Die GEW hatte die vier Lehrkräfte bei ihrer Klage unterstützt. Trotz der Niederlage war es richtig, diesen juristischen Weg zu beschreiten, denn ein Streikrecht für verbeamtete Lehrkräfte hätte ein echter Gamechanger in den Bildungskämpfen hierzulande sein können. Andererseits hätte ein juristischer Erfolg allein nicht ausgereicht, die Macht aufzubauen, die es angesichts der sich weiter zuspitzenden Bildungskrise und der sich über das Bildungssystem reproduzierenden und verschärfenden gesellschaftlichen Ungleichheit bräuchte. Dazu wäre eine konsequente Organisierungsstrategie nötig. Es gibt aktuell eine strategische Leerstelle, die schnellstmöglich gefüllt werden muss: Wie sollen Lehrkräfte und Gewerkschaften Macht für die dringend notwendigen Bildungskämpfe aufbauen und sich organisieren, wenn ihnen in den meisten Bundesländern der Streik als schärfstes Schwert zur Durchsetzung eigener Interessen rechtlich untersagt ist?
Machtaufbau ohne Streikrecht?
Die folgenden Ideen sind als Anstoß für eine dringend notwendige und zeitkritische Debatte gedacht. Sie sind weder eine Generalkritik, noch erheben sie den Anspruch, ein fertiger Werkzeugkasten an Lösungen zu sein. Es gibt vielfältige Bildungsauseinandersetzungen, die in unserer Gesellschaft mit mehr Einsatz geführt werden sollten: der Kampf für Inklusion, angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus der Einsatz für eine offene, antifaschistische Gesellschaft und das Engagement gegen die schulische Segregation und für die so oft bemühte Bildungsgerechtigkeit. Die folgenden Überlegungen werden sich vor allem im Kontext von Entlastung und besseren Arbeitsbedingungen bewegen, sind aber für andere Bildungskämpfe anschlussfähig.
Um in der aktuellen Situation an Schulen und im Bildungsbereich mehr Macht für die Durchsetzung der eigenen Interessen aufzubauen, schlage ich sechs Punkte vor, die ich im Folgenden genauer erläutern will:
- Dort, wo es im Schulbereich noch viele angestellte Lehrkräfte und somit eine Streikmacht gibt, muss diese mit einem klaren Durchsetzungsplan, dem Einsatz von Organizing-Methoden und dem gezielten Einsatz zusätzlicher Ressourcen planvoll genutzt werden.
- Zweitens ist es notwendig, dass die Gewerkschaften ̶ insbesondere die GEW in Bundesländern ohne Streikmacht im Schulbereich ̶ die kampagnenorientierte Bündnisarbeit und politische Druckkampagnen als einen originären Teil ihrer Arbeit ansehen und für diese strategische Erweiterung entsprechende Ressourcen einsetzen.
- Drittens müssen Entlastungskämpfe in Schule und Kita zusammengedacht werden, sowohl inhaltlich als auch strategisch.
- Viertens sollten ver.di und die GEW ihren Organisationskonflikt, insbesondere im Kitabereich, zeitnah lösen und stärker zusammenarbeiten als bisher.
- Fünftens sollte eine langfristige Strategie zur faktischen Durchsetzung von Beamt*innenstreiks erarbeitet werden.
- Sechstens sollte geprüft werden, inwieweit das Ende 2021 vom Bundesverfassungsgericht formulierte verfassungsmäßige Recht auf schulische Bildung und unverzichtbare Mindeststandards von Bildungsangeboten für die aktuellen Bildungskämpfe genutzt werden kann.
Streikmacht planvoll nutzen ̶ das Beispiel Berlin
Lehrkräfte stellen die mit Abstand größte Beschäftigtengruppe an Schulen und sind daher für die Frage der Streikmacht an Schulen die wichtigste Gruppe. Aus diesem Grund sind im Folgenden die anderen wichtigen an Schulen Beschäftigten , ̶ Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Betreuer*innen und weitere, ̶ nicht erwähnt. Bei der konkreten Aufstellung von Forderungen und in den Arbeitskämpfen sind alle an Schulen arbeitenden Berufsgruppen anzusprechen und miteinzubeziehen.
