Die Art und Weise, wie Olaf Scholz am 27. Februar 2022 die Mehrheit des Parlaments, seiner Regierungskoalition und Fraktion mit der Ankündigung von einem 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm überrumpelte, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Sie zeigt unter anderem, wie der Krieg Ausnahmetatbestände höchst symbolischer und zugleich sehr konkret politischer Dimensionen schafft: Ein quasi sakrosanktes Sondervermögen für Kriegsausgaben soll auf Dauer gestellt und als Sondertopf der direkten Haushaltshoheit des Parlaments entzogen werden. 


Auf der anderen Seite sucht man – trotz allen Geredes von den "Freiheitsenergien" – bisher recht vergeblich nach solch einem Signal des Aufbruchs, wenn es um eine Beschleunigung des sozial-ökologischen Umbaus geht. Dabei wäre genau jetzt der Moment, energie- und klimapolitisch in neuen, ungewohnten Bahnen zu denken – und natürlich auch die Schuldenbremse über Bord zu werfen, die spätestens in der nächsten Legislatur dafür sorgen wird, dass harsche Ausgabenkürzungen die politische Agenda bestimmen werden.[1] Welche Krise, wenn nicht diese, braucht es dafür?

Schuldenbremse als ewige Disziplinierungsknute

Obwohl die Schuldenbremse in Sachen Sondervermögen umgangen werden soll – was mittlerweile den völlig willkürlichen Umgang mit der Bremse zeigt –, wirkt das Toxische der Schuldenbremse unablässig fort. Denn der Krieg und die Aufrüstungskredite dienen in der politischen Arena umgehend als Disziplinierungsinstrument. Mit dem Verweis auf das Sondervermögen hält Christian Lindner seine Kabinettskolleg*innen, deren Wünsche Anfang Februar die bisherige Finanzplanung für die nächsten Jahre noch um 400 Milliarden Euro überstiegen, zu mehr Haushaltsdisziplin an: „Der Ukraine-Krieg erfordert im Haushalt noch einmal eine stärkere Prioritätensetzung. Diese Verteilungsdiskussion über die vorhandenen Mittel innerhalb der Bundesregierung wird wegen der Ereignisse in der Ukraine naturgemäß noch ambitionierter“, so der Finanzminister Anfang März


Er machte auch klar, dass 2023 die Schuldenbremse wieder gelten soll (während die EU-Kommission bereits eine Aussetzung der Schulden- und Defizitregeln auch für 2023 anvisiert). Allerdings ist die für 2022 eingeplante reguläre Neuverschuldung (also jenseits des Sondervermögens) in Höhe von 99,7 Milliarden Euro mittlerweile Makulatur, das Finanzministerium plant bereits mit einem Ergänzungshaushalt


Oppositionsführer Friedrich Merz macht derweil deutlich, dass die Zustimmung der Union zu einer Grundgesetzänderung in Sachen Sondervermögen ihren Preis hat. Eine Abschaffung der Schuldenbremse kommt auch für die Union weiterhin nicht in Frage, wie Merz klarstellte und sie zu einer von drei Voraussetzungen für die Stimmen der Union zu einer Grundgesetzänderung in Sachen Sondervermögen machte. 


Schon jetzt ist der Investitionsstau in Sachen sozial-ökologischer Transformation und beim Ausbau der sozialen Daseinsvorsorge riesig, sind viele Kommunen strukturell überschuldet. Dazu gesellen sich pandemiebedingte Defizite in den Sozialversicherungen. Nun steht – die Pandemie ist noch nicht vorbei – vermutlich die nächste Wirtschaftskrise vor der Tür und die Kommunen müssen die zusätzlichen Herausforderungen der jüngsten Flüchtlingskrise stemmen. Damit ist klar: Fällt die Schuldenbremse nicht, sind wir in den nächsten Jahren mit massiven Kannibalisierungsdebatten konfrontiert, für was Geld da ist und für was nicht. Erste Vorboten davon kann man in diesen Tagen schon beobachten: Weitgehend unbemerkt kürzt die Ampel der Rentenkasse gerade 500 Millionen Euro. Und Lindners neuer Chefberater, der Wirtschaftswissenschaftler Lars P. Feld, stellt angesichts der Aufrüstungskredite bereits Mehrausgaben im Sozialbereich in Frage.

