere Box, Lernen ist eine aktive Tätigkeit. Wird nicht aus eigener Motivation gelernt, sind alle guten Absichten der BildnerInnen umsonst. Wir können Lernräume zur Verfügung stellen, Impulse setzen und Informationen, Denkwerkzeuge und Lernstrategien anbieten. Bestimmte Lernbedürfnisse werden den Teilnehmenden aber oft erst im Prozess bewusst und können erst dann artikuliert werden. Deshalb braucht es BildnerInnen, die flexibel reagieren können. Wir halten feste Seminarleitfäden für problematisch, weil damit die Vorstellung verknüpft ist, dass Lernprozesse immer nach ähnlichem Muster funktionieren. Wir haben es in den Seminaren aber mit Menschen zu tun, die eigene Vorstellungen von der Welt und ihren Interessen besitzen. Je nach Zielgruppe, Lernthema und Lernanlass sollten also immer wieder neue und andere Angebote entwickelt werden. Bei uns werden Kursangebote gemeinsam auf der Grundlage eines Abgleichs von Bedürfnissen der beteiligten Organisationen und Teilnehmenden sowie den Angebotsmöglichkeiten der Stiftung und der BildnerInnen entwickelt.
Strategisch geht es darum, unterschiedliche linke Akteure aus Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zusammenzubringen, damit sie zusammen lernen, sich austauschen und nicht in ihren Organisationslogiken gefangen bleiben. Wir versuchen, die besonderen Handlungsprobleme der Politaktiven ins Zentrum zu stellen, indem wir auch an politischen Realfällen arbeiten. Sitzen im Seminar zum Beispiel Aktive, die in einem Stadtteil von Halle die Schließung einer Sparkasse verhindern wollen, dann werden Fertigkeiten und Wissen mit direktem Bezug auf diese Praxen vermittelt, statt im Allgemeinen zu verbleiben.

KR: Um eine strategische Perspektive zu bestimmen, sind zunächst die jeweiligen Verhältnisse zentral, in denen wir bildend agieren. In meinem Fall ist es das Hochschulsystem, das selbst ein Kampffeld ist: Mit der in den 1980ern in Westdeutschland angekündigten Elitenbildung wurde erst im Neoliberalismus ernst gemacht. Die Verschärfung sozialer Ungleichheit fand ihren Niederschlag im Bildungssystem. Der Zugang zu gut ausgestatteter, höherer Bildung wurde beispielsweise durch Quotierung von M.A.-Studiengängen, oder durch die Exzellenzinitiative gezielt verknappt. Das hat die Konkurrenz der Lernenden untereinander verstärkt. Diese wirkt bis ins Schulsystem, ja sogar in den Elementarbereich hinein. Der ›Erfolg‹ der einen sowie der ›Misserfolg‹ der anderen erscheinen in solchen Konkurrenzverhältnissen als Resultat individueller (Un-)Fähigkeit, als positives oder negatives Verdienst. Das nennen wir »Meritokratisierung«. Begleitend zu dieser Produktion des Gegensatzes von ›Elite‹ und ›Masse‹ werden mühsam errungene Möglichkeiten demokratischer Kontrolle abgebaut. Aus emanzipatorischer Sicht geht es also um eine Redemokratisierung der Hochschulen und darum, die Konkurrenz in solidarischer Aktion zu entschärfen. Außerdem geht es um eine Auseinandersetzung mit grundlegenden ideologischen Praxen des (Neo-)Liberalismus, die antihumanistisch und (klassen-)rassistisch zugespitzt werden – wie bei Sloterdijk oder Sarrazin.
Soweit es um das Wie des Lehrens und Lernens geht, haben wir es heute in der Schule und an den Hochschulen mit Formen zu tun, die eine »kontrollierte Autonomie« und »kooperative Konkurrenz«, wie es Peter Vieth nennt, hervorbringen (sollen). Das heißt, dass teils intensivierte Elemente der fordistischtayloristischen Disziplin (Lehrlernen, Testen) sich mit einer partiellen Freisetzung der Subjekte (gleitende Zeiteinheiten, Projekt- und Gruppenarbeit) verbinden. Autonomie, Kooperation, Subjektorientierung stehen hier hoch im Kurs. Wodurch unterscheiden sich Praxen emanzipatorischer Bildungsarbeit davon?

