Organizing ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem wichtigen Schlagwort in linken Debatten, in der Gewerkschafts- und Stadtteilarbeit oder der Mieter*innenbewegung geworden. Die Bedeutung von Organizing-Ansätzen für die Entwicklung der Handlungsfähigkeit der gesellschaftlichen Linken ist dabei umstritten.
Je nach Organisierungskontext und Schule existieren sehr unterschiedliche Konzepte von Organizing. Im Folgenden wollen wir kurz und recht abstrakt unser Verständnis von Organizing umreißen und uns dann mit einigen häufig vorgebrachten Vorbehalten gegen Organizing auseinandersetzen.
Unser Verständnis von Organizing
Organizing als Konzept beruht 1 // auf dem politischen Verständnis, dass die massenhafte und kollektive Aktion (seien es Blockaden, Demonstrationen, Boykotts, Streiks, Besetzungen, Volksentscheide etc.) eine zentrale Machtressource der popularen Klassen ist. Diese Aktionen wirken jedoch erst gesellschaftsverändernd, wenn sie in einen tiefgreifenden und langfristigen Prozess der gesellschaftlichen Organisierung eingebettet sind.
Organizing beruht 2 // auf einer Theorie darüber, warum und wie sich Menschen organisieren. Erst wenn Menschen die Möglichkeit sehen, dass sie durch ihre eigene Aktivität für sie wichtige Probleme ändern können, werden sie sich organisieren.
Diese theoretische Annahme wird 3 // in ein Set von Organisierungshandwerkszeug übersetzt, das diesen Prozess fördern soll: zuhörende Ansprache, Beteiligungsorientierung bei Treffen und Aktionen, die Erarbeitung von Kampagnenplänen mit machbaren Zwischenschritten, eine systematische Kartierung des Organisierungsfeldes, kollektive Verhandlungsführung und vieles mehr.
Dieses Handwerkszeug wird 4 // didaktisch so aufbereitet, dass es vermittelbar wird – Organisierung ist ein Handwerk, das gelernt werden muss. Es geht nicht einfach darum, Menschen zu finden, die ihre Mitmenschen für die Durchsetzung bestimmter Inhalte und Interessen organisieren wollen. Es geht vielmehr darum, dabei Erfahrungen zu organisieren und in der Organisierung Fähigkeiten zu vermitteln, die die Grundlagen dafür legen, dass eine Durchsetzung realistisch wird.
5 // Organizing ist eine bestimmte Art und Weise, wie Organisationen ihre Ressourcen einsetzen und Macht aufbauen: Im Mittelpunkt steht die Erweiterung der organisierten Basis und die Qualifikation der bereits Organisierten. Dies erfordert einen Auf- und Ausbau der strategischen Kompetenzen dieser Organisationen. Denn eine Aktivierung wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen in den Auseinandersetzungen wirklich etwas verändern können. Dies jedoch ist nicht einfach an die Entwicklung von Machtressourcen gebunden, sondern auch an deren klugen strategischen Einsatz. Kampagnen mit nicht erreichbaren oder – schlimmer noch – nicht genau definierten Zielen werden auch mit dem besten Organizing-Handwerkszeug nicht organisierend wirken.
Darüber hinaus baut Organizing eine Solidarität auf, die die konkreten Auseinandersetzungen überdauert und andere Kämpfe sowie das (politische) Verhalten in der Gesellschaft oder in der Wahlkabine beeinflussen kann.
Im Folgenden setzen wir uns mit einigen der am häufigsten vorgebrachten Vorbehalte gegen Organizing auseinander.
»Organizing ist alter Wein in neuen Schläuchen«
Meist ist damit gemeint, dass sich Menschen auch schon früher organisiert haben (oder organisiert wurden) und es natürlich in der gesellschaftlichen Linken auch ohne Organizing (Selbst-)Organisierungsprozesse gab und gibt. In den Gewerkschaften wird darüber hinaus oft auf die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die damit verbundene Vermittlung von Handwerkszeug sowie auf den systematischen Aufbau von Fähigkeiten Ehren- und Hauptamtlicher verwiesen (Vertrauensleuteseminare, Ausbildung von Gewerkschaftssekretär*innen).
Selbstverständlich haben Organizing-Ansätze eine Geschichte und beruhen auf den vielen Erfahrungen der gesellschaftlichen Linken. Tatsächlich sind uns jedoch – auch aus den Gewerkschaften – keine Konzepte bekannt, die systematisch die oben genannten Elemente miteinander verbinden.(Erst in den letzten Jahren wurden solche Fragen systematischer in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit aufgenommen. Dies geschah jedoch in direkter Auseinandersetzung mit Organizing-Konzepten.) Organizing beschreibt für uns einen Paradigmenwechsel, denn von der politischen Theorie, Praxis und Organisation verlangt es die Haltung, dass die Organisierung von Menschen die zentrale Aufgabe ist und von allen gelernt werden muss. Die Fähigkeit zur Organisierung ist keine ›natürliche‹ Eigenschaft, die einige mitbringen und andere nicht. Organizing muss trainiert und weitergegeben werden.