Grüne und linke SPDler mit dem Rücken an der Wand

Zwar gibt es Stimmen aus SPD und Grünen, die die Schuldenbremse grundsätzlich in Frage stellen, doch sind diese bisher allenfalls vereinzelt zu hören. Zugleich geht in Teilen der Grünen die Angst um, dass geplante soziale Vorhaben wie die Kindergrundsicherung, das Bürger- oder das Klimageld wegen des Krieges auf die lange Bank geschoben werden. Vermutlich zurecht, schaut man sich die bisherige Durchsetzungsfähigkeit oder den Durchsetzungswillen der Grünen innerhalb der Ampel in diesem Bereich an. So sind für den Haushalt 2022 in der Tat bisher keine Mittel für die Kindergrundsicherung, das Bürgergeld oder mehr Elterngeld eingeplant.


Schon die Handschrift des Koalitionsvertrags ließ im Bereich Finanzen und Haushalt viel FDP erkennen, Stichwort: Keine steuerliche Umverteilung von oben nach unten, stattdessen Steuererleichterungen für Unternehmen. Ein weiterer wichtiger Sieg war Lindners Eroberung des Finanzministeriums. Dann zeigte das im Februar noch vor Kriegsausbruch beschlossene 10-Punkte-Entlastungspaket, wie wenig Geld die Ampel für Soforthilfen wegen gestiegener Energiepreise für die Ärmsten in diesem Land bereitstellt.


Kurz zur Erinnerung: Für einen Kindersofortzuschlag sind bis dato gerade einmal 20 Euro mehr im Monat vorgesehen, Bezieher*innen von Hartz IV oder Grundsicherung im Alter erhalten einmalig 100 Euro mehr. Für Wohngeldempfänger*innen, Auszubildende und BaföG-Empfänger*innen gibt es einmalige Heizkostenzuschüsse. Im Wohngeldbezug lagen sie für eine Person erst bei 135 Euro, nun sollen sie wegen der weiteren Energiepreisanstiege auf 270 Euro verdoppelt[2] werden. 


Andere Maßnahmen, wie etwa die Abschaffung der EEG-Umlage für die privaten Haushalte, können angesichts der davon galoppierenden Energiepreise allenfalls für eine kleine Entlastung sorgen, in dem sie weitere Preisanstiege etwas dämpfen. Zudem muss sich erst noch erweisen, ob die gesetzliche Vorschrift trägt, mit der Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck Versorger dazu zwingen will, die Abschaffung der EEG-Umlage an die Endverbraucher*innen weiterzugeben. Kurzum: Das alte Entlastungspaket fängt die bisherigen Preissteigerungen nicht einmal annähernd auf und führt offenbar schon jetzt zu einem drastischen Schub an existenziellen Notsituationen.


Auch verteilungs- und klimapolitisch wird mit dem bisherigen Entlastungspaket als Hilfe gegen die Inflation kein neuer Weg gebahnt, obwohl dafür – auch angesichts der dramatischen Analysen des aktuellen Weltklimaberichts – der Moment genutzt werden müsste. Statt aber eine bedarfsgerechte, steuerfinanzierte und ökologisch sinnvolle Pendelzulage oder zumindest ein einkommensunabhängiges Mobilitätsgeld[3] einzuführen, wird stattdessen die Pendlerpauschale erhöht. Sie begünstigt Besserverdienende überproportional und setzt ökologisch falsche Anreize für das Fahren langer Strecken – was übrigens auch wieder Besserverdienenden zugutekommt, die größere Pendeldistanzen zurücklegen. Die Pendlerpauschale heizt zudem Flächenverbrauch und Zersiedelung an. Ökologisch und klimapolitisch ist sie also ein völliges Desaster. 