Laut dem Mikrozensus 2023 arbeiten in Deutschland gut eine Million Menschen als Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen. Knapp ein Drittel von ihnen ist angestellt, gut zwei Drittel sind verbeamtet (Blickpunkt Arbeitsmarkt 2024). In einzelnen Bundesländern kann das Verhältnis durchaus anders aussehen. In Berlin sind von den über 35.000 Lehrkräften an öffentlichen Schulen ca. die Hälfte angestellt. Durch die im Jahr 2021 in der Hauptstadt vereinbarte Verbeamtung verschiebt sich der Anteil in den nächsten Jahren weiter von angestellten zu verbeamteten Lehrkräften. Die Streikmacht in Berlin wird damit kleiner werden. Umso wichtiger wäre es, die aktuelle Streikfähigkeit zu stärken und effektiv zu nutzen. Das ist bisher leider zu planlos passiert.
Seit 2021 versucht die GEW Berlin, einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz, der für Entlastung an Schulen und für kleinere Klassen sorgen soll, durchzusetzen. Ohne eine klare Strategie mit einem Durchsetzungsplan, tiefgehende Bündnisarbeit und ausreichend Ressourcen für einen konsequenten Organizing-Ansatz wurde schon viel Zeit verloren. Über mehr als drei Jahre gab es immer wieder eintägige, zweitägige oder dreitägige Warnstreiks. Die anfängliche Begeisterung ist bei vielen Lehrkräften der Ernüchterung gewichen, weil vielen einfach nicht klar ist, mit welcher Strategie und Durchsetzungsperspektive das Ziel der Entlastung durchgesetzt werden soll. Der Berliner Senat hielt es bisher nicht einmal für nötig, juristisch gegen den Streik vorzugehen. Das wäre ein klassischer Arbeitgeber-Move, zu versuchen, das Streikrecht juristisch auszuhebeln. Zudem hat der Berliner Senat wiederholt behauptet, dass ein Tarifvertrag Gesundheitsschutz nur für Berlin nicht möglich wäre. Anscheinend ist der Druck der bisherigen Streiktaktik so gering, dass der Senat das Aussitzen als Taktik bevorzugt.
Die von ver.di initiierte und von der GEW unterstütze Kampagne für einen Tarifvertrag „pädagogische Qualität und Entlastung“ in den Berliner Kita-Eigenbetrieben hat es hingegen geschafft, in deutlich unter einem Jahr so viel Macht aufzubauen, dass ein unbefristeter Erzwingungsstreik vor der Tür stand. Hier reagierte der Berliner Senat mit dem Versuch, das Streikrecht der Beschäftigten juristisch auszuhebeln. Der Klage wurde überraschend aufgrund eines fragwürdigen Urteilsspruchs stattgegeben. Auch wenn dieses Gerichtsurteil die Entlastungsbewegung an den Kitas aktuell ausgebremst hat, kann man von der Kampagne drei Dinge lernen. Erstens braucht es einen Plan mit einer Eskalationsstrategie, wie der Kampf um Entlastung zu gewinnen ist. Zweitens lässt sich mit einem solchen Plan und Organizing-Methoden so viel Macht aufbauen, dass ein unbefristeter Erzwingungsstreik ein reales Durchsetzungsinstrument wird. Drittens muss Geld in die Hand genommen werden, um die Organisierung in den Schulen mit zumindest zeitweiser personeller Unterstützung von zusätzlichen Organizer*innen voranzutreiben. Starker gewerkschaftlicher Machtaufbau im Rahmen einer zugespitzten Kampagne ist nicht nur über rein ehrenamtliche Vertrauensleute zu haben. Es wird sich zeigen, ob die GEW Berlin in Zukunft stärker in diese Richtung arbeiten wird.