So haben wir die Erfahrung gemacht, dass zwar vielen (haupt- wie ehrenamtlichen) Aktiven in den Gewerkschaften bewusst ist, dass die direkte Ansprache von Kolleg*innen wichtig ist, sie jedoch oft von ihrer Stellvertreterhaltung blockiert sind, dass sie sich dafür legitimieren müssten, indem sie etwas Konkretes ›zu bieten‹ hätten. Auch in Mieter*innenorganisierungen begegnen uns Aktive, die sich kaum trauen, Nachbar*innen zu einem Treffen einzuladen, wenn dort nicht zumindest auch eine kompetente Anwältin eine individuelle Rechtsberatung anbietet. Demgegenüber wird mit Organizing eine Haltung praktisch eingeübt, in deren Mittelpunkt das ›Angebot‹ zur Selbstermächtigung steht. Damit wird in Deutschland nun zum ersten Mal systematisch über die Instrumente diskutiert, mit denen Ansprache, Strukturaufbau und Einbeziehung von Menschen in gesellschaftliche Auseinandersetzungen gelingen.
»Organizing ist kein Allheilmittel«
Dieser Vorbehalt ist eine durchaus verständliche Reaktion auf eine gewisse messianische Grundhaltung, mit der Vertreter*innen des Organizing manchmal auftreten. Insofern ist er so banal wie richtig.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Organizing als Konzept wichtige Denkansätze, aber auch das Handwerkszeug enthält, mit denen ein zentrales Problem der gesellschaftlichen Linken angegangen und gelöst werden kann: Die Verankerung in den (all-)täglichen Begehren derjenigen, deren Interessen im kapitalistischen Alltag unter die Räder kommen. Diese Verankerung ist die wichtigste Machtressource linker Politik, ohne die Mobilisierung dieser Interessen wird es keine Veränderung geben. In diesem Sinne können vom Organizing wichtige Impulse für linke Praxis ausgehen: Wer wird eigentlich mit linken Aktivitäten sichtbar? Was müsste sich an den Kampagnen-, Öffentlichkeits- und Aktionsplanungen verändern, damit auch die Repräsentation linker Politik breiter werden kann und nicht nur medienerfahrende Aktivist*innen und Funktionär*innen abbildet? Wie unterscheiden sich Mobilisierung und Organisierung der Menschen?
Im Sinne unseres Organizing-Verständnisses stellen sich vor jedem Treffen und jeder Aktion die folgenden zwei Fragen: Erstens, nützt uns diese Aktion, um größer und stärker zu werden? Zweitens, können wir und alle anderen Aktiven etwas Neues lernen? Der Umstand, dass in vielen Kontexten zu oft die üblichen Verdächtigen die Aktiven oder Repräsentant*innen sind, zeigt eben an, dass der systematischen Weiterentwicklung von Fähigkeiten – von der Organisierung von Treffen bis hin zur Strategiebildung oder Verhandlung – zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Langfristig zielt Organizing immer darauf, dass sich Organizer*innen selbst überflüssig machen.
»Organizing dauert viel zu lange«
Dieses Argument geht oft mit einer Sympathiebekundung für Organizing-Ansätze einher, auf die ein »Ja, aber« folgt. Weil für systematisches Organizing zu wenig Zeit sei, fällt man in routinierte Arbeitsformen von Kampagnen- und klassischer Öffentlichkeitsarbeit zurück oder rechtfertigt die üblichen Repräsentant*innen. »Wir können jetzt nicht die langwierige Arbeit der Organisierung der Menschen beginnen, weil die Finanzkrise nun mal jetzt vor der Tür steht, weil die AfD jetzt ganz akut immer stärker wird oder weil wir jetzt ein gutes Zeitfenster für Verhandlungen eines Tarifvertrages haben.«
Dieses Argument ist so alt wie die deutsche Organizing-Debatte, also fast 20 Jahre. Umgedreht könnte man sagen: Hätte die gesellschaftliche Linke in dieser Zeit ihre Arbeit schon systematisch darauf umgestellt, sich über Themenkämpfe in den popularen Klassen breiter zu organisieren, hätte sie jetzt eine ganz andere gesellschaftliche Verankerung, um auf die akuten Krisen antworten zu können. Darüber hinaus: Wenn es stimmt, dass die Verankerung in den popularen Klassen die wichtigste Machtressource zur gesellschaftlichen Veränderung ist – und nicht nur der nächsten Wahlergebnisse – dann ist das auch kein Argument.
Uns drängt sich der Verdacht auf, dass sich hinter dem »das dauert zu lange« die Vorstellung verbirgt, dass grundlegende gesellschaftliche Veränderungen auch ohne die Organisierung popularer Klassen, nur durch eine veränderte Medienstrategie und andere Formen der Repräsentation oder Mobilisierung der Klasse erreicht werden könnten. Dabei ist es ja nicht falsch, dass die öffentliche Repräsentation durch charismatische Führungsfiguren oder sichtbare Kampagnen eine positive Wechselwirkung mit Organisierungsbemühungen vor Ort haben können. Diese Wechselwirkung kann sich jedoch nur entfalten, wenn diese Formen der Repräsentation auch Organisierungsprozesse widerspiegeln.