Von der Einführung eines Klimagelds[4], das auf Drängen der Grünen im Koalitionsvertrag vereinbart wurde und verteilungs- und klimapolitisch sinnvoll wäre, ist hingegen weiterhin nichts zu sehen. Dabei ist es höchste Zeit, nicht nur aktuelle Energiepreisschocks abzufedern, sondern auch für eine finanzielle Entlastung aufgrund der parallel hochlaufenden CO2-Bepreisung zu sorgen. Zahlreiche Verbände drängen deswegen auch auf die sofortige Einführung eines Klimagelds in Höhe von 130 Euro, das relativ einfach umzusetzen wäre.[5]


Die Ampel arbeitet derweil an einem weiteren Entlastungspaket. Man darf gespannt sein, ob es dieses Mal klima- und verteilungspolitisch zumindest ansatzweise andere Weichen stellt. Alles andere wäre ein Offenbarungseid für den progressiven Kompass dieser Ampel. Zumindest bringt die SPD zur Zeit die Auszahlung eines einkommensabhängiges Mobiliätsgeldes ins Gespräch, um Lindners absurdem Vorschlag[6] "Tankrabatte für alle" (den übrigens auch konservativere Ökonom*innen kritisieren) etwas entgegenzusetzen. 

Freiheitsenergien? Bisher werden vor allem fossile Lösungen gestärkt

Linder ist in der Sondersitzung des Bundestags zum Ukrainekrieg und den Aufrüstungskrediten Ende Februar ein rhetorischer Coup gelungen. Erneut, wie zuletzt in der Pandemie, besetzt die FDP offensiv den Freiheitsbegriff, dieses Mal mit ihrem Wording von den Erneuerbaren Energien als "Freiheitsenergien". Das Wort ist innerhalb weniger Tage zum geflügelten Synonym für die angebliche liberale Progressivität in Sachen klimapolitischer Umbau, mehr Energieautarkie und weg von den fossilen Energieträgern geworden. Allerdings sucht man bisher recht vergeblich nach einer materiellen Unterfütterung dieser Politik. 


Denn neben Debatten über mögliche Laufzeitverlängerungen für AKW (die Habecks Ministerium mit dem Ergebnis "nicht zu empfehlen" geprüft hat), will die Ampel aufgrund des Krieges nun rasch in den Aufbau dreier Terminals für Flüssiggas (LNG) investieren. Auch prüft das Wirtschafts- und Klimaministerium, bereits stillgelegte Kohlekraftwerke bei Bedarf und mit Blick auf möglicherweise eingeschränkte Energielieferungen aus Russland vorübergehend wieder ans Netz zu nehmen. Habeck kündigt zwar zugleich an, den Ökostromausbau zu beschleunigen, die Pläne dafür rühren allerdings bereits aus der Zeit vor Ausbruch des Krieges und werden von Umweltverbänden kritisiert, weil immer noch viel zu wenig Flächen verbindlich für den Auf- und Ausbau von Solar- und Windenergie genutzt werden sollen. Währenddessen treibt Lindner schon seine nächste Idee in die Arena, nämlich die Förderung von Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee, gegen die die Grünen ihre Bedenken aufgeben sollen. 


Auch die Ankündigungen von Linder in der ARD eine Woche nach dem bekannt gegebenen Aufrüstungsmilliarden, "dass wir bis 2026 etwa 200 Milliarden Euro für Klimaschutz, Ladeinfrastruktur, Wasserstoff-Technologie, die Modernisierung der Industrie, auch die Abschaffung der EEG-Umlage, um die Menschen zu entlasten, vorsehen werden", ist nicht das, wonach es aussieht. Denn bei dem Geld soll es sich weitgehend nicht um zusätzliche Mittel handeln. 110 Milliarden Euro sollen aus unterschiedlichen Einnahmen des Energie- und Klimafonds stammen und waren bereits unter der alten Regierung eingeplant. Weitere 60 Milliarden Euro sind Rücklagen, die die Ampel aus der bisher nicht genutzten Corona bedingten Notlagenverschuldung bereits dem Energie- und Klimafonds zugewiesen hat. Bleiben als wirklich neu eingeplante Mittel bis 2026 offenbar nur 30 Milliarden Euro, aus denen zudem die Abschaffung der EEG-Umlage gegenfinanziert werden soll. Allein diese Rekompensation aus Haushaltsmitteln könnte sich laut Lindner in den nächsten Jahren aber auf "bis zu 50 Milliarden Euro" belaufen. 