Politische Druckkampagnen und Bündnisarbeit als originärer Teil von Gewerkschaftsarbeit
In Bundesländern, die wegen der hohen Verbeamtungsquote an Schulen aktuell keine Streikmacht besitzen, sollten politische Druckkampagnen für Entlastung an den Schulen geführt werden. Diese Kampagnen sollten von Gewerkschaften im Bündnis mit Schüler*innen, Eltern und Bildungsinitiativen vorangetrieben werden. Die Arbeit von »Schule muss anders« in Berlin, vor allem in den Jahren 2021 bis 2023, ist ein gutes Beispiel dafür. Hier gelang es, drei zentrale Forderungen durchzusetzen: Die Ausbildung von mehr Lehrkräften an Berliner Unis, mehr Mittel für multiprofessionelle Teams und die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Antidiskriminierung und Inklusion im schulischen Bereich wurden im Koalitionsvertrag verankert. Zudem wurden über 50 Mio. € an zusätzlichen Mitteln für die Umsetzung der Forderungen erkämpft. Die GEW Berlin war aktiver Teil der Kampagne, Anstoß und Antrieb kamen allerdings von den Aktivist*innen von „Schule muss anders“. Es geht dabei nicht um die Frage, ob die GEW die zentrale oder bloß eine wichtige Rolle in einem Kampagnenbündnis spielt. Wichtig ist, dass Gewerkschaft und Schulbeschäftigte politische Druckkampagnen als originären Teil ihrer Aufgaben sehen, als eine wichtige strategische Option, um die Interessen auch ohne Streikmacht durchzusetzen. Das beinhaltet auch, dass Ressourcen in die Kampagnen- und Bündnisarbeit fließen, ein eigener Organizing- und Kampagnenbereich aufgebaut wird bzw. dass es eine strategische Debatte unter den Mitgliedern dazu gibt. Klar ist, die ehrenamtlichen Mitglieder haben immer eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Durchführung von Kampagnen.
Eine politische Druckkampagne unterscheidet sich von einer politischen Lobbykampagne, die letztendlich auf den guten Willen politischer Entscheidungsträger*innen setzt. Zwar ist auch Lobbyarbeit Teil einer politischen Druckkampagne, aber allein für Gewerkschaften kein machtvolles Instrument. In diesem Zusammenhang gilt es, in den einzelnen Bundesländern die Möglichkeiten von Volksbegehren z.B. für kleinere Klassen, Lehrkräfte-Schüler*innen-Relationen oder andere Entlastungsmöglichkeiten und gezielte Kampagnen rund um Wahltermine und andere Entscheidungsfenster auszuloten.
Es sei gesagt, dass die GEW und auch ver.di bereits Teil von Bündnissen im Bildungsbereich sind. Diese Bündnisse sind wichtig, doch haben sie in den seltensten Fällen das Ziel, durchdachte politische Druckkampagnen mit vielfältigen Beteiligungsmöglichkeiten aufzubauen. Und da, wo es solche Ansätze unter Beteiligung der Gewerkschaften gab und gibt, wie beim bundesweiten Bündnis „Bildungswende JETZT!“, stoßen rein ehrenamtlich angeschobene Kampagnen aufgrund von mangelnden Ressourcen und der Gefahr eines Burn-Outs im Aktivismus schnell an ihre Grenzen.
Kämpfe in Schule und Kita verbinden
Der dritte Vorschlag, um Macht in Bildungskämpfen aufzubauen, ist die Verbindung von Kämpfen in Schule und Kita. Man stelle sich einmal vor, was für ein politischer Druck in Berlin hätte aufgebaut werden können, wenn die Entlastungs-Kampagne zum Tarifvertrag Gesundheitsschutz an Berliner Schulen und die Kampagne zum Tarifvertrag „Pädagogische Qualität und Entlastung“ in Berliner Kitas solidarisch koordiniert, jeweils mit eigenem Kampagnenplan, Organizing-Methoden und ausreichend Ressourcen geführt worden wären.