Seit geraumer Zeit kursiert unter Aktiven das Wort von der Krise des Sozialforumsprozesses. Wenn das nicht die Axt sein soll, die an einen noch jungen, erst zehnjährigen Baum gelegt wird, ist zumindest einzufordern, dass präzisiert wird, was damit gemeint ist.
Der globale politische Kontext, in dem das WSF entstanden ist, ist ein radikal anderer als heute. In den 1990er Jahren begann von den Ländern des Südens her eine breite Bewegung gegen die Institutionalisierung einer Weltordnung auf der Basis des Freihandels. Globale Finanzinstitutionen wie die gerade gegründete WTO, IWF und Weltbank, diverse multi- und bilaterale Freihandelsabkommen (MAI, FTAA, EU-Richtlinien/Lissabonprozess/Bolkestein usw.) standen im Mittelpunkt einer weltweiten Bewegung. Ihre Hauptträger waren Kleinbauern, indigene Völker und Bewegungen gegen Privatisierung. Die Verteidigung der Gemeingüter und partizipative Demokratie waren verbindende Elemente, neokeynesianische Richtungen fanden sich darin ebenso wieder wie kapitalismuskritische Strömungen.
Die zentralen Losungen waren »Delegitimierung der WTO« und »Globalisierung von unten«. Sie haben weit getragen und im Bewusstsein vieler Aktiver enorme Fortschritte bewirkt. Der wichtigste scheint mir in einem neuen Internationalismus zu liegen, der Solidarität nicht mehr als Geste des Gebens vom Norden in den Süden versteht, sondern als Notwendigkeit, auf die gemeinsamen globalen Probleme trotz unterschiedlicher Ausgangslagen solidarische Lösungen zu finden, die unterschiedliche Interessen respektieren. Die Bewegung kam zu den Ministerratstreffen der WTO, den Versammlungen des IWF, oder des Europäischen Rats zusammen. Die Zielsetzungen – für gerechten Tausch, gegen Freihandel, Schutz der kleinbäuerlichen Produktionsweise, Kontrolle der Finanzströme, Verteidigung und Ausbau der Gemeingüter – waren ausreichend vage, um unterschiedliche strategische Orientierungen zu vereinen: etwa Reform und Abschaffung der internationalen Finanzinstitutionen, Reform und Abschaffung des Kapitalismus. Einzelne Bewegungen wie die der Kleinbauern oder Antiprivatisierungsbewegungen hatten konkretere, lokal umsetzbare Ziele und eigene Dynamiken. Die Bewegungen der Indigenas haben in einigen Andenländern fortschrittliche Regierungen hervorgebracht, die das regionale Kräfteverhältnis verschoben und der Hoffnung auf einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« weltweit neue Nahrung gegeben haben.
Ende der 1990er Jahre kamen in Europa und den USA sozialliberale Regierungen an die Macht, die den Bewegungen einen gewissen Spielraum gaben. Sie waren es zugleich, die liberale Maßnahmen von ungeahnter Tragweite und Unverfrorenheit durchsetzten.
Der Gleichklang zwischen Sozialforumsprozess und der neuen globalisierungskritischen Bewegung wurde in Genua gebrochen: Die ultraliberale, chauvinistische Rechte antwortete mit Gewalt. Der 11. September 2001 arbeitete ihr in die Hände: Sie löste in wichtigen Industrieländern sozialliberale Regierungen ab; der kosmopolitische Freihandelsdiskurs wurde ersetzt durch einen stärker national orientierten. Der »Krieg gegen den Terror« militarisierte die Auseinandersetzung um die »neue Weltordnung«.