Das hinderte viele Medien und Grüne nicht daran, die 200 Milliarden Euro so abzufeiern, als hätten wir es tatsächlich mit einem weitreichenden finanz- und klimapolitischen Richtungswechsel zu tun. Doch ein zusätzliches kreditfinanziertes und vom Volumen her angemessenes Investitionspaket und einen wirklichen Notfallplan[7] zur Umsetzung und Beschleunigung all der schleppend vorangehenden klimapolitischen Umbaumaßnahmen, die tatsächlich wegführen von fossilen Energieträgern bzw. Energieeinsparungen in breiter Fläche ermöglichen, sucht man bisher vergeblich. Think big ist derzeit nur im Bereich militärischer Aufrüstung vorgesehen.


Das sehen auch Umweltverbände und der Deutsche Mieterbund so, die kritisieren, dass die angeblichen 200-Milliarden-Euro-Pläne keine ausreichenden Mittel für energetische – und sozialverträgliche – Gebäudesanierungen oder Energieeinsparungen im Verkehrssektor beinhalten – also Dinge, die es jetzt sofort und in großem Ausmaß braucht. Michael Schäfer vom Naturschutzbund (NABU) bringt zum Beispiel angesichts des Krieges – think big! – Initiativen wie ein Sofortprogramm für eine Million Wärmepumpen ins Spiel. Solche öffentlichen Investitionen wären nicht nur klima-, sondern auch beschäftigungspolitisch sinnvoll, schaut man auf die Wirtschaftsaussichten der nächsten Zeit.

Die nächste Wirtschaftskrise vor der Haustür

Welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine auch hierzulande haben wird, ist erst in Ansätzen klar. Abhängig vom weiteren Kriegsverlauf ist alles denkbar.


Ohne bereits eine weitere Eskalation des Krieges einzupreisen, sind die Konjunkturprognosen, die das deutsche BIP vor Kriegsausbruch bei einem Plus von drei bis vier Prozent sahen, derzeit um einen Prozentpunkt nach unten korrigiert. Neben wegbrechenden Exportmöglichkeiten und dem – zum Teil freiwilligen – Rückzug etlicher Unternehmen vom russischen Markt, bestimmen die Auswirkungen der Sanktionen sowie vor allem Lieferkettenprobleme das Geschehen. Letztere sind zum Teil noch pandemiebedingt, zum Teil bereits Auswirkungen zerstörter Produktionsstätten bzw. unterbrochener Transportrouten in und durch die Ukraine. Das hat schon deutliche Auswirkungen auf das Geschäft von Autozulieferern und hiesige Automobilwerke, in denen erneut Bänder stillstehen und Kurzarbeit angemeldet wird. Zudem belasten gestiegene Preise für Energie aber auch andere Rohstoffe die Produktion. Der Welthandel gerät ins Stocken. Er ist im Februar, obwohl der Ukrainekrieg erst in den letzten Tagen des Monats begann, bereits um 5,6 Prozent eingebrochen. Es ist der größte Rückgang seit Beginn der Pandemie.


Die zum Teil massiv steigenden Energiekosten bedeuten für die privaten Haushalte deutlich höhere Ausgaben für Heiz- und Stromkosten sowie Sprit. Daneben werden auch Lebensmittel und andere Produkte teurer, weil deren Herstellungs- und Transportkosten aufgrund der Energiepreise anziehen. Das alles trifft vor allem untere Einkommensschichten hart. Sie haben kaum Rücklagen, können aber auf Güter wie Lebensmittel, das Heizen, oder bei schlechten ÖPNV-Verbindungen auch nicht einfach auf das Auto verzichten.[8]


Die Gaspreise sind für Privathaushalte im Februar bereits um 22,7 Prozent, die Preise für Heizöl sowie Kraft- und Schmierstoffe um 40 bzw. 25,6 Prozent und die Strompreise um 13 Prozent gestiegen. "Dies ist zwar erheblich, aber nur ein Bruchteil dessen, was für die kommenden Monate zu erwarten ist", so Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Alleine eine vollständige Überwälzung der Gas-Börsenpreise von unmittelbar vor der Invasion auf die Endverbraucher würde laut IMK "rund eine Verdoppelung der Preise für Haushaltsgas bedeuten". Im Jahresdurchschnitt rechnet das Institut mit einer Inflationsrate über sechs Prozent. Eine Phase der Stagflation, also einer stagnierenden Wirtschaft mit entsprechenden Folgen auch für Beschäftigte bei gleichzeitig steigenden Preisen, wird wahrscheinlicher.


