Meiner Ansicht nach sind wir weit von davon entfernt, wirklich zu begreifen, wie tief greifend sich unsere Kultur derzeit verändert. Ich will es nicht einfach Kapitalismus nennen, weil dies eine ökonomistische Reduzierung wäre. Verantwortlich für die grundlegende Transformation unserer Gesellschaft sind neue Formen der Kapitalakkumulation samt der jeweiligen Alltagskulturen, ohne die dieses System weltweit gar nicht aufrechtzuerhalten wäre.

Und wie wurden diese Transformationen von den Ereignissen des 11. September 2001 beeinflusst?

Ich bin überzeugt, dass sie erheblich davon beeinflusst werden. Ich denke aber nicht, dass sie dadurch ausgelöst wurden. Seit etwa Mitte der 1970er Jahre ist der Neoliberalismus in unterschiedlicher Form auf dem Vormarsch. Reagan und Thatcher haben ihn auf der nationalen Ebene vorangetrieben, dann kam es zu seiner Verbreitung, und wir wissen alle, was danach passiert ist. Ich gehe also nicht davon aus, dass der 11. September diese Veränderungen hervorgebracht hat, dass er die neue Welt erschaffen hat. Er hat aber zweierlei bewirkt: Erstens hat er noch einmal für alle deutlich gemacht, wie sehr dieses neue System eine globale Führungsposition beansprucht. Nun ist das nicht wirklich etwas Neues. Seit dem Kalten Krieg ist die CIA damit beschäftigt, die ganze Welt irgendwie zu überwachen. Aber diesmal geht es um eine andere Form der Führung und Kontrolle. Es handelt sich um das erste planetarische System – und das macht den Unterschied aus.

Ich bin fest davon überzeugt, dass der 11. September den ersten Bruch mit diesem planetarischen System bedeutet. Und das ist der zweite Aspekt, ein wirkliches Paradox. Wer oder was ist dafür verantwortlich? Der Maoismus, der Marxismus, das revolutionäre Proletariat, die revolutionären Bauern? Nein, es war die verdammte Religion – die wir einfach vergessen hatten. Wir waren davon ausgegangen – und auch die Soziologen hatte uns das weismachen wollen –, dass die Säkularisierung ein unaufhaltsamer Prozess ist. Alle unsere Vorstellungen von Fortschritt und Modernität sind mit der Säkularisierung, dem Weltlichen, verbunden. Ich muss zugeben, dass ich von Säkularisierung in diesem Sinne nie viel gehalten habe. Ich habe Religion immer als etwas verstanden, das tief reichende Wurzeln hat. Ich bin selbst nicht religiös, war aber nie ein militanter Humanist, kein militanter Atheist. Als Intellektuelle haben wir über die Religion nicht weiter nachgedacht. Und dann erlebte sie einen unglaublichen Aufschwung. In einigen weniger entwickelten Teilen der Welt wurde sie angesichts des Mangels säkularer Alternativen zum Kristallisationspunkt des Widerstands.

Was ich sagen will, ist Folgendes: Was ich als planetarisches System bezeichnet habe, spannt die ›Überentwickelten‹ und die ›Unterentwickelten‹ in einem einzigen System zusammen. Seine Grundlage ist die ungleiche Entwicklung. Dies ist ein Begriff, der aus der marxistischen Tradition stammt, aber neu gedacht werden muss. Ungleiche Entwicklungen finden heute im Rahmen eines einzigen globalen Systems statt. Eigentlich war das in gewisser Weise immer schon so, und Marx hatte mit seiner Aussage recht, der Kapitalismus habe von Beginn an darauf beruht, sich immer größere Teile der Welt einzuverleiben. Heute ist es aber tatsächlich so: Die ganze Welt ist auf ungleiche Weise in dasselbe System integriert. Das bedeutet: Die erste, die dritte und die vierte Welt befinden sich alle in der ersten. Und heute wird über die Gewinne der Unternehmen aus der ersten Welt in Usbekistan entschieden oder an Orten, deren Namen wir noch nicht einmal richtig buchstabieren können und die man geografisch nicht wirklich verorten kann. Vielleicht ist das Auto, das man gerade fährt, schon ›überholt‹ aufgrund dessen, was dort passiert. Mich überrascht es deswegen nicht, dass die Politik, nachdem sich ihre sozialdemokratische oder liberale reformistische Variante erschöpft hatte, in einer viel extremeren, archaischen Form zu uns zurückgekehrt ist. Es handelt sich um eine Wiederkehr des Verdrängten.

