Verbeamtete Lehrkräfte dürfen in Deutschland nicht streiken. Das ist im internationalen Vergleich eine Ausnahme. Vier verbeamtete Lehrkräfte, die 2009 und 2010 einem Streikaufruf der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gefolgt waren, hatten für ein Streikrecht und gegen die verhängten Disziplinarmaßnahmen geklagt. Doch im Dezember 2023 bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem überraschenden und viel kritisierten Urteil das Streikverbot. Damit ist das Streikrecht für verbeamtete Lehrkräfte auf absehbare Zeit vom Tisch. Für viele Lehrkräfte und für die GEW als mitgliederstärkste Bildungsgewerkschaft stellt dies eine massive Herausforderung dar, auf die sie bisher keine Antwort gefunden hat.

»Wie sollen Lehrkräfte und Gewerkschaften Macht für Bildungskämpfe aufbauen, wenn ihnen der Streik als schärfstes Schwert zur Durchsetzung eigener Interessen untersagt ist?«

Die GEW hatte die vier Lehrkräfte bei ihrer Klage unterstützt. Trotz der Niederlage war es richtig, diesen juristischen Weg zu beschreiten, denn ein Streikrecht für verbeamtete Lehrkräfte hätte ein echter Gamechanger in den Bildungskämpfen hierzulande sein können. Andererseits hätte ein juristischer Erfolg allein nicht ausgereicht, die Macht aufzubauen, die es angesichts der sich weiter zuspitzenden Bildungskrise und der sich über das Bildungssystem reproduzierenden und verschärfenden gesellschaftlichen Ungleichheit bräuchte. Dazu wäre eine konsequente Organisierungsstrategie nötig. Es gibt aktuell eine strategische Leerstelle, die schnellstmöglich gefüllt werden muss: Wie sollen Lehrkräfte und Gewerkschaften Macht für die dringend notwendigen Bildungskämpfe aufbauen und sich organisieren, wenn ihnen in den meisten Bundesländern der Streik als schärfstes Schwert zur Durchsetzung eigener Interessen rechtlich untersagt ist?

Machtaufbau ohne Streikrecht?

Die folgenden Ideen sind als Anstoß für eine dringend notwendige und zeitkritische Debatte gedacht. Sie sind weder eine Generalkritik, noch erheben sie den Anspruch, ein fertiger Werkzeugkasten an Lösungen zu sein. Es gibt vielfältige Bildungsauseinandersetzungen, die in unserer Gesellschaft mit mehr Einsatz geführt werden sollten: der Kampf für Inklusion, angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus der Einsatz für eine offene, antifaschistische Gesellschaft und das Engagement gegen die schulische Segregation und für die so oft bemühte Bildungsgerechtigkeit. Die folgenden Überlegungen werden sich vor allem im Kontext von Entlastung und besseren Arbeitsbedingungen bewegen, sind aber für andere Bildungskämpfe anschlussfähig.


Um in der aktuellen Situation an Schulen und im Bildungsbereich mehr Macht für die Durchsetzung der eigenen Interessen aufzubauen, schlage ich sechs Punkte vor, die ich im Folgenden genauer erläutern will: 
 

  1. Dort, wo es im Schulbereich noch viele angestellte Lehrkräfte und somit eine Streikmacht gibt, muss diese mit einem klaren Durchsetzungsplan, dem Einsatz von Organizing-Methoden und dem gezielten Einsatz zusätzlicher Ressourcen planvoll genutzt werden. 
  2. Zweitens ist es notwendig, dass die Gewerkschaften  ̶  insbesondere die GEW in Bundesländern ohne Streikmacht im Schulbereich  ̶  die kampagnenorientierte Bündnisarbeit und politische Druckkampagnen als einen originären Teil ihrer Arbeit ansehen und für diese strategische Erweiterung entsprechende Ressourcen einsetzen. 
  3. Drittens müssen Entlastungskämpfe in Schule und Kita zusammengedacht werden, sowohl inhaltlich als auch strategisch. 
  4. Viertens sollten ver.di und die GEW ihren Organisationskonflikt, insbesondere im Kitabereich, zeitnah lösen und stärker zusammenarbeiten als bisher. 
  5. Fünftens sollte eine langfristige Strategie zur faktischen Durchsetzung von Beamt*innenstreiks erarbeitet werden. 
  6. Sechstens sollte geprüft werden, inwieweit das Ende 2021 vom Bundesverfassungsgericht formulierte verfassungsmäßige Recht auf schulische Bildung und unverzichtbare Mindeststandards von Bildungsangeboten für die aktuellen Bildungskämpfe genutzt werden kann. 

