Wie seid ihr Sozialist*innen geworden? Und warum? 

Jan: Das Warum ist ziemlich klar. Wir sehen Ungerechtigkeit und Krisen in der ganzen Welt, himmelschreiende Armut und maßlose Verschwendung. Gleichzeitig gehen unsere natürlichen Lebensgrundlagen zugrunde. Wir haben keine Kontrolle über die gesellschaftlichen Verhältnisse, was ganz wesentlich an der kapitalistischen Produktionsweise liegt. Solche Kontrolle können wir aber nur erlangen, wenn wir über unsere Arbeit, unsere Produktion, unser Leben tatsächlich selbst bestimmen – das ist Sozialismus. Als ich angefangen habe, mich mit Politik zu beschäftigen, wusste ich, dass eine andere Gesellschaft möglich sein muss. Und irgendwie ahnte ich, dass das wohl der Sozialismus sein könnte, ohne ganz genau zu wissen, was das heißt. Der Rest ist dann Lernen, Lernen, Lernen.

Und du?

Rhonda: Ich bin über die Occupy-Bewegung politisiert worden. Damals habe ich meine ersten Erfahrungen von kollektiver Stärke und zivilem Ungehorsam gemacht. Von dort war der Weg zum SDS nicht weit. Die Studis dort haben mir einen analytischen Rahmen angeboten, um die Idee der ­»99 Prozent« besser zu verstehen. Ich bin also im ersten Schritt nicht durch persönliche Betroffenheit, sondern durch Einsicht Sozialistin geworden. Wirklich politisiert wurde ich aber in der Bewegung. Hier habe ich verstanden – wie wir es im SDS gerne mit Gramsci sagen –, dass leben bedeutet, Partei zu ergreifen. 

Und was ist für dich der Kern sozialistischer Politik? 

Rhonda: Die Überzeugung, dass die Menschen ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen müssen, um Stück für Stück die demokratische Kontrolle über ihr Leben zu erlangen – da kann ich an Jan anschließen. Ich würde aber betonen, dass diese Kontrolle erkämpft werden muss. Die Macht dazu müssen wir aufbauen, um uns aus der Abhängigkeit von den Bedürfnissen der Wenigen und vom Markt zu befreien. Und zwar sowohl in der betrieblichen Mitbestimmung als auch in nachbarschaftlicher Zusammenarbeit. »Deutsche Wohnen & Co enteignen« beispielsweise ist sozialistische Mietenpolitik. Nicht nur weil es um Enteignung geht, sondern weil die Mieter*innen dafür kämpfen, über ihre Grundbedürfnisse mitentscheiden zu können. Diese Initiative hat der riesigen Mietenbewegung eine passende Form gegeben, sodass daraus eine Forderung mit Durchsetzungskraft werden konnte. Der Mietendeckel ist unter diesem Druck entstanden. Aber die Berliner*innen haben nicht gewartet, bis eine Partei wie die LINKE etwas gegen den Mietenwahnsinn unternimmt, sondern sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Als Sozialist*innen müssen wir genau das unterstützen. 

Dass sich die SPD positiv auf Sozialismus bezieht, ist vielen gar nicht bekannt – auch innerhalb der Partei. Warum ist sie für dich der Ort für sozialistische Politik – trotz alledem?

Jan: Die SPD ist gerade sicher keine sozialistische Partei. Aber die Sozialdemokratie hat in Deutschland eine tiefe gesellschaftliche Verankerung in sehr unterschiedlichen Feldern. Mit ihr sympathisieren viel mehr Menschen, als in den letzten Jahren SPD gewählt haben. Und eine sozialistische Bewegung gegen den Widerstand der Sozialdemokratie scheint mir heute wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Die politischen Voraussetzungen für eine sozialistische Bewegung auch innerhalb der Sozialdemokratie und insbesondere in der SPD zu erkämpfen, ist also eine notwendige Voraussetzung. Natürlich sind die Bedingungen dafür heute – vorsichtig formuliert – nicht gerade optimal. Die SPD hat in den letzten Jahren politische Entscheidungen durchgesetzt, die arbeitende Menschen hart getroffen haben. Dass viele Linke sich abgewendet haben, ist nachvollziehbar. Aber es wäre kurzsichtig, ihre Rolle zu ignorieren. Wenn wir wollen, dass eine sozialistische Perspektive Erfolg hat, müssen wir auch innerhalb der SPD darum kämpfen, dass sie sich sozialistischen Umwälzungen nicht entgegenstemmt – und das hängt davon ab, ob Sozialist*innen sich innerhalb der Sozialdemokratie als politische Strömung organisieren. 