HH: Die Teilnehmenden von Bildungsveranstaltungen entscheiden selbst, was sie lernen, das hat Stefan ausgeführt. Für mich heißt das aber auch nicht, auf die Formulierung von Lehr-/Lernzielen zu verzichten, sondern auf belehrendes Verhalten. Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, die expansives Lernen unterstützen. Die Teilnehmenden wissen selbst sehr viel, das ist richtig. Dieses Wissen muss aber nicht nur gehoben, sondern teils auch infrage gestellt werden. Auch linkes Alltagsbewusstsein ist fragmentiert, inkohä- rent und widersprüchlich. Der Alltagsverstand entwickelt Elemente von Wissenschaftlichkeit und theoretische Modelle, es lässt sich aber nicht alles aus ihm erschließen. Sich bewusst zu machen, dass man selbst Teil hegemonialer Verhältnisse ist, setzt erst Kenntnisse darüber voraus, was Hegemonie ist.

Was heißt das für linke Bildung?

HH: Die Argumentation von Stefan ist aus meiner Sicht zu unspezifisch. Ebenso wenig wie PolitologInnen gute PolitikerInnen sein müssen, sind LehrerInnen oder ErwachsenenbildnerInnen automatisch gute Teamende in politischen Seminaren. Bei unseren Seminaren sind ganz verschiedene Kenntnisse gefragt: inhaltliche Kenntnisse und Kenntnisse der Partei, Seminarerfahrung und Erfahrung mit Gruppen. Wichtig ist aber auch der ›Stallgeruch‹, die Zugehörigkeit zum Milieu, das Sprechen einer gemeinsamen Sprache. Die Handlungsprobleme der politisch Aktiven sind eine gute Ausgangsbasis, aber auch die Probleme und Notwendigkeiten der Organisation, der sich die Leute ja bewusst angeschlossen haben, sind wichtig. Im Idealfall trifft das zusammen, aber in der Regel entspringt es nicht der Arbeit vor Ort, sich mit der Geschichte der Linken oder mit der Klassenanalyse von Bourdieu zu beschäftigen. Für eine fundierte politische Arbeit kann aber beides nützlich sein. Uns geht es tatsächlich um systematisierte Grundlagenbildung. Was muss man wissen, um die heutige kapitalistische Gesellschaft besser zu verstehen? Wie kann Gesellschaft überhaupt verändert werden?
Wir arbeiten in systematisiert aufbauenden Bildungsangeboten mit Seminarleitfäden, für die wir Teamende ausbilden. Seminarleitfäden sind eine große Hilfe für alle, die keine Seminarprofis sind, also die meisten ehrenamtlichen Teamenden. Im besten Falle fließen neueste Erkenntnisse und kollektive Erfahrungen in sie ein. Aufseiten der Lehrenden ist der Erfolg des Seminars dann nicht nur von den individuellen Kenntnissen der jeweiligen Teamenden abhängig. Die Leitfäden fördern zudem die Transparenz und die qualitative Auswertung.

Was sind die Bedingungen eurer Bildungspraxis, wer die AdressatInnen?

SK: Unser Angebot richtet sich an alle, die sich kritisch-konstruktiv mit ihrer eigenen Politik auseinandersetzen wollen und die ihren Bildungsprozess auch als Organisierungsprozess verstehen wollen, um individuelle und soziale Emanzipation miteinander zu verbinden. Es gibt keinen Kanon, kein fertiges Wissen, das nur noch zu vermitteln ist. Es wird nicht vorab festgelegt, wer mit welchen Inhalten zu emanzipieren ist oder wer emanzipieren darf. Lernziele werden bei uns zusammen mit den Teilnehmenden entwickelt. Heinz hat Recht, dass BildnerInnen einen linken Hintergrund haben müssen. Bei uns entstammen sie dem »linken Mosaik«, genau wie unsere TeilnehmerInnen.
Meiner Auffassung nach folgt nicht aus der richtigen Theorie notwendig eine erfolgreiche linke Praxis. Und ich halte es auch für falsch, dass ein bestimmter Ansatz – etwa ein marxistischer, feministischer oder der der kritischen Theorie – eine sichere Gewähr für eine Einheitlichkeit von Bildung liefern kann. Die neue Unübersichtlichkeit und Komplexität der Welt machen eine solche Position fragwürdig. Weder benötigen wir Bildung im Sinne eines festgelegten Wissens, noch sollte man in postmoderne Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit abgleiten. Wir brauchen Bildung, die einen Beitrag zu einer linken Wissenskonstruktion leistet, und zwar über eine Arbeit an exemplarischen Fällen und über die Vermittlung entsprechender Methoden.