Unklar ist, ob es im weiteren Kriegsverlauf nicht doch zu einem Importstopp von Gas und Öl seitens der EU kommt – oder ob Russland von sich aus Lieferungen drosseln oder einstellen wird. Die USA sind mit ihrem Embargo gegen russisches Öl, Gas und Kohle, verkündet am 8. März, vorgeprescht. So schnell, wie in diesen Tagen und Wochen Grundsätze fallen, wäre es nicht überraschend, wenn auch bei der deutschen Regierung unter dem Eindruck des Krieges die Ablehnung eines solchen Importstopps ins Wanken käme. Mit der Entscheidung Russlands vom 23. März, Energieexporte nur noch mit Rubel bezahlen zu lassen, verdichten sich die Zeichen für solch ein Embargo. Weitere Energiepreisschocks und die Frage nach mittelfristigen Versorgungsengpässen wären die Folge.[9]


Fest steht: Ohne ausreichende Gegenmaßnahmen wird der Krieg dazu führen, dass auch in Deutschland viele Menschen ärmer werden. Für hierzulande bedeutet das auch wachsenden Legitimationsdruck für eine klimagerechtere Transformationspolitik.

Für ein People's Programme des friedens- und energiepolitischen Aufbruchs

Für viele, auch jenseits einer gesellschaftlich organisierten Linken, ist die Frage nach einem raschen Ausstieg aus den fossilen Energien aus unterschiedlich gewichteten Motiven derzeit drängend. Sei es, weil sie in einem sofortigen Importstopp von russischem Öl- und Gas ein adäquates Mittel sehen, um das autoritäre Regime in Russland in seinem nationalistischen, zerstörerischen Angriffskrieg zu stoppen, sei es, weil sie jetzt erst recht aus eher klimapolitischen Erwägungen einen forcierten Ausstieg aus dem fossilen Energiesystem voranbringen wollen, das gerade viele Dimensionen seiner Zerstörungskraft zeigt. Daran gilt es anzuknüpfen.


Es braucht – neben Demonstrationen gegen den Krieg, für einen Waffenstillstand und Verhandlungslösungen – auch linke Erzählungen, konkrete Handlungsperspektiven und gezielten Druck auf der Straße, um einen friedenspolitischen Weg aufzuzeigen, der zugleich ein klimapolitischer Weg ist, und der den schnell als ohnmächtig empfundenen Wunsch nach "Kein Krieg" (auch) anders ausbuchstabiert. Etwa, indem das Zeitfenster genutzt wird, Wege zur Reduzierung der fossilen Abhängigkeit extrem zu beschleunigen, um so einen Teil zur Austrocknung der Kriegskasse beizutragen und zugleich Weichenstellungen in Richtung System Change unter Abwehr weiterer fossiler Lock-in-Effekte vorzunehmen.


Dafür braucht es ein starkes, plattformübergreifendes Sofortprogramm, ein people's programme für einen großen Shift zur Reduzierung von Verbrauch und Lieferabhängigkeit von fossilen Energieträgern und für finanzielle Entlastungen bestimmter Einkommensgruppen. Was das alles heißen soll, muss gemeinsam genauer ausbuchstabiert werden. Forderungen und Programme vieler Organisationen für einen schnelleren Ausbau der Erneuerbaren und sofort umsetzbare, sozial verträgliche Energieeinsparungen liegen vor, zum Teil auch aus der Zeit nach Ausbruch des Krieges. So schlägt etwa der BUND in solch einem Sofortprogramm etliche kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen vor. Kurzfristig etwa Tempolimits, einen autofreien Sonntag im Monat, die Einstellung von Kurzstreckenflügen, wenn die Strecken per Zug unter vier Stunden machbar sind, eine 20-prozentige Reduzierung beim Einsatz von Stickstoffdünger, eine bundesweite Kampagne für die optimierte Einstellung von Heizungsanlagen, eine Reduktion der Innenraumtemperatur in öffentlichen Gebäuden, kostenlose Sanierungsfahrpläne für Gebäudeeigentümer*innen und vieles mehr.[10]


Solche Forderungen müssten nun vor allem geeint werden und die prägnantesten und kurzfristig umsetzbaren Forderungen auf die Antikriegsmobilisierungen getragen und verbreitert werden.[11] Entscheidend ist dabei auch, energiepolitische Projekte für den Gebäudebereich untrennbar mit der sozialen Frage zusammenzudenken: Energetische Sanierungen dürfen kein weiterer Verarmungs- und Verdrängungsprozess für Mieter*innen sein. Eine stärkere Vernetzung der Klima- und Mietenbewegung ist dafür wichtig. 


