Tarifkämpfe werden sich unter Pandemiebedingungen zuspitzen. Erste Anzeichen dafür gab die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes (ÖD) im Herbst 2020. Hier wollten die Arbeitgeber nicht nur eine Nullrunde gegen die Beschäftigten durchsetzen, sondern forderten umfangreiche Verschlechterungen. Gleiches zeichnete sich in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie ab. Angesichts des starken wirtschaftlichen Einbruchs wächst der Druck auf die Konfliktparteien. Aber auch die Beschäftigten sind nicht machtlos, wie die Streiks im ÖD gezeigt haben.
Trotz der erschwerten Pandemiebedingungen waren sie so mobilisierungsfähig wie lange nicht mehr. Dennoch wird deutlich: Den Gewerkschaften fehlt eine gesamtgesellschaftliche politische Antwort auf die Krise und ein aus ihrer Sicht verlässlicher Partner im politischen Parteienspektrum. Die Pandemie verlangt zudem nach einer neuen Diskussion über die Wahrnehmung des politischen Mandats. Dieses darf sich nicht darauf beschränken, politische Erwartungen zu delegieren, sondern muss betriebliche Kämpfe, soziale Bewegungen und politische Initiativen miteinander verzahnen.
Auftakt der Verteilungskämpfe
Die Tarifrunde im ÖD war die erste große Tarifbewegung in der Pandemie. Viele Beschäftigte, die in der Krise als ›unverzichtbar‹ galten, hofften nun darauf, dass der Applaus in monetäre Anerkennung übersetzt würde. Hat doch die Pandemie offengelegt, wie prekär es um die Daseinsvorsorge in der BRD steht und dass eine Aufwertung dringend geboten ist. Diese Tarifrunde bildete den Auftakt für die Verteilungskämpfe um die Krisenkosten. Ver.di, GEW, GdP und IG BAU hätten die Verhandlungen gerne verschoben, wohl auch deshalb, weil sie nur schwer einschätzen konnten, wie mobilisierungsstark die Beschäftigten angesichts von Corona sein würden. Das Angebot schlugen die Arbeitgeber jedoch aus, hofften sie doch auf gewerkschaftliche Mobilisierungsschwäche. Dass es sich bei den Arbeitgebern um den Bundesinnenminister (Bund) und die gewählten Bürgermeister*innen (Kommune) handelt, hat die Auseinandersetzung von Beginn an politisiert. Es ging nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch um die Aufwertung bestimmter Berufsfelder, um Entlastung und nicht zuletzt um die zentrale Frage, wer für die Krisenkosten aufzukommen hat. Die herrschende Klasse, allen voran die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), stellte unmissverständlich klar, dass dies aus ihrer Sicht die abhängig Beschäftigten sein werden. Denn während die Besteuerung hoher Vermögen regierungsseitig nicht auf der Tagesordnung stand, verlangte der VKA von den Beschäftigten Verzicht.
In Anbetracht der Kräfteverhältnisse war der Tarifabschluss respektabel: Unter erschwerten Rahmenbedingungen wurden eine Lohnsteigerung von 3,2 Prozent, eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung von bis zu 600 Euro sowie eine Angleichung der Arbeitszeit zwischen Ost und West erkämpft. Die lange Laufzeit von 28 Monaten ging als Punktsieg an die Arbeitgeber. Aber eine Neubewertung der Arbeitsvorgänge und die von den Arbeitgebern ursprünglich geforderte Abgruppierung konnten abgewehrt werden. Ebenso die 20-prozentige Kürzung der Sparkassensonderzahlung. Die Übernahmeregelung für Auszubildende wurde verlängert. Die Pflegekräfte erkämpften eine Einkommenssteigerung von durchschnittlich 8,7 Prozent, die Intensivkräfte in der Spitze von etwa zehn Prozent.
In der Tarifrunde kam ein Krisenparadox zum Tragen: Trotz pandemiebedingter Verunsicherung demonstrierten die Beschäftigten ein neues Selbstbewusstsein. Der Legitimations-verlust des Neoliberalismus und der Applaus, auf den nichts folgte, wirkten mobilisierend. Allein am Vortag der dritten Verhandlungsrunde fanden bundesweit mehr als 300 Aktionen statt. Selbst aus dem Bereich der Sparkassen beteiligten sich 20 000 Beschäftigte an den Warnstreiks. Sie hatten in der Krise die Gelder ausgezahlt, die gerade kleinere Unternehmen und Selbstständige zur Existenzsicherung dringend brauchten. Als die Arbeitgeber ihnen die Sonderzahlung um 20 Prozent kürzen wollten, reagierten sie mit Streik.