Die globalisierungskritische Bewegung hat dadurch einen herben Rückschlag erfahren. Die WTO-Runden stecken gleichfalls in einer tiefen Krise, ebenso die globalen Klimaverhandlungen und die Bemühungen, auf die Finanz- und Wirtschaftskrise eine gemeinsame Antwort der Regierenden, Banken und Konzerne zu finden. Diese Krise ist nicht mehr das Ergebnis des Zusammenwirkens von Verweigerung der Länder des Südens mit den Protesten der sozialen Bewegungen, wie in Seattle, sondern der innerimperialistischen Differenzen im Rahmen der G8 + 4 (BRICStaaten).
Die Sozialforen leiden unter dem Rückgang und der Orientierungslosigkeit der globalisierungskritischen Bewegung. Gleichzeitig lassen die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie ein neues Bewusstsein über die Klimakrise die bisherigen Schwerpunkte in einem neuen Licht erscheinen. Zugleich verschieben sie die Gewichte weg von den Handelsabkommen hin zu den Grundfragen der kapitalistischen Produktion: sozial wie ökologisch. Die globalisierungskritische Bewegung differenziert sich deutlicher auseinander: Der »Reformflügel« setzt klarer als noch zuvor auf einen fortschrittliche »grünen« Kapitalismus; die Formierung antikapitalistischer und ökosozialistischer Positionen steht noch ganz am Anfang. Kopenhagen hat deutlich gezeigt: Es gibt keine gemeinsame Antwort auf die Wirtschaftskrise oder die Klimakrise.
Es gibt nicht weniger Bewegung als vorher, aber sie ist zersplitterter; es ist kein Zufall, dass seit einiger Zeit der größte Erfolg der Sozialforen die Bildung internationaler Netzwerke zu den verschiedensten Fragen ist. Was fehlt, ist der gemeinsame Nenner, wie es das »Delegitimiert die WTO!« sein konnte – nicht nur auf internationaler Ebene, auch auf nationaler Ebene.
Die Sozialforen können den Mangel an gemeinsamer Perspektive nicht voluntaristisch, per Debatte und Beschluss, überwinden. Bewegungen werden nicht »gemacht« und die Interdependenz zwischen Bewegung und ihrer Orientierung ist ein komplexer Zusammenhang, der leichter im Nachhinein beschrieben als im Vorhinein definiert wird.
Der Kern der Krise der Sozialforen scheint mir daher nicht darin zu liegen, dass bislang Parteien nicht zugelassen worden sind oder dass die Sozialforen keine Beschlüsse gefasst hätten. Als die Sozialforen noch eine aufstrebende globalisierungskritische Bewegung begleiteten, war das nicht vonnöten: Der weltweite Antikriegstag (2003) war der Erfolg einer gleichgesinnten und von der Möglichkeit des Erfolgs überzeugten Bewegung. Heute fehlt die gleiche Gesinnung und der Glaube an den Erfolg.
Die Mobilisierung in der Phase des Rückzugs über solche Widrigkeiten hinweg bleibt in der Tat der Parteiform überlassen; doch keine der beiden großen Strömungen im Sozialforumsprozess hat bisher eine neue Internationale hervorgebracht, die ihr Vorbild auch nicht mehr in den vergangenen Modellen schöpfen könnte.
Das zu tun, bleibt eine Aufgabe, die das Sozialforum allerdings nicht lösen kann. Solange Internationalismus keine andere, stärker organisierte Form annimmt, bleiben die Sozialforen der einzige Ort, an dem ein internationaler Austausch der Bewegungen über den eigenen Horizont hinaus möglich ist. In dieser Funktion sind sie unersetzbar. Und es wäre falsch, der Zersplitterung der Bewegungen durch eine Infragestellung des Sozialforumsprozesses noch Vorschub zu leisten.
Die größte Gefahr geht in der gegenwärtigen Situation von der Möglichkeit aus, dass die sozialen Bewegungen die Bewegung des Kapitals in dem Sinne nachvollziehen, dass auch sie sich stärker auf die nationale Ebene zurückziehen und dort Lösungen suchen. Die globalen Probleme können nur global gelöst werden. Mehr Internationalisierung der Proteste ist notwendig, nicht weniger.