Auch die Solidaritätsbewegung mit den Flüchtlingen könnte ein wichtiger Ankerpunkt auf den Plätzen und in den Städten sein. Klar, die Strukturen sind derzeit komplett damit beschäftigt, die dringendste Nothilfe zu leisten. Aber es könnte sich lohnen, sich an andere Krisenerfahrungen und -kämpfe zu erinnern. So waren die linken Solidaritäts- und Selbsthilfestrukturen in Griechenland (auch für Flüchtlinge) ein wichtiger, lokal verankerter Ausgangspunkt für eine linke Reorganisierung in der harten Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 und für den politischen Widerstand gegen die Austeritätsdiktate. Natürlich ist die Ausgangslage eine andere. Aber in die Flüchtlingsarbeit mischt sich unmittelbar die Frage nach wirksamer Opposition gegen diesen Krieg. Und eine Antwort ist für viele Helfer*innen wie für Flüchtende das Austrocknen der Kriegskasse Putins.

Entlastungen müssen verteilungspolitisch gerecht und klimapolitisch sinnvoll sein

Solch ein People's Programme braucht eine soziale Flankierung, die schnell umsetzbar, verteilungspolitisch gerecht und klimapolitisch sinnvoll ist. Forderungen nach befristeten Mehrwertsteuersenkungen etwa für Energieprodukte sind da wenig überzeugend.[12] Zwar können solche Senkungen rasch umgesetzt werden, doch weder sind sie verteilungspolitisch zielgerichtet, noch ist gesichert, dass die Mehrwertsteuersenkungen (sofern sich die Ampel nicht zu klaren, gesetzlichen Vorgaben durchringt) auch in ausreichendem Maße bei den Verbraucher*innen ankommen. 


Sinnvoller erscheinen Maßnahmen, die bis in die Mittelschicht hinein entlasten, aber vor allem ausreichend und schnell die Ärmsten erreichen und dabei Pfade bahnen hin zu einem klimapolitischen Wandel. Dazu zählen unter anderem folgende Maßnahmen:

  • Ein Gaspreisdeckel, wie jüngst von Sebastian Dullien und Isabella Weber vorgeschlagen. Der Gaspreis würde bis zu einem Verbrauch von 8 000 kWh bei 7,5 Cent gedeckelt[13], der Staat die Differenz zum Marktpreis an die Versorger zahlt. Finanziert werden könnte das auch über das Abschöpfen der Sondergewinne, die viele Energieerzeuger derzeit einfahren. Die EU-Kommission ermuntert die Mitgliedsstaaten zu solchen excess profit taxes und schätzt die dadurch erzielbaren Einnahmen auf 200 Milliarden Euro. Vorteile: Entlastungen kommen bei allen an, aber einkommensstärkere Haushalte, die mehr Gas verbrauchen, müssen dafür auch mehr bezahlen; ein billigeres Grundkontingent setzt wichtige Anreize zum Energiesparen; ein gedeckelter Gaspreis würde zudem die Inflationsrate drücken. Wichtig wäre, solch einen Deckel auch für Strom einzuführen, wie es die LINKE – in abgewandelter Form – schon länger fordert.[14]
  • Höhere und sofort auszahlbare Einmalzuschüsse für Bezieher*innen von Wohngeld, Hartz IV (und dabei zusätzlich auch für Kinder) und Grundsicherung im Alter sowie Auszubildende und Studierende im BaföG-Bezug. Ausreichende Einmalzahlungen entlasten ärmere Haushalte angesichts gestiegener Lebensmittel- und Spritpreise, bis mittel- und langfristigere Lösungen gefunden sind. Zumindest für Wohngeldbezieher*innen will die Ampel wie erwähnt nachbessern.
  • Will man über einen Gas- und Strompreisdeckel hinaus zielgerichtet (kinderreiche) Familien aus der Mittelschicht entlasten, gibt es sinnvollere Maßnahmen als Mehrwertsteuer- bzw. Energiesteuersenkungen (mit klimapolitischen Fehlanreizen), etwa die Minderung der Steuerschuld durch Abzüge und ein Bonus-Kindergeld, wie es bereits in der Pandemie unbürokratisch ausgezahlt wurde. 
  • Auch das derzeit diskutierte Mobilitätsgeld, das die SPD gegen die Tankrabatte anführt, ist zumindest verteilungspolitisch sinnvoll, sofern es in ausreichender Höhe ausgezahlt wird. 