Auch in der Pflege zeigte sich ein neues Selbstbewusstsein. Als die Geschäftsführung der Kölner Kliniken die bereits unterzeichnete Notdienstvereinbarung zurückzog und damit Stationsschließungen unmöglich machte, ließen die Beschäftigten nicht locker.
Sie »meldeten erneut vier Stationen zur Schließung an. Zugleich sammelten sie binnen 24 Stunden 375 Unterschriften von Beschäftigten, die ihr Streikrecht einforderten, und übergaben diese am 16. Oktober an Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos). Das wirkte: Die Geschäftsleitung beendete das rechtliche Verfahren und schloss einen Kompromiss mit ver.di, wonach die Station 5B in Köln-Merheim komplett geschlossen und eine weitere nur mit Notdienstbesetzung offen gehalten wurde.« (ver.di 2020)
Steigende Konflikthäufigkeit vs. Durchschlag auf dem Arbeitsmarkt
Die Tarifrunde muss im Kontext zunehmender Arbeitskämpfe und Konflikte betrachtet werden. Obwohl im Jahr 2019 keine größeren Tarifrunden stattfanden, stellt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) 227 Tarifkonflikte mit mindestens einer Arbeitsniederlegung fest und verzeichnet damit einen leichten Anstieg gegenüber dem Vorjahr (vgl. Nier 2020). Für das Pandemiejahr liegen noch keine Untersuchungen vor, aber die vorläufige Tarifbilanz des WSI fällt überraschend positiv aus. Insgesamt 18,8 Millionen Beschäftigte profitierten 2020 von den ausgehandelten Tarifergebnissen. Dabei stiegen die Tariflöhne gegenüber dem Vorjahr im Schnitt um zwei Prozent. Hinzu kamen Erfolge bei der Beschäftigungssicherung oder der Aufstockung des gesetzlichen Kurzarbeitergeldes (WSI 2020).
Dennoch darf nicht verschwiegen werden: Die Pandemie trifft den Arbeitsmarkt hart und erschwert betriebliche Gegenwehr. Im Mai 2020 plante nach einer Umfrage des Ifo-Instituts jedes fünfte Unternehmen Stellenstreichungen (Ifo-Institut 2020). Im Unterschied zur Finanzkrise 2009 ist diesmal nicht ausschließlich die Exportindustrie betroffen, sondern auch weite Teile des Dienstleistungssektors. Im April 2020 waren mehr als sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit (vgl. Sablowski in diesem Heft). Der durchschnittliche Bruttomonatslohn ist in nahezu allen Bereichen insbesondere durch Arbeitszeitreduzierungen gesunken. Un- und Angelernte sowie Angestellte büßten acht Prozent ihres Lohns ein (ebd.). Während viele Unternehmen im ersten und zweiten Quartal 2020 vor allem durch den Einbruch der Lieferketten unter Druck gerieten, folgen nun Massenentlassungen auf die entstandenen Verluste.
Festzuhalten bleibt für den Moment: Die Pandemie hat die Arbeitsbeziehungen verändert und wird dies vermutlich noch weiter tun. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit wird in verschiedener Hinsicht neu verhandelt. Zu den Kämpfen um Verteilung und Daseinsvorsorge kommen Kämpfe um die Arbeitszeit und um Arbeitsstandards.
Kämpfe um die Arbeitszeit
Die Frage der Arbeitszeitverkürzung hat in den Tarifauseinandersetzungen der letzten Jahre bereits eine größere Rolle gespielt. Insbesondere ver.di, die IG Metall und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) haben in ihren Tarifverträgen Verkürzungen der Arbeitszeit ausgehandelt. Mit der Pandemie erhielt diese Debatte neuen Fahrtwind. Der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, brachte im Sommer 2020 eine Viertagewoche für die Metall- und Elektroindustrie mit einem teilweisen Lohnausgleich ins Gespräch. Der Vorschlag war zu diesem Zeitpunkt in einigen Betrieben bereits gängige Praxis. Insbesondere in der Automobilindustrie hatten die Unternehmen auf die pandemiebedingten Produktionsausfälle reagiert und nur wenige Wochen zuvor über betriebliche Vereinbarungen Fakten geschaffen.