KR: Die Flexibilisierung der Strukturen außerschulischer Bildung hat prekäre Arbeitsverhältnisse zum Standard gemacht. Mittel und Muße zur Entwicklung und Umsetzung von Ansätzen gegen den Strom sind deshalb rar. Trotzdem gibt es Projekte, die sich kritisch zu einer gängigen (auch linken) Praxis verhalten, die ihren emanzipatorischen Anspruch dadurch untergräbt, dass sie Erfahrung und Gesellschaftstheorie in einen Gegensatz bringt. Statt lebensweltlicher Erfahrungen wird häufig die Simulation von Erfahrung in Übungen, Aktivitäten zum Ausgangspunkt genommen. Damit wird sowohl die Ausblendung von Gesellschaft als auch die der Subjekte didaktisch reproduziert. An den Hochschulen ist aber eine neue Sammlung von Kräften spürbar, die im Verein mit sozialen Bewegungen die Tradierung und Weiterentwicklung marxistisch fundierter Gesellschafts- und Subjekttheorien rudimentär absichern.
Was die AdressatInnen angeht: Unterscheide ich Jugendliche und Erwachsene entlang verschiedener Positionen und Lebenslagen, gibt es für mich – abgesehen von Personen, die dezidiert antiemanzipatorische Positionen vertreten – keine Gruppe, die per se keine sinnvolle Zielgruppe politischer Bildung wäre. Während politische Jugendbildung insgesamt eher sogenannte Bildungsaffine erreicht, haben wir in meinen Projekten vorwiegend mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen gearbeitet, außerdem mit Fachkräften (ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen), die selbst in prekären Verhältnissen leben und eine wichtige Rolle in der Transformation von Reproduktionsverhältnissen spielen können. Letzteres gilt auch für die Studierenden, mit denen ich arbeite. Dabei sind Studierende aus Arbeiterfamilien aber in einer deutlichen Minderheit, die Alltagskultur an der Hochschule ist deutlich am Habitus der Mittelschicht orientiert.

HH: Mit der Gründung der LINKEN gab es einen Aufschwung der innerparteilichen Bildungsarbeit. Für eine Partei mit 60000 Mitgliedern ist deren finanzielle Ausstattung aber eher bescheiden. Gleichwohl passiert einiges: Wir haben eine große Bandbreite von Grundlagenund Nachwuchsförderungsseminaren. Der Kurs »Die LINKE 1« beispielweise, eine Mischung aus Wochenendseminaren und E-Learning, läuft über ein Jahr und behandelt die Schwerpunkte Mensch und Gesellschaft, Politische Ökonomie und Politische Theorien sowie Bewegungen. Die »Bernauer Seminare« haben einen höheren theoretischen Anspruch, dann gibt es noch jährliche stattfindende Frühlingsakademien und Bildungstage. Außerdem Seminare für Kreisvorsitzende und Finanzverantwortliche, Wahlkampfseminare und Begleitseminare zur Kampagne Das muss drin sein, also Qualifizierungen für eine Verbesserung der politischen Arbeit der LINKEN. All das ist nur möglich, weil es einen Kreis von Leuten gibt, den wir die »Bildungsgemeinde« nennen. Diese GenossInnen betrachten Bildungsarbeit als ihren politischen Schwerpunkt, sie arbeiten ehrenamtlich.
Strategisch kämpfen wir um die Verankerung von Bildungsarbeit in der gesamten Partei bis in die Basisorganisationen, damit die LINKE zu einer lernenden Partei wird. Strategische Diskussionen und politische Analysen sollen nicht nur Angelegenheit von ExpertInnen und der Leitungsebenen sein, sondern auch an der Basis stattfinden. Damit leisten wir unseren Beitrag für eine Mitgliederpartei und die Demokratisierung politischer Prozesse.

Wie geht ihr in euerer Bildungspraxis mit Differenzen und Ungleichheit um?

