Die Demonstration am 12.März 2012 war die erste bedeutende gesellschaftliche Reaktion auf die drastischen Sparmaßnahmen, die der sogenannte Plan für Stabilität und Wachstum (SGP) der sozialistischen Minderheitsregierung vorsah. Rund 4000 Menschen, eine „verzweifelte Generation“, demonstrierten in über 12 Städten. Sie bildeten den Auftakt zu zahlreichen Protesten. Am 15. September 2012 gingen 1 Millionen Menschen auf die Straßen Portugals, das sind ungefähr 20 Prozent der aktiven Bevölkerung. Angeblich war es die größte Demonstration seit dem 1.Mai 1974, der eine Woche nach der Nelkenrevolution gefeiert wurde. Auslöser war der Plan der Regierung, den Arbeitgeberbeitrag zum Sozialversicherungssystem (TSU) von 23,75 auf 18 Prozent zu senken und gleichzeitig den Arbeitnehmerbeitrag von 11 auf 18 Prozent anzuheben. Die ArbeiterInnen verstanden sofort, dass sie jedes Jahr einen Monatslohn[2] verlieren würden, und so weitere Erträge der Lohnarbeit direkt ans Kapital umgeleitet würden. Unter dem Motto der Demonstration am 15.September - ”Que se lixe a Troika, Queremos as Nossas Vidas!” (Weg mit der Troika, wir wollen unsere Leben zurück!) - versammelten sich am 21. September Tausende vor dem Präsidentenpalast, in dem der Staatsrat tagte. Am 13. Oktober besuchten ebenfalls Tausende ein kostenloses Kulturevent unter dem gleichen Motto, an dem prominente SchauspielerInnen, MusikerInnen und TänzerInnen teilnahmen. Die Proteste hatten Erfolg und die Regierung nahm die TSU-Maßnahmen zurück. Dieser Erfolg war zentral für zukünftige Mobilisierungen.

Brüche und Kontinuitäten der Entwicklung

Fast jede Woche rufen verschiedene Organisationen zu Aktionen und Veranstaltungen auf. Diese werden von den jeweiligen Gruppen allein organisiert und sind oft nicht besonders gut untereinander koordiniert. Wenn soziale Bewegungen auch in ruhigeren Zeiten ihre Aktivitäten aufrecht erhalten, ist das nicht zuletzt der Energie und dem Momentum von AktivistInnen geschuldet, die auch in Parteien oder Gewerkschaften organisiert sind. Sie sind permanente Antriebskraft hinter den sozialen Bewegungen und nur wenige Organisationen könnten ohne sie überleben. Ab und zu erreichen Sozialproteste hektische Höhepunkte und können für die Gesellschaft folgenreich erschüttern – aber gleich Erdbeben verschwinden diese oft nach ein paar Tagen wieder und bieten nur wenige Anknüpfungspunkte für zukünftige Aktionen. Großdemonstrationen wie die oben beschriebenen illustrieren dies. Die beiden Initiativen waren unter anderem auch deswegen erfolgreich, weil große Medienkonzerne sie beworben und unterstützt hatten. Im März 2011 war die gesamte portugiesische Bevölkerung (von ArbeiterInnen über KapitalistInnen, inklusive der BesitzerInnen der großen Medienkonzerne) der Regierung des damaligen Premierministers José Sócrates überdrüssig. Sogar die Arbeitgeberverbände teilten diese Ablehnung. Daher fielen in den beiden beschriebenen Situationen die Interessen der Medienkonzerne und der Protestierenden auf eine ungewöhnliche Weise zusammen. Beide Proteste wurden täglich in den Medien beworben, die Ziele und ihre OrganisatorInnen erfuhren mehr Aufmerksamkeit als jemals zuvor. Sogar über die Teilnahmezusagen in sozialen Netzwerken wurde in regelmäßigen Abständen berichtet. So kam es zu einer enormen Ausweitung des Protests. In Portugal, wie im Rest der Welt, stehen die Medienkonzerne der Macht sehr nah, sodass dies wirklich ein außergewöhnliches Ereignis darstellt. Zudem begingen die Regierenden in beiden Fällen strategische Fehler, die immer mehr Menschen dazu veranlassten, sich an den Aktionen zu beteiligen. Die sozialen Proteste hatten bereits eine gewisse Dynamik entwickelt – aber die Tatsache, dass der Finanzminister Teixeira dos Santos einen Tag vor der Demonstration am 12. März ein Paket dutzender Kürzungsmaßnahmen ankündigte, brachte den Durchbruch. Weniger als eine Woche vor der Septemberdemonstration verkündete der Premierminister, dass der Haushalt des Jahres 2013 drakonische Einschnitte vorsah, was in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu  großem Unmut führte. Die Regierenden spielten ungewollt in die Hände der Bewegungen. Mit dieser ungewollten Schützenhilfe stellten sie unter Beweis, wie weit sie von der Realität der Bevölkerung entfernt waren. Natürlich wäre es wünschenswert, dass die Aktivitäten der Bewegungen intensiver, konsistenter, pro-aktiver und dauerhafter wären. Für die portugiesischen sozialen Bewegungen gilt das gleiche wie für andere europäische Bewegungen: Das Aktivitätslevel scheint nie ausreichend. Aus den jüngsten Mobilisierungen können wir jedoch lernen, dass in der gegenwärtigen portugiesischen Gesellschaft nur unregelmäßige Verläufe sozialen Protests möglich sind. Beachtliche und intensive Arbeit wurde und wird geleistet. Ein großer Teil der portugiesischen Gesellschaft hat hinsichtlich sozialen Protests lange geschlafen. Die Demonstration am 15. September 2012 zeigte, dass er nun aufgewacht ist.