Bei Daimler hatten sich Betriebsrat, IG Metall und Konzernleitung darauf verständigt, die 2018 per Tarifvertrag abgeschlossene Wahlmöglichkeit – mehr Geld oder mehr Freizeit – zu streichen: Die Konzernleitung erwarte von den Beschäftigten, sich in jedem Fall für die Freizeit zu entscheiden, »damit das Unternehmen Geld spart« (Eubel/Frese 2020). Hinzu kam eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich um zwei Stunden für alle Beschäftigten außerhalb der Produktion. Bei ZF Friedrichshafen, derzeit der fünftgrößte Automobilzulieferer, wurde die Wochenarbeitszeit um bis zu zwanzig Stunden gesenkt. Im Gegenzug wird bis 2022 auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet. Bei Bosch wird die Arbeitszeit in Entwicklung, Forschung, Vertrieb und Verwaltung befristet um bis zu zehn Prozent gesenkt. Und bei der Lufthansa sind kürzere Arbeitszeiten Teil des »Sanierungspaketes«.
Die Kämpfe um die Arbeitszeit werden momentan also weniger von den Gewerkschaften geführt, sondern kommen vielmehr auf Druck der Arbeitgeberseite zustande. Die Viertagewoche könnte über die aktuelle Coronakrise hinaus den Strukturwandel abstützen. Die Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI), Johanna Wenckebach, hält sie für ein sinnvolles Instrument, um Umqualifizierungen oder Weiterbildungen für die Beschäftigten zu ermöglichen. Die Frage des Lohnausgleichs müsse aber im Zentrum stehen, weil es sich nicht alle Beschäftigten leisten könnten, auf Lohn zu verzichten (Wenckebach 2020). Derzeit ist es also nicht die Verkürzung der Arbeitszeit, die gegen die Arbeitgeber durchgesetzt werden muss, sondern ein Lohnausgleich. Hier kommt der IG Metall gegenüber anderen Branchen, in denen die Lohnstandards niedriger sind und eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich weniger verkraftbar wäre, eine besondere Verantwortung zu. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche von 1984 hat gezeigt, dass diese Auseinandersetzung nur zu gewinnen ist, wenn sich der Druck aus den Betrieben mit gesellschaftlicher Mobilisierung verbindet (vgl. Eifler 2020).
Kämpfe um Arbeitsstandards
Die Kämpfe um den Erhalt gesellschaftlich akzeptierter Arbeitsstandards werden vermutlich zunehmen. Dies zeigt sich einmal mehr am derzeitigen Personalumbau bei der schwedischen Modekette H&M, der die gängige diskriminierende Personalpolitik des Unternehmens noch einmal übertrifft. Während unter dem Deckmantel der Pandemie aktuell 800 Beschäftigte, überwiegend junge Mütter und Schwerbehinderte, mit Abfindungen herausgekauft werden sollen, schreibt der Konzern parallel zu diesem Ausscheidungsprogramm neue Stellen aus. Wer nicht flexibel einsetzbar ist, wird rausgekegelt.
Bei VW Zwickau dagegen spitzt sich der Konflikt um das Tragen von Masken am Arbeitsplatz zu. Der Betriebsrat forderte von Beginn an technische und organisatorische Schutzmaßnahmen. So wurde in einer Betriebsvereinbarung festgelegt, dass Arbeitsplätze infektionssicher umgebaut und Masken nicht länger als zwei Stunden am Stück getragen werden müssen. Danach sollten Beschäftigte ihren Arbeitsplatz wechseln und dort eingesetzt werden, wo eine Maske nicht dauerhaft notwendig ist. Da diese Vereinbarung mit einem Mehrbedarf von 100 bis 150 Personen verbunden ist, versucht der Arbeitgeber sie nun zu kündigen.