SK: Linke Bildung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Bestehendem und Möglichem, soll soziologische Fantasie und die Fähigkeit zu konkreter Utopiebildung fördern. Solche Lernprozesse bauen auf den sozialen Beziehungen einer Lerngruppe auf. Oft will man möglichst schnell zum »eigentlichen Thema« kommen, obwohl dem Gruppenbildungsprozess ein ebenso großes Gewicht zuzumessen ist wie dem eigentlichen Seminarinhalt.
Selbstverständlich sind linke Lerngruppen dabei auch von Herrschaftsbeziehungen durchzogen, kurz race, class und gender sind wichtig. Sowohl beim Gruppenbildungsprozess als auch in der nachfolgenden Lernphase ist es deshalb sinnvoll, die Herrschaftslinien immer wieder selbstkritisch und gruppenbezogen zum Thema zu machen. Differenzen können produktiv sein. Konflikte, die sich aus Ungleichheitsformen ergeben, gilt es in den Lernprozess zu integrieren und bildend zu verarbeiten. Wie gehen wir beispielsweise damit um, wenn sich eine person of color sexistisch äußert? Herrschaftslinien sind oft überlagert und verwoben – auch in Seminaren.
Es geht bei linker Bildung immer auch um Selbstveränderung. Damit werden Haltungsfragen und die Ausbildung einer linksdemokratischen Kultur zum Gegenstand: Wie gehe ich selbst mit den Herrschaftslinien und meiner eigenen Verstricktheit um? Wie können wir eine linke Kultur der pluralen Auseinandersetzung ausbilden, die Vielfalt als Wert und nicht als Problem ansieht? Wie können Differenzen thematisiert und gleichzeitig ein gemeinsames Projekt der Solidarität ausgebildet werden? Bildung kann hier ansetzen, kann Gruppenprozesse oder Umgangsformen zum Thema machen.

KR: Die Fragen von Mehrheiten/Minderheiten, Dominanzverhältnissen, Universalismus, Identität und Differenz, aber auch die Frage, wessen Wissen zählt – all das sind zentrale Themen meiner Bildungspraxis. Ich halte es für wichtig, zwischen Positionen in und Politiken der Differenz zu unterscheiden. Produktiv finde ich, subjektive oder kollektive Handlungsproblematiken unter Bezug auf Theorien gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu durchdringen. Die Empörung gegen erfahrene Ungleichheit beispielsweise ist Antrieb für soziale Bewegungen. Subalterne wissen um Ungleichheiten, die sie betreffen, während die Privilegierten oft mit der Blindheit ihrer Normalität geschlagen sind. Zugleich gilt, mit Stuart Hall gesprochen, dass politische Subjekte – ProletarierInnen, Schwarze in seinem Beispiel – nicht per se revolutionär oder antirassistisch sind. Spätestens hier stellt sich die Frage, wie Erfahrungen von und in Ungleichheitsverhältnissen gedeutet werden. Die Auseinandersetzung mit Differenz scheint mir hier analytisch wie praktisch oft zu kurz zu greifen. Theorien rassistischer, Geschlechter- und Klassenverhältnisse sind nicht hinreichend, um Gesellschaft zu begreifen. Intersektionale Machtverhältnisse sind eingelassen in die Reproduktionsweisen des Kapitalismus in seiner jeweiligen Form. Entscheidend ist, wieder mit Hall, die Vorstellung von einer vertikalen Strukturierung der Gesellschaft, in der von oben wie von unten Politiken in und mit Differenzen gemacht werden. Im progressiven neoliberalen Projekt geht es beispielsweise um die Nutzbarmachung vorgeblicher Begabungsreserven, egal, in welcher Haut sie stecken, wie Wolfgang Fritz Haug das formulierte, egal also, ob jüdisch, schwul etc. Im rechtspopulistischen Neoliberalismus hingegen geht es um die Aussonderung von allerlei Minderheiten. Beide Formen spalten aber potenzielle gegenhegemoniale Bündnisse. Von unten müsste Denken und Handeln darauf gerichtet sein, den Gegensatz zwischen Elite und Masse zu überwinden. Dazu braucht es transversale Politiken, Bündnisse, die, ausgehend vom ›korporativen‹ Stadium von Politiken auf der Basis gleicher Erfahrungen und Zugehörigkeiten, Solidarisierungen von und mit anderen Gruppen organisieren, indem gemeinsame Interessen ausgearbeitet werden. Politische Bildung kann die Räume dafür bereitstellen. Sie ermöglicht es zu verstehen, wie soziale Ungleichheiten begriffen und bearbeitet werden können, indem sie auf gemeinsame Strategien ausgerichtet werden: Was ist das gemeinsame Interesse zwischen Ungleichen, auf das diese sich einigen können?