Demonstrationen auf den Straßen, konservative Parteien an der Macht

In Ländern wie Portugal, Spanien oder Deutschland haben Mitte- und Rechtsparteien wiederholt Wahlen gewonnen. In Portugal bekundeten die sozialistische Partei (PS), die Sozialdemokraten (PSD) und die Volkspartei (PP) öffentlich ihr Einverständnis mit den Abkommen, die die Troika dem Land aufzwang. Warum wurden sie gewählt, obwohl sie zustimmten? Vielleicht können folgende Fakten darüber Aufschluss geben: a) Viele der Demonstrierende hatten bei den Wahlen nicht für linke Parteien gestimmt. Es herrschte eine Art politische Apathie, die jedoch seit 2011 etwas abgenommen hat. Außerdem unterstützten konservative Institutionen sowie das Bankensystem bestimmte „Bewegungen“, die Menschen von den Vorzügen technokratischer Lösungen überzeugten. b) Ein Märchen wurde im Land verbreitet: Portugal könne ohne die Kredite der Troika weder die Löhne der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, noch die Renten oder Sozialleistungen zahlen – die staatlichen Dienstleitungssysteme wie Bildung, Gesundheit und Sicherheit würde zusammenbrechen. Die politischen und finanziellen Eliten schürten diese Ängste vor den Abstimmungen über die Rettungspakete mit Hilfe monatelanger Kampagnen großer Werbeagenturen. Zusammen mit dem TINA-Mantra „There Is No Alternative“ (Es gibt keine Alternative)  bereitete dies den Boden für die Zustimmung der Bevölkerung zu dem „Rettungspaket“ und zu allen von ihr zu erbringenden Opfern. c) Auch die unzulässig vereinfachende Annahme, dass Portugal mehr Geld brauche, um das Vertrauen internationaler Investoren zurückzugewinnen, erfreute sich großer Beliebtheit. Das Land hätte dieses Vertrauen aufgrund der massiven Verschuldungspolitik gewissenloser vorheriger Regierungen und der exzessiven Staatsausgaben verloren. Die Argumentation war recht einfach: Wir sind verschuldet, weil wir mehr ausgegeben haben, als wir uns leisten konnten, daher müssen wir nun die Ausgaben senken, um Schulden abzubauen. Dieses Prinzip aus der privaten Hauswirtschaft auf eine Volkswirtschaft zu übertragen vermittelt seine Botschaft anschaulich. d) Mit den selben hauswirtschaftlichen Prinzipien wurde gerechtfertigt, dass man den Schuldendienst um jeden Preis leisten müsse. Portugals Schulden belaufen sich auf 120 Prozent des BIP, und die Zinsen werden 2013 8,8 Milliarden Euro betragen, was 5 Prozent des BIP und dem gesamten Jahresdefizit des Landes entspricht. Diese Argumentation wurde strategisch eingesetzt, um die BürgerInnen von ihrer individuellen Verantwortung für die Schulden zu überzeugen. Diese schwingt auch in dem täglich wiederholten Spruch mit: „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt.