Es gibt bei der nächsten Bundestagswahl ein historisches Möglichkeitsfenster. Dazu müssen wir den Ansatz Regieren in Bewegung mit der Bereitschaft zum Konflikt ausbauen und auch im Bund Regierung wagen. Um dies vorzubereiten, gilt es, mit gesellschaftlichen Akteuren zu sprechen und mit potenziellen Bündnispartner*innen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, ohne das Trennende zu ignorieren. Es gilt, die eigenen Kräfte zu wecken. Es gilt, gewinnen zu wollen und die Konservativen herauszufordern. Dazu müssen wir uns auch auf die zu erwartende Gegenwehr vorbereiten. Und es gilt, der gesellschaftlichen Fantasie Futter zu geben, welche Verbesserungen möglich wären. Auch deshalb habe ich vor über zwei Jahren offensiv angefangen, in der Gesellschaft für neue linke Mehrheiten zu werben.
„Müssen wir Ihnen einen Taschenrechner schenken?“
Mit Schmunzeln erinnere ich mich jetzt, wo auf allen Kanälen darüber diskutiert wird, an die ersten Reaktionen auf meine Überlegungen zu einem anstehenden Machtwechsel in Deutschland. „Müssen wir Ihnen einen Taschenrechner schenken“?, gehörte eher zu den freundlichsten Kommentaren, die ich von Journalisten zu hören bekam. Nun beherrsche ich die Grundrechenarten und kann die Umfragewerte der Parteien links der Union zusammenrechen. Aber meine Überzeugung war und ist, dass wir Linken auf Umfragen nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren dürfen, sondern vielmehr unsere Energie darauf verwenden sollten, zu klären, wohin die Reise gehen soll. Und klar ist: Ein "Weiter so" gehört meiner Meinung nach nicht auf den Fahrplan. Angesichts all der miteinander verwobenen Krisen, wie die soziale Spaltung, die Klimakrise, der Aufwind der Rechten und die militärischen Eskalationen, braucht es grundlegende Veränderungen, konkret einen sozialökologischen Systemwechsel und eine konsequente Friedenspolitik.
Solch ein Systemwechsel wird naturgemäß auf den erbitterten Widerstand von Konzernen und ihrer Lobbyisten stoßen. Und diese Kräfte des Kapitals sind gut darin, ihre eigenen Interessen als angeblich allgemeine Interessen darzustellen (Gramsci). Das kann man gut an den Debatten um den Mietendeckel in Berlin beobachten. Da gehen nicht Deutsche Wohnen und Co. vor die Kameras, sondern kleine Vermieter und Wohnungsgenossenschaften werden vorgeschoben. Diese Methoden gilt es zu studieren, auch um sich stärker dagegen zu immunisieren.
Bewegung und Amtsmacht: Regieren in Bewegung
Nicht nur angesichts dieser Gegenwehr erfordert der notwendige Politikwechsel zum einen Druck aus der Zivilgesellschaft, auf der Straße durch Bewegungen, Gewerkschaften und Initiativen und zum anderen Mehrheiten in Parlament und Regierung und schließlich auch die Möglichkeiten von Amtsmacht. Ja, Amtsmacht. Da die Veränderungen so dringlich sind, muss jede Einflussmöglichkeit genutzt werden. Und es ist eben ein Unterschied, ob an der Spitze eines Ministeriums jemand steht, der ausstrahlt, dass die Steuerprüfung bei den Großen besonders gründlich (oder eben eher nachlässig) zu erfolgen hat, der auch behördenintern eine entsprechende Personalpolitik macht. Es ist ein Unterschied, ob eine Senatsverwaltung Gutachten in Auftrag gibt, die auf Ermöglichung statt auf Verhinderung orientieren, wenn in der Stadtgesellschaft ein Mietendeckel diskutiert wird. Es macht auch einen Unterschied, wenn eine linke Sozialsenatorin per Verordnung Sammelunterkünfte für Geflüchtete auflösen lässt und ihnen stattdessen dezentrale Wohnungen anbietet.
Gemeinsam klüger: Fehler solidarisch studieren
Mit dem Verweis auf Amtsmacht möchte ich wahrlich nicht die Zwänge kleinreden, denen Regierende ausgesetzt sind, wie Koalitionsdisziplin oder die Behäbigkeit von Verwaltungen und Staatsapparaten. Vielmehr möchte ich dazu ermutigen, dass Linke in Regierungsverantwortung auch immer wieder ausloten, wo Amtsmacht noch stärker für einen nachhaltigen Politikwechsel genutzt werden kann, zum Beispiel durch Initiierung von kritischen Forschungs-Instituten. Hier gilt es, gemeinsam zu lernen und mögliche Fehler genau zu studieren, um gemeinsam klüger zu werden. Dafür brauchen wir in unseren internen Debatten eine andere Kultur, um offen über Fehler und Zwänge sprechen zu können. Denn die Zeit drängt. Um zum Beispiel den Klimakollaps abzuwenden, bleiben der Menschheit nur noch einige Jahre. Deshalb können wir nicht warten, bis die Bedingungen optimal sind, wir müssen jetzt jede Gelegenheit nutzen, um mit dem sozialökologischen Systemwechsel anzufangen.
Wir fangen nicht bei null an
Die gute Nachricht ist, wir fangen nicht bei null an. So hat sich bereits in den konkreten Auseinandersetzungen immer stärker die Erkenntnis durchgesetzt, dass Klimaschutz und soziale Sicherheit nicht gegeneinander, sondern nur miteinander durchgesetzt werden können. Davon zeugen gemeinsame Positionierungen von Umwelt- und Sozialverbänden oder von Fridays for Future und Gewerkschaften, aber auch Proteste wie bei #unteilbar. Diese Zusammenarbeit setzt Maßstäbe für alle fortschrittlichen Parteien, Soziales und Ökologie immer zusammenzudenken (vgl. Riexinger 2019).
Zudem hat DIE LINKE in den vergangenen Jahren viele grundlegende Alternativen ausgearbeitet und durchgerechnet: darunter ein Einkommenssteuermodell, das Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen besserstellt und Reiche stärker zu Kasse bittet, und eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, durch die mehr Geld ins System kommt sowie mehr Stellen geschaffen und Pflegekräfte besser bezahlt werden könnten. Nicht zuletzt auch dank unseres Einsatzes sind die Zweifel an neoliberalen Glaubenssätzen gewachsen, die Hochzeit des Neoliberalismus ist vorbei. Offen ist, was nun folgt. Und spätestens während der Corona-Krise verdampfte vor aller Augen die Gewissheit, dass der Markt alles regelt. An diese Erkenntnisse sowie an über Jahre aufgebaute Bewegungsbündnisse und erarbeitete Konzepte können wir anknüpfen.
Nah- und Fernziele verbinden
Wer sich auf den Weg macht, um mit sozialen Mehrheiten links der Union einen Politikwechsel umzusetzen, braucht sowohl eine Vorstellung, wie die grundlegenden Alternativen aussehen, als auch Ideen für Ansatzpunkte, wo zu beginnen ist. Wer jede Maßnahme unterhalb des Fernziels als Verrat ansieht, läuft Gefahr, dem Ziel nie näherzukommen. Wer jedoch nur an die ersten Schritte denkt, läuft Gefahr, auf der Stelle zu treten. Nah- und Fernziele müssen immer wieder in Verbindung gebracht werden, so beschreibt es Frigga Haug. Das klingt im Text selbstverständlicher und leichter als in der Praxis ist. Als Sozialpolitikerin möchte ich diese Verbindung im Folgenden exemplarisch für einige Bereiche der Sozialpolitik skizzieren.[1]