Man denke nur daran, wie sich der arabische Nationalismus, der arabische Sozialismus und dann der arabische Liberalismus nacheinander verbraucht haben, quasi auseinandergefallen sind und sich in ihr Gegenteil verkehrt haben, sodass der einzige verbleibende Bezugspunkt für eine Mobilisierung in den arabischen Ländern inzwischen die islamische Religion ist. Alles Mögliche kommt darin nun zum Ausdruck. Ich kann auch offen sagen, was ich davon halte. Ich behaupte, dass das, was hier zum Vorschein kommt, zutiefst rückschrittlich ist und gleichzeitig eine verquere Vorstellung von Modernität darstellt. Es gibt das Bestreben, eine moderne Gesellschaft zu werden, gleichzeitig ist die Form, in der sich dies ausdrücken kann, vorherbestimmt, das heißt, sie drückt sich in der Tradition und der Sprache aus, die eine Gesellschaft zusammenhält. Und dies ist die Religion. Bei uns ist das anders, hier hält die Religion nicht mehr auf die gleiche Weise die Gesellschaft zusammen. Das Phänomen dürfte also hier nicht mit derselben Kraft auftreten wie zum Beispiel in Amerika.

In Europa lässt sich dieses Phänomen eigentlich nicht beobachten.

Nein, gar nicht. Europa ist der Ort, wo Religion nicht die gleiche Resonanz hat. Es ist eher etwas, was in der Luft liegt. Man spricht auch hier in religiösen Begriffen. Aber in anderen Gesellschaften, zum Beispiel in den USA, ist Religion ganz anders Teil der Alltagssprache, mit ihr wird alles Mögliche transportiert: Nationalismus, Liberalismus, Fortschritt und die Opposition zu allem, wofür dieses globalisierte System steht. Für uns heißt das, dass wir mit gesellschaftlichen Kräften, die in dieser Form auftreten, keine Bündnisse schließen können. Aber die einzige Alternative dazu kann auch nicht sein, sich auf die andere Seite zu schlagen. Ich bin überzeugt, das hilft auch nicht weiter. Ich muss die ganze Zeit an die tragische Situation in Palästina denken, daran, wie die westliche Welt diese hat eskalieren lassen. Es ist paradox, dass die Araber im Nahen Osten beziehungsweise die Palästinenser dafür bezahlen müssen, dass Westeuropa und Nordamerika die Juden verfolgt und zum Teil vernichtet haben. Das ist bizarr. Ich denke an Israel und für mich steht fest, dass Israel allein aufgrund praktischer Gründen weiterexistieren muss, aber es hat für mich keine Legitimation als ein ethnisch gesäuberter religiöser Staat.

Was ich damit sagen will, ist: Wie zeigt sich der Widerstand gegen die Art und Weise, wie die USA mithilfe von Israel im gesamten Mittleren Osten ihren Herrschaftsanspruch durchsetzt? Dabei spielt Religion eine wichtige Rolle. Das war nicht immer so, es hat auch säkulare Gegenbewegungen gegeben. Aber letztlich sind diese damit konfrontiert, dass es kaum noch etwas gibt, was diese zerrissene Gesellschaft zusammenhält. Man spricht von einer Zweistaatenlösung. Gibt es jedoch eine Vorstellung davon, wie der andere Staat aussieht? Ich meine, Palästina ist wie ein Käse, ein Käse mit vielen Löchern. Selbstverständlich wird da Religion eine Rolle spielen. Ich denke an Fanon, der sehr klug war, aber nie verstanden hat, dass sich die algerische Revolution mit der Religion hätte arrangiert müssen, um sich nicht von ihr zersetzen oder schwächen zu lassen. Und so weiter und so fort. Ich meine, dass wir dafür eine gewisse Verantwortung tragen, weil Religion eine kulturelle Form ist. Wir sollten uns vor allem mit der widersprüchlichen Art und Weise befassen, wie Religion in verschiedene Herrschaftssysteme eingeschrieben ist und wie es ihr eher unbewusst gelingt, den Menschen subjektive Identifikationen zu verschaffen, die es ihnen ermöglichen, Vorstellungen von Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Das bedeutet nicht, die religiöse Grundlage zu befürworten, sondern sie als ein kulturelles System zu begreifen, das auf bizarre Weise in unserer Welt des 21. Jahrhunderts wirksam ist. Das haben wir versäumt. Ich bin also der Ansicht, dass mit dem 11. September ein Schalter umgelegt wurde, aber es hatte sich lange schon vorher etwas zusammengebraut.

Auszug aus einem Interview mit Stuart Hall, geführt von Colin MacCabe im Dezember 2007, zuerst erschienen in Critical Quarterly ©2008, Band 50, 37ff. Aus dem Englischen von Thomas Laugstien und Britta Grell.