Streikmacht planvoll nutzen  ̶  das Beispiel Berlin

Lehrkräfte stellen die mit Abstand größte Beschäftigtengruppe an Schulen und sind daher für die Frage der Streikmacht an Schulen die wichtigste Gruppe. Aus diesem Grund sind im Folgenden die anderen wichtigen an Schulen Beschäftigten , ̶  Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Betreuer*innen und weitere,  ̶  nicht erwähnt. Bei der konkreten Aufstellung von Forderungen und in den Arbeitskämpfen sind alle an Schulen arbeitenden Berufsgruppen anzusprechen und miteinzubeziehen.

Laut dem Mikrozensus 2023 arbeiten in Deutschland gut eine Million Menschen als Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen. Knapp ein Drittel von ihnen ist angestellt, gut zwei Drittel sind verbeamtet (Blickpunkt Arbeitsmarkt 2024). In einzelnen Bundesländern kann das Verhältnis durchaus anders aussehen. In Berlin sind von den über 35.000 Lehrkräften an öffentlichen Schulen ca. die Hälfte angestellt. Durch die im Jahr 2021 in der Hauptstadt vereinbarte Verbeamtung verschiebt sich der Anteil in den nächsten Jahren weiter von angestellten zu verbeamteten Lehrkräften. Die Streikmacht in Berlin wird damit kleiner werden. Umso wichtiger wäre es, die aktuelle Streikfähigkeit zu stärken und effektiv zu nutzen. Das ist bisher leider zu planlos passiert. 

Seit 2021 versucht die GEW Berlin, einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz, der für Entlastung an Schulen und für kleinere Klassen sorgen soll, durchzusetzen. Ohne eine klare Strategie mit einem Durchsetzungsplan, tiefgehende Bündnisarbeit und ausreichend Ressourcen für einen konsequenten Organizing-Ansatz wurde schon viel Zeit verloren. Über mehr als drei Jahre gab es immer wieder eintägige, zweitägige oder dreitägige Warnstreiks. Die anfängliche Begeisterung ist bei vielen Lehrkräften der Ernüchterung gewichen, weil vielen einfach nicht klar ist, mit welcher Strategie und Durchsetzungsperspektive das Ziel der Entlastung durchgesetzt werden soll. Der Berliner Senat hielt es bisher nicht einmal für nötig, juristisch gegen den Streik vorzugehen. Das wäre ein klassischer Arbeitgeber-Move, zu versuchen, das Streikrecht juristisch auszuhebeln. Zudem hat der Berliner Senat wiederholt behauptet, dass ein Tarifvertrag Gesundheitsschutz nur für Berlin nicht möglich wäre. Anscheinend ist der Druck der bisherigen Streiktaktik so gering, dass der Senat das Aussitzen als Taktik bevorzugt.

Die von ver.di initiierte und von der GEW unterstütze Kampagne für einen Tarifvertrag „pädagogische Qualität und Entlastung“ in den Berliner Kita-Eigenbetrieben hat es hingegen geschafft, in deutlich unter einem Jahr so viel Macht aufzubauen, dass ein unbefristeter Erzwingungsstreik vor der Tür stand. Hier reagierte der Berliner Senat mit dem Versuch, das Streikrecht der Beschäftigten juristisch auszuhebeln. Der Klage wurde überraschend aufgrund eines fragwürdigen Urteilsspruchs stattgegeben. Auch wenn dieses Gerichtsurteil die Entlastungsbewegung an den Kitas aktuell ausgebremst hat, kann man von der Kampagne drei Dinge lernen. Erstens braucht es einen Plan mit einer Eskalationsstrategie, wie der Kampf um Entlastung zu gewinnen ist. Zweitens lässt sich mit einem solchen Plan und Organizing-Methoden so viel Macht aufbauen, dass ein unbefristeter Erzwingungsstreik ein reales Durchsetzungsinstrument wird. Drittens muss Geld in die Hand genommen werden, um die Organisierung in den Schulen mit zumindest zeitweiser personeller Unterstützung von zusätzlichen Organizer*innen voranzutreiben. Starker gewerkschaftlicher Machtaufbau im Rahmen einer zugespitzten Kampagne ist nicht nur über rein ehrenamtliche Vertrauensleute zu haben. Es wird sich zeigen, ob die GEW Berlin in Zukunft stärker in diese Richtung arbeiten wird.