Kämpfe um Arbeitsstandards werden selbst dort geführt, wo die Bedingungen dafür in den letzten Jahren ungünstig waren. Die Zeit spricht von einem »neuen ostdeutschen Aufbruch« (Hensel 2020), weil die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hier seit einigen Jahren erfolgreich Kämpfe um Anerkennung führt. Aufgrund der Lohnlücke zwischen Ost und West von noch immer 800 bis 1 000 Euro gründeten die Beschäftigten bei Teigwaren Riesa 2018 einen Betriebsrat. Nach mehreren Warnstreiks schloss die NGG einen Tarifvertrag mit sieben Prozent mehr Lohn sowie Weihnachts- und Urlaubsgeld für alle ab. Das Beispiel steht stellvertretend für das wachsende Bedürfnis nach Anerkennung und den erfolgreichen Kampf der Gewerkschaften im Osten (vgl. Klenke et al. in diesem Heft).
Eine Frage des politischen Mandats
Die Antworten der Gewerkschaften in der Krise sind widersprüchlich. Einerseits führen Massenentlassungen in der Zulieferindustrie zu Protest. So konnten die Schließungen der ABB Hitachi in Hanau-Großauheim und des Conti-Standorts im südhessischen Babenhausen vorerst abgewendet werden. Auf der politischen Ebene wurde durch die Ausweitung der Kurzarbeit auf 24 Monate eine beschäftigungspolitische Katastrophe fürs Erste verhindert. Zur Wahrheit gehört aber auch: Kurzarbeit sichert zwar Beschäftigung, wirkt in der Konsequenz aber prekarisierend, weil sie von den Beschäftigten über Einkommensverluste mitfinanziert wird. Vor diesem Hintergrund kann eine tarifliche Aufstockung des Kurzarbeitergeldes gar nicht hoch genug bewertet werden. Schwieriger dagegen ist die Durchsetzung des Mindestkurzarbeitergeldes, hier fehlt es an mobilisierendem Druck.
Gewerkschaftliches Handeln in der Pandemie ist nicht nur Erfolg, aber auch nicht nur Niederlage. Dennoch zeigt sich am gemeinsamen Papier des DGB-Vorsitzenden, Reiner Hoffmann, und des Bundesvorsitzenden der Grünen, Robert Habeck, dass sich die Gewerkschaften mit einer gesamtgesellschaftlichen politischen Strategie schwertun. In dem Papier distanziert sich der DGB von der Forderung, die Krisenkosten über die Besteuerung hoher Vermögen zu finanzieren. Damit schwächt er eine gesellschaftliche Umverteilungsperspektive und desorientiert Mitglieder wie Bündnispartner. Das Papier ist als machtpolitisches Signal zu verstehen, dass die Unterstützung einer schwarz-grünen Koalition durch die Gewerkschaften nicht an der Vermögensteuer scheitern wird. Es zeigt: Dem DGB fällt es schwer, Forderungen an die Regierung zu formulieren. Das ist nicht zuletzt das Ergebnis der letzten rot-grünen Regierung, die 1998 mit dem Rückenwind der Gewerkschaften gewählt worden war. Nach der Einführung der Agenda 2010 hatten diese sich zum Teil resigniert auf das Kerngeschäft der Betriebs- und Tarifpolitik zurückgezogen. Erst mit dem Einzug der LINKEN in den Bundestag hatten gewerkschaftliche Forderungen wieder politischen Auftrieb bekommen, wie das Beispiel Mindestlohn zeigt.
Gerade jetzt in der Pandemie müssen die Gewerkschaften über die betriebliche Arbeit hinaus eine gesamtgesellschaftliche Strategie entwickeln. Ansatzpunkte könnten die Begleichung der Krisenkosten und der Kampf um eine sozial gerechte Krisen- und Transformationspolitik sein. Das aber setzt voraus, dass der DGB seine Umverteilungsperspektive nicht aufgibt und sein gesellschaftspolitisches Mandat offensiv wahrnimmt. Die Stärke der Gewerkschaften ist dabei eng verknüpft mit der Stärke der LINKEN. Die fortschrittlichen sozialen Bewegungen und in besonderem Maße die Gewerkschaften benötigen innerhalb und außerhalb der Parlamente eine Partei, die sich als verlässlicher Partner und als Katalysator für einen Politikwechsel versteht. Die LINKE sollte deshalb gemeinsam mit den Gewerkschaften parlamentarische und außerparlamentarische Strategien entwickeln, die die Kämpfe um die Bezahlung der Krisenkosten zusammenführen. Die punktuelle Unterstützung der Tarifrunde Nahverkehr durch Fridays for Future oder die Unterstützung der Gewerkschaften gegen die S-Bahn-Privatisierung in Berlin sind ein wichtiger Anfang, solche Bündnisse zu stärken.