Du hast es angesprochen, die Sozialdemokratie steckt in einer tiefen Krise. Wäre eine sozialistischere Politik ein Ausweg? Und wie müsste die aussehen?

Jan: Der Sozialismus ist heute die Alternative, die wir zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und der Krise der Politik haben. Die Krise der Sozialdemokratie in Deutschland und Europa ist auch Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Krise. Die Gesellschaft durchläuft eine Umwälzung, bislang fehlt es aber an einer Vorstellung, wie eine Zukunft aussehen könnte. Es ist unsere Aufgabe als Linke, eine solche Zukunftsvorstellung zu erarbeiten. Allerdings müssen wir heute eine sozialistische Gesellschaft erstreiten, die die Freiheit der Menschen nicht unterdrückt, sondern zu ihrer Grundlage macht. Dafür können wir auf die Fähigkeiten der Menschen aufbauen, ihre Arbeit selbstbestimmt zu organisieren. Dies ermöglicht uns eine sozialistische Organisation der Produktion, in der die Selbstbestimmung der Menschen über ihre Arbeit die Grundlage der gesellschaftlichen Kooperation der Produktion ist.

Wie hat sich deine Vorstellung von Sozialismus im Laufe der Zeit verändert?

Rhonda: Im Grunde ist mit der Zeit klarer geworden, dass der Sozialismus keine detaillierte Programmatik ist, sondern eine politische Bewegung mit gewissen Leitsätzen, die auf radikale Gesellschaftsveränderung zielen. Aber wie jede andere Bewegung muss sie sich in der Realität beweisen, also gewinnen. Und das tut sie gerade viel zu wenig in Deutschland. Deswegen wird Sozialismus sehr parteipolitisch verstanden, was dann zu einem Problem wird, wenn Parteipolitik auf Parlamentsarbeit reduziert wird. Sozialistische Politik, ob im Rahmen einer Partei oder nicht, muss ein aktives Verhältnis zur eigenen Umgebung bedeuten. Kämpfe müssen mitgekämpft, Bewegungen mit aufgebaut, Menschen ermächtigt werden. Der Sozialismus braucht einen Alltag, damit er nicht als »Politik«, sondern als Gesellschaftsprojekt aller ernst genommen werden kann. 

Was heißt das konkret?

Rhonda: Ich bin derzeit relativ viel in der Klimabewegung aktiv und das Potenzial für radikale Forderungen ist riesig. Die zentrale Frage, die verhandelt wird, ist: Wer bezahlt für die Kosten der Transformation? Eine Steilvorlage für Eigentumskritik und Demokratisierung der Produktion. Welche Forderung sollte die sozialistische Bewegung also starkmachen? Und zwar nicht von außen als Ratschlag möglicher Radikalisierung, sondern aus der Bewegung heraus in Vermittlung mit dem bereits angelegten kollektiven Wissen. Ich finde den griechischen Marxisten und Aktivisten Panagiotis Sotiris immer wieder gut in dieser Frage. Er sagt, dass tatsächliche Kämpfe mehr strategische Fantasie in sich tragen, als wir uns ausmalen können, sie werfen mehr Fragen und manchmal mehr Antworten auf, als wir denken, und sie verweisen auf immer neue Wege, wie Erfahrungen verbunden werden können. Sie deuten auf Lösungen hin, die wir uns von heute aus nicht herbeiphilosophieren könnten. 

Du bist auch Feministin – inwiefern gehört das für dich zusammen?

Rhonda: Wenn das Herzensanliegen die Selbstermächtigung aller ist, muss sozialistischer Aktivismus feministisch und antirassistisch sein. Die spannendere Frage ist dann: Welchen Feminismus vertreten wir in der sozialistischen Bewegung? Und da ist ja viel Richtiges passiert in der letzten Zeit: In den internationalen feministischen Streiks und im Feminismus für die 99 Prozent hat die feministisch-sozialistische Bewegung einen richtigen Ausdruck gefunden. Dort werden Fragen der Emanzipation von Frauen und Queers mit dem Anliegen einer Umwälzung von Klassenverhältnissen verbunden. Diese Verknüpfung ist eigentlich für alle sozialistischen Bewegungen und Kämpfe zentral. 

In eurer Arbeit als Jusos, welche Erfahrungen macht ihr mit dem Begriff Sozialismus? Schreckt das ab, weckt das Neugier? 