HH: Die Mitglieder der LINKEN rekrutieren sich vor allem aus vier unterschiedlichen Milieus: aus der linken Szene, vor allem in Großstädten, dem gewerkschaftlichen Milieu, den Prekarisierten und Deklassierten und dem älteren ostdeutschem Milieu, vielfach mit akademischem Hintergrund. Diese Milieus sind heterogen, die Menschen bringen unterschiedliche Kulturen, Wissen und sprachliche Fähigkeiten in die Seminare ein. Wir versuchen in unseren Seminaren, das Gemeinsame hervorzuheben, in dem die Unterschiedlichkeit ihren Platz hat. Das Gemeinsame ist, dass wir GenossInnen sind, die diese Gesellschaft verändern wollen.
Natürlich strukturieren die gesellschaftlichen Verhältnisse unsere Seminare. Die Unterschiedlichkeit der Menschen wird nicht immer akzeptiert, es gibt Herabwürdigung von Menschen mit niedrigerem formalen Bildungsniveau, es gibt Sexismus, Vorurteile gegenüber Deklassierten usw. Hierfür versuchen wir die Teamenden zu sensibilisieren. Wir versuchen an einer gemeinsamen Identität zu arbeiten, die Gründe, warum sich Menschen aus unterschiedlichen politischen Kulturen und Herkünften zusammengeschlossen haben, herauszuarbeiten.Das bedeutet, nach den Ursachen des Scheiterns der großen linken Blöcke zu fragen und auf Spurensuche nach ›verschütteten‹ linken Positionen und Traditionen in der Geschichte zu suchen. Dies ist natürlich in gewissem Sinne invention of tradition (Hobsbawm), also Konstruktionsarbeit.

Können Bildungsformate als Lernräume und Konfliktterrains in politischen Auseinandersetzungen fungieren, beispielsweise im Spannungsfeld Partei/Bewegung?

SK: Gegenwärtig ist viel vom linken Mosaik unterschiedlicher Strömungen und Organisationsformen die Rede. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass die Mosaiksteinchen Partei, Gewerkschaften und soziale Bewegungen eines Tages ein mehr oder weniger stimmiges Gesamtbild abgeben. Dies geschieht jedoch nicht von selbst, denn dafür müssten sich die Akteure verändern. Selbstveränderung ist aufwendig und geschieht meist nur, wenn der Nutzen dafür kenntlich ist. Gemeinsame Bildungserfahrungen können dazu beitragen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung versucht, Seminare und Kurse anzubieten, die eine solche verbindende Aufgabe übernehmen können.

KR: Womöglich ist diese Frage eine metropolitane. Ich arbeite und lebe im ländlichen Raum, in dem es zwar Parteien und auch Ausläufer sozialer Bewegungen gibt. An der Zeit scheint mir hier aber das Ringen um emanzipatorische Bildung in der Zivilgesellschaft zu sein. Aber: Ja, Sprache, Formen und Inhalte politischer Bildung unterscheiden sich zuweilen deutlich an parteinahen und an bewegungsnahen Orten, und auch in intergenerationalen Verhältnissen. Die Herausforderung ist eine wechselseitige: Einerseits wäre es schön, wenn sich die Einsicht durchsetzte, dass – in einem auch auf andere Differenzen übertragbaren Bild – eine écriture féminine nicht nur Frauen, sondern auch Männern ein Mehr an Gestaltungskraft und Genuss verschaffen könnte. Umgekehrt wünschte ich mir, dass die in diversitätsbewusster Rede und Gestik Geschulten, die Angehörigen vorangegangener linker Bewegungen als GenossInnen akzeptierten, von (und mit) denen einiges zu lernen wäre.

HH: Gemeinsame Bildungsaktivitäten linker Kräfte sind dringend notwendig, auch weil kritische Gesellschaftstheorien an den Unis entsorgt wurden. Auch Gewerkschaften haben ihre politische Bildungsarbeit zugunsten von Funktionsbildung reduziert und Bildungsstätten geschlossen. Gleiches gilt für außeruniversitäre Bildungseinrichtungen. Gemeinsame Seminare und Aktivitäten verschiedener linker Kräfte könnten helfen, sich besser kennenzulernen, gemeinsam strategische Fragen zu klären, Vorurteile abzubauen. Die positiven Ansätze des Instituts Solidarische Moderne, von ATTAC oder der Rosa-Luxemburg-Stiftung sollten ausgebaut werden.

Das Gespräch führten Janek Niggemann und Barbara Fried.