Politische Druckkampagnen und Bündnisarbeit als originärer Teil von Gewerkschaftsarbeit

In Bundesländern, die wegen der hohen Verbeamtungsquote an Schulen aktuell keine Streikmacht besitzen, sollten politische Druckkampagnen für Entlastung an den Schulen geführt werden. Diese Kampagnen sollten von Gewerkschaften im Bündnis mit Schüler*innen, Eltern und Bildungsinitiativen vorangetrieben werden. Die Arbeit von »Schule muss anders« in Berlin, vor allem in den Jahren 2021 bis 2023, ist ein gutes Beispiel dafür. Hier gelang es, drei zentrale Forderungen durchzusetzen: Die Ausbildung von mehr Lehrkräften an Berliner Unis, mehr Mittel für multiprofessionelle Teams und die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Antidiskriminierung und Inklusion im schulischen Bereich wurden im Koalitionsvertrag verankert. Zudem wurden über 50 Mio. € an zusätzlichen Mitteln für die Umsetzung der Forderungen erkämpft. Die GEW Berlin war aktiver Teil der Kampagne, Anstoß und Antrieb kamen allerdings von den Aktivist*innen von „Schule muss anders“. Es geht dabei nicht um die Frage, ob die GEW die zentrale oder bloß eine wichtige Rolle in einem Kampagnenbündnis spielt. Wichtig ist, dass Gewerkschaft und Schulbeschäftigte politische Druckkampagnen als originären Teil ihrer Aufgaben sehen, als eine wichtige strategische Option, um die Interessen auch ohne Streikmacht durchzusetzen. Das beinhaltet auch, dass Ressourcen in die Kampagnen- und Bündnisarbeit fließen, ein eigener Organizing- und Kampagnenbereich aufgebaut wird bzw. dass es eine strategische Debatte unter den Mitgliedern dazu gibt. Klar ist, die ehrenamtlichen Mitglieder haben immer eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Durchführung von Kampagnen.

Eine politische Druckkampagne unterscheidet sich von einer politischen Lobbykampagne, die letztendlich auf den guten Willen politischer Entscheidungsträger*innen setzt. Zwar ist auch Lobbyarbeit Teil einer politischen Druckkampagne, aber allein für Gewerkschaften kein machtvolles Instrument. In diesem Zusammenhang gilt es, in den einzelnen Bundesländern die Möglichkeiten von Volksbegehren z.B. für kleinere Klassen, Lehrkräfte-Schüler*innen-Relationen oder andere Entlastungsmöglichkeiten und gezielte Kampagnen rund um Wahltermine und andere Entscheidungsfenster auszuloten.

Es sei gesagt, dass die GEW und auch ver.di bereits Teil von Bündnissen im Bildungsbereich sind. Diese Bündnisse sind wichtig, doch haben sie in den seltensten Fällen das Ziel, durchdachte politische Druckkampagnen mit vielfältigen Beteiligungsmöglichkeiten aufzubauen. Und da, wo es solche Ansätze unter Beteiligung der Gewerkschaften gab und gibt, wie beim bundesweiten Bündnis „Bildungswende JETZT!“, stoßen rein ehrenamtlich angeschobene Kampagnen aufgrund von mangelnden Ressourcen und der Gefahr eines Burn-Outs im Aktivismus schnell an ihre Grenzen.

Kämpfe in Schule und Kita verbinden

Der dritte Vorschlag, um Macht in Bildungskämpfen aufzubauen, ist die Verbindung von Kämpfen in Schule und Kita. Man stelle sich einmal vor, was für ein politischer Druck in Berlin hätte aufgebaut werden können, wenn die Entlastungs-Kampagne zum Tarifvertrag Gesundheitsschutz an Berliner Schulen und die Kampagne zum Tarifvertrag „Pädagogische Qualität und Entlastung“ in Berliner Kitas solidarisch koordiniert, jeweils mit eigenem Kampagnenplan, Organizing-Methoden und ausreichend Ressourcen geführt worden wären.

»An den Kitas geht der Paritätische Gesamtverband schon jetzt von 125 000 fehlenden Erzieher*innen aus.«