Jan: Wenn man vor 15 oder 20 Jahren über Sozialismus gesprochen hat, hat man fast einhellige Ablehnung erfahren. Die meisten Menschen wussten nicht, was man damit meinen könnte, aber fast alle wussten, dass es nicht richtig sein könne. Das ist heute anders. Angesichts der Banken- und Finanzkrise, der Klimakrise, des Erstarkens der politischen Rechten und faschistischer Tendenzen merken immer mehr Menschen, dass wir mit dem Kapitalismus keine Zukunft haben. Auf der Suche nach Zukunftsvorstellungen ist der Sozialismus heute für viele Menschen wieder eine interessante Perspektive. Aber nach all den Jahren des Schweigens merkt man, dass sich wenige darunter etwas Konkretes vorstellen können. Wer Sozialismus sagt, meint allzu häufig Sozialpolitik. Wir sollten das neu geweckte Interesse füttern – aber gleichzeitig daran arbeiten, uns gemeinsam darüber klarzuwerden, was Sozialismus heute konkret heißen muss. 

In eurem »Sozialismus«-Projekt versucht ihr das?

Jan: Ja, der Juso-Bundeskongress hat 2017 dem Bundesvorstand der Jusos den Auftrag gegeben, an dieser Frage zu arbeiten. Die Jusos tragen den Sozialismus in ihrem Namen, haben aber lange nicht diskutiert, was sie damit eigentlich meinen. In unserem Projekt haben sich rund 40 Delegierte und Expert*innen mit den Entwicklungen unserer Gegenwart beschäftigt. Dabei haben wir uns insbesondere mit den Produktivkraftentwicklungen der arbeitenden Menschen in den letzten Jahrzehnten auseinandergesetzt. Im Rahmen kapitalistischer Unternehmen haben die Beschäftigten die Fähigkeit entwickelt, sich mit dem gesellschaftlichen Sinn ihrer Arbeit ausei­nanderzusetzen. Einen sichtbaren Ausdruck findet das in den neuen Arbeitsorganisationsformen. Diese Fähigkeit bietet aber eine weit darüber hinaus gehende Dynamik. Wie also könnte eine sozialistische und demokratische Organisation der Produktion heute aussehen? Wir haben hauptsächlich ein Modell diskutiert, in dem die arbeitenden Menschen sich über die Unternehmen hinweg in selbstständigen Produktionsgremien organisieren, die darüber beraten, welche unternehmerischen Projekte umgesetzt werden sollen. Die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ist dabei demokratisch – durch Parlamente oder die Produktionsgremien geregelt. Den Ausgangspunkt der Organisation der Produktion bilden dabei die arbeitenden Menschen. 

Wie ist das bei euch? Ihr nennt euch »Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband«. 

Rhonda: Ob Sozialismus cool ist oder an alte Zeiten erinnert, liegt ja vor allem daran, wie man in Theorie und Praxis das Wort füllt. Wir gehen ja nicht durch die Unis und sagen: »Sozialismus, jetzt aber sofort«. Sanders zum Beispiel sagt, er ist für eine Gesundheitsversorgung für alle, für einen Green New Deal, für kostenfreies Studium und für Arbeitsplatzdemokratie. Er findet, dass die Reichen zahlen müssen, und vor allem, dass er all das nicht allein richten wird: »Not me, us« – »Nicht ich, wir«. Und ganz am Ende sagt er, dass er Sozialist ist. Dann finden die Leute Sozialismus richtig. Im Grunde arbeiten wir ähnlich: Wir stehen für offene Grenzen, einen sofortigen Kohleausstieg, Vermögenssteuer, Demokratie an der Hochschule, keine Waffenlieferungen und keine Kriege – und wir heißen Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband. Vielleicht eckt das mal an, aber überzeugender als der Name ist das, was drinsteckt. Wenn du gute Politik machst, ist das Label zweitrangig. Und ganz ehrlich, meine Generation und die folgenden haben den Ostblock und all das überhaupt nicht mehr mitbekommen. In den USA und in Großbritannien sind sozialistische Ideen gerade unter jungen Leuten extrem im Aufwind. 

Seht ihr etwas Ähnliches hier? 