“ e) Dem gleichen Narrativ zufolge sollte das Land alle vergangenen Fehler korrigieren, den Staat durch Lohn- und Sozialleistungskürzungen gründlich reformieren und somit die Wettbewerbsfähigkeit verbessern. In der Folge verwalten private Firmen Schulen und Krankenhäuser, über ein Dutzend staatliche Betriebe wurden privatisiert und sogar Sozialleistungen und Angestellte des Öffentlichen Dienstes erscheinen entbehrlich. f) Andererseits wurden die Parteien, die das Memorandum öffentlich unterstützten, auch gewählt, weil sie die geplanten Kürzungsmaßnahmen nicht vollständig offenlegten. Der ursprüngliche Plan der Troika wurde seit Juni 2011 fünfmal revidiert und jede Überarbeitung sah mehr Austerität und weitere Kürzungen vor. Im Moment der Abstimmung waren der Bevölkerung nur Teile der sozialen und wirtschaftlichen Programme bekannt. g) Zum Zeitpunkt der Wahlen wurde der Sozialistischen Partei die Alleinschuld an der katastrophalen Situation des Landes gegeben, ähnlich wie in Griechenland. Dies ebnete den Weg für den Sieg der rechten Koalition aus PSD und PP, die derzeit die Regierung bildet. Linke Kreise machten alle Parteien, die den Kapitalismus affirmieren und seit der Revolution abwechselnd die Regierungen gestellt hatten, für die Krise verantwortlich: PS, PSD und PP. Die Rechte hingegen beschuldigte die PS und alle, die sich für einen starken öffentlichen Sektor einsetzten. Aber im Unterschied zu Griechenland gab es keine „Entpasokisierung“ und die Schwäche der PS machte auf dem Höhepunkt der Krise den Weg frei für eine rechte Regierung.[3] h) Die Linke hat es nicht vermocht, ihre Argumente weit genug zu verbreiten, um die Horrorszenarien der neoliberalen und konservativen Rechten zu entkräften oder mögliche Alternativen aufzuzeigen. Die internen Prozesse der Selbstklärung und Formulierung von Antworten, die keine institutionellen Brüche auf nationaler oder europäischer Ebene bedeuten würden, befanden sich in einem sehr frühen Stadium. Linke Alternativen zur Austeritätspolitik, wie eine Stärkung eines alternativen europäischen Föderalismus oder ein evtl. Austritt aus dem Euro für mehr monetäre Autonomie, sind jetzt offensichtlich. Anfang 2011 waren sie es jedoch nicht. i) Die altbekannte Unfähigkeit der Linken, gemeinsame Nenner zu finden und die Kräfte bei den Wahlen zu bündeln, war ein weiterer Vorteil für die Rechte, die sich mit der PS hinsichtlich der Austeritätspolitik einig war.

Stärken der sozialen Bewegungen…

In dem Prozess, der Bevölkerung die Notwendigkeit zum Handeln und Intervenieren auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene bewusst zu machen, spielten portugiesische Intellektuelle eine wichtige Rolle. Sie waren elementarer Bestandteil der sozialen Bewegungen und entscheidend bei der Gründung neuer Initiativen wie z.B. der Bürgerinitiative für eine Prüfung der öffentlichen Schulden (Schuldenaudit). Die Intellektuellen haben ihren Teil beigetragen: Von der Teilnahme des Soziologen Boaventura de Sousa Santos an den