Auch in Bundesländern ohne eigene Streikmacht im Schulbereich ist es sinnvoll, Kämpfe in Kita und Schule miteinander zu verbinden. Aus einer Gerechtigkeitsperspektive, die die ständige Reproduktion von Ungleichheit im deutschen Bildungssystem beenden will, sowie aus lernpsychologischer Sicht macht es wenig Sinn, nur für Entlastung und bessere Lernbedingungen in Kita oder Schule zu kämpfen. Aber auch strategisch ist die Verbindung dieser Kämpfe geboten. Der aktuelle und prognostizierte Erzieher*innenmangel in Kitas ist noch größer als der Lehrkräftemangel. An Schulen fehlen bundesweit aktuell zehntausende Lehrkräfte. Bis 2030 sollen es nach Einschätzung der GEW über 110 000 zusätzlich benötigte Lehrkräfte sen. An den Kitas geht der Paritätische Gesamtverband schon jetzt von 125 000 fehlenden Erzieher*innen aus. Die Alltagsprobleme sind vergleichbar und Erzieher*innen in Kitas und Lehrkräfte in Schulen haben geteilte Erfahrungen: zu große Gruppen, das ständige Gefühl, den Kindern und den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden, die krankmachende Arbeitsbelastung und von politischen Entscheidungsträger*innen mit einem „Bildung ist uns wichtig“ anstatt mit echter Unterstützung abgespeist zu werden.

Da Erzieher*innen angestellt und nicht verbeamtet werden, sind Kitas in den meisten Bundesländern potenziell streikfähiger als Schulen, auch wenn Kitas je nach Ort und Bundesland deutlich stärker in öffentliche und verschiedene private Trägerschaften aufgespalten sind. Es gilt, in jedem Bundesland auszuloten, inwiefern eine gewerkschaftliche Entlastungskampagne mit Streiks in Kitas und eine politische Druckkampagne für Entlastung an Schulen miteinander verknüpft werden können. 

Organisationskonflikt zwischen ver.di und GEW lösen

Um solche gemeinsamen Kämpfe zu ermöglichen und noch stärker als bisher wirkungs- und vertrauensvoll zu kooperieren, müssten ver.di und die GEW ihren Organisationskonflikt ̶ insbesondere im Kitabereich konkurrieren die beiden Gewerkschaften teilweise um Mitglieder  ̶  lösen. Geschieht das nicht, wird der Konflikt je nach Bundesland gemeinsame Kämpfe im Sinne der Beschäftigten stark beeinträchtigen.

Langfristige Strategie zur faktischen Durchsetzung von Beamt*innenstreiks

Natürlich muss es auch weiterhin ein wichtiges Ziel bleiben, allen Lehrkräften in Deutschland Streiks zu ermöglichen. Es braucht eine Debatte zu einer langfristigen Strategie, wie Streiks auch von verbeamteten Lehrkräften faktisch durchgesetzt werden können. Was für manche utopisch klingt, hat Vorläufer. In Berlin wurden beispielsweise 2011 mit Erfolg verbeamtete Lehrkräfte zum Streik aufgerufen. Der Senat hat mit Repression, Disziplinargesprächen und teilweise hohen Geldstrafen reagiert. Je mehr verbeamtete Lehrkräfte sich an einem Streik beteiligten, desto besser wären sie geschützt. Das ist kein Selbstläufer, sondern benötigt lange Aufbauarbeit, um eine ausreichende kollektive Stärke zu erreichen. Doch würden 90 Prozent der verbeamteten Lehrkräfte gemeinsam streiken, wäre das Streikrecht de facto durchgesetzt. Bei Arbeitskämpfen in West Virginia und Alabama wurden 2018 weitreichende Forderungen mithilfe von Streiks durchgesetzt, die dort rechtlich gesehen illegal waren. Weil die Beteiligung an den Streiks so stark war und der öffentliche Druck für ein Einlenken des Staats immer weiter stieg, griff der Staat nicht auf harte Repressionen zurück und akzeptierte die illegalen Streiks großteils (vgl. Blanc 2019, 51-54).

»Würden 90 Prozent der verbeamteten Lehrkräfte gemeinsam streiken, wäre das Streikrecht de facto durchgesetzt.«

Dieses Beispiel zeigt, dass Bildungskämpfe auch unter schwierigen Rahmenbedingungen gewinnbar sind. Grundlage für solche gewinnbaren Kämpfe sind die Ausarbeitung eines überzeugenden Durchsetzungsplans und eine klare Strategie zum Machtaufbau der Beschäftigten. Das setzt innergewerkschaftliche Diskussionen zu den hier angerissenen strategischen Fragen und das klare Bekenntnis zu einer kämpferischen Mitgliedergewerkschaft voraus. Diese strategischen Diskussionen sollten wir möglichst schnell, solidarisch und mit großer Offenheit führen. Die sich zuspitzende Bildungskrise lässt uns keine Zeit, dies aufzuschieben.

Weitere Beiträge

Alt-text is missing.

Mit Plan das Werk retten

Beim Automobilzulieferer Mecaner versucht die Gewerkschaft LAB mithilfe eines Konversionsplans die endgültige Schließung des Betriebs zu verhindern.

Gespräch mit Martín Lallana