Rhonda: Der Rechtstrend um die AfD und der Erfolg der Grünen sprechen nicht unbedingt dafür, dass wir auf einer Welle neuer sozialistischer Hoffnung reiten könnten. Der Aufwind in Großbritannien und den USA ist auch nicht einfach einer gesellschaftlichen Stimmung oder Polarisierung entwachsen, sondern einer besonders effektiven und organisierenden Politik. Linke Hegemonie ist zwar auf fruchtbaren Boden gefallen – Krise des Neoliberalismus und Stärke des Rechtspopulismus –, aber sie ist in vielen Verästelungen des Alltagslebens organisiert worden: Kindergarteninitiativen, Mieterorganisationen, Telefon-Campaigning, Streiksolidarisierung, Social-Media-Arbeit und eine Revitalisierung der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung. Sozialistische Parteipolitik wurde hier ein Stück weit zur sozialen Bewegung, und das fehlt uns in Deutschland noch. Es ist bewundernswert, wie diese Hegemonie in den USA aufgebaut wurde: Wenn man sich zum Beispiel die Streikbewegung der Lehrer*innen anguckt, dann sind hier die zuvor in der Sanders-Kampagne politisierten Aktivist*innen eine entscheidende Unterstützung gewesen. Und nun wiederum profitiert Sanders von der Politisierung der Streikbewegung. Die Aktivität der Mitglieder hat Sanders und Corbyn dahin gebracht, wo sie jetzt stehen. Wir haben in der Partei noch viel zu stark die Idee von Stellvertretung. Das fängt schon an, wenn sich Abgeordnete auf Facebook für die Teilnahme der Bürger*innen auf Demos bedanken ... 

Wie siehst du das? Kevin Kühnert wurde für seine Äußerungen im Frühjahr ziemlich angegriffen.

Jan: Es ist kein Zufall, dass die vielen sozialen, ökologischen und anderen (Jugend-) Bewegungen weltweit mit einem Revival des Sozialismus-Begriffs zusammenfallen. Weltweit bringen insbesondere junge Menschen ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Sie sind unzufrieden damit, an ganz wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen nicht beteiligt zu sein. Und sie sehen, dass diejenigen, die diese Entscheidungen treffen, die Dinge gerade vor die Wand laufen lassen. Also wollen sie sie selbst in die Hand nehmen. Man muss sich das klarmachen: In allen wirtschaftlichen Fragen gibt es keine demokratische Entscheidungsfindung. Wir haben keine Möglichkeit, in den Unternehmen gemeinsam darüber zu entscheiden, ob wir lieber Verbrennungsmotoren oder Wasserstoffautos bauen wollen. Diese Entscheidung wird von einigen wenigen getroffen. Und wohin uns das geführt hat, wird heute vielen klar. Gesellschaftliche Bewegungen wie Fridays for Future, Mieterinitiativen oder der Pflegestreik machen Mut. Darin kommt ein Bedürfnis zum Ausdruck, über die heutigen Verhältnisse hinauszugehen. Diese Bewegungen beeinflussen bislang aber linke Parteien weniger als in den USA oder Großbritannien. Das hat auch mit der deutschen Parteienlandschaft zu tun. Während LINKE und Grüne stärker Kontakt zu außerparlamentarischen Bewegungen suchen, aber weniger politische Hebelwirkung ausüben können, könnte die SPD das besser, sucht den Kontakt aber nicht so sehr. Über kurz oder lang wird es nötig sein, den gesellschaftlichen Bewegungen einen politischen Ausdruck zu geben. Nur so lässt sich der Druck der Menschen auf den Straßen im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie politisch umsetzen. Und nur so können wir der politischen Rechten innerhalb dieser Verhältnisse wirksam eine wirkliche Alternative entgegensetzen. 

Rhonda: Naja, wir sollten ja nicht das Gefühl vermitteln, dass wir die Alternative sind, sondern dass die Beteiligung der Menschen eine Alternative werden kann. Ich finde, wir müssen klarmachen, dass Teil einer Organisation oder Partei zu sein, keine Abwägungsfrage ist wie beim Warenkauf, wo ich am Ende beim Fehlkauf Geld rausgeschmissen habe. Sondern dass wir für eine politische Bewegung einstehen, die auf den Beitrag aller angewiesen ist. Die also offen ist, experimentieren muss und ihren Platz im gesellschaftlichen Leben immer wieder neu justieren muss. Ich glaube, manchmal hat die Linke diesen Anspruch aufgegeben: eine Mehrheitsbewegung aufzubauen, die gewinnen kann. Vielmehr probiert sie, durch richtige, aber nicht verankerte Parolen über Wasser zu bleiben. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt! 

Das Gespräch führten Barbara Fried und Hannah Schurian.