Daneben braucht es jetzt die zügige Einführung eines Klimageldes und den Umbau der Pendlerpauschale in eine bedarfsgerechte, bereits erwähnte Pendelzulage. Auch müssen die Hartz-IV-Sätze deutlich erhöht und eine ausreichende Kindergrundsicherung eingeführt werden. Zudem geht es darum, all die mittel- und langfristigen Maßnahmen für die sozial-ökologische Transformation und angesichts des Krieges vor allem die Energie- und Verkehrswende zu beschleunigen. Vieles davon ist von Verbänden und auch der LINKEN ausbuchstabiert, kommt aber nicht voran. Das zeigt auf fatale Weise auch der neue Haushaltsplan für den Verkehrssektor. Er übernimmt weitgehend die Planungen des Vorgängeretats von Andreas Scheuer. So sind gerade einmal 1,9 Milliarden Euro für neue Schienenwege vorgesehen. Um wie geplant die Zahl der Fahrgäste bis 2030 zu verdoppeln, wären jährlich zehn Milliarden Euro nötig. 

Energiebrigaden, verbilligter ÖPNV

Noch einmal zurück zu den Ad-hoc-Maßnahmen: In Zeiten wie diesen heißt es auch für eine gesellschaftliche Linke: think big! Warum nicht fordern, flächendeckend Energiebrigaden zu schulen und zu bezahlen (auch unter den hier ankommenden Flüchtlingen), die Menschen zu Hause besuchen, Tipps zum Energiesparen geben, Heizungsanlagen richtig justieren und über ein vom Bund finanziertes Budget verfügen, verwaltet über die Kommunen als Arbeitgeber, um einkommensarmen Gruppen den Kauf energiesparender weißer Ware zu ermöglichen? Warum nicht flächendeckend die Preise für Bahn und ÖPNV reduzieren, um angesichts gestiegener Spritpreise den Menschen, dort, wo es möglich ist, den Ausstieg aus dem Auto zu erleichtern und zugleich zu testen, wie viel Potenzial in einem verbilligtem Fernbahn- und ÖPN-Verkehr stecken? Das wären vermutlich Forderungen, die vielen Leuten angesichts der Absurdität von Tankrabatten für fette SUVs und dem Wunsch nach Energieeinsparungen in Solidarität mit den Menschen in der Ukraine recht unmittelbar einleuchten.

 


Nachtrag: Mittlerweile hat die Ampel in der Nacht auf den 24. März ihr zweites Entlastungspaket beschlossen. Hier kurze erste Einschätzungen: Tankrabatte à la Lindner wird es nicht geben, aber eine dreimonatige Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe für alle und eine - zu versteuernde - Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro für alle Erwerbstätigen. Besserverdienende und ihr Hubraum werden also ganz im Sinne der Liberalen mit subventioniert. Für Bezieher*innen von Transferleistungen gibt es hingegen einmalig weitere 100 Euro dazu, also zusammen mit dem ersten Entlastungspaket gerade einmal 200 Euro. Sozialpolitisch scheint es in der Ampel nicht möglich zu sein, gegen die Liberalen Inflationshilfen konsequent und in angemessener Höhe nach tatsächlichen Bedürfnissen auszurichten, übermotorisierte Autos nicht extra zu fördern oder gar Extraprofite der Mineralölwirtschaft abzuschöpfen. Ein kleinerer, sozial- und klimapolitischer Lichtblick ist hingegen das Projekt '9 für 90' (ÖPNV kostet für drei Monate nur 9 Euro pro Monat). Aber es bleibt ein Strohfeuer, wenn nicht konsequent mehr Mittel für den Ausbau von Fernverkehr und ÖPNV zur Verfügung gestellt werden. Und: Ein Tempolimit ist selbst in dieser zugespitzten Situation in Deutschland immer noch undenkbar. Krieg in der Ukraine? Hauptsache, auf deutschen Straßen wird niemandem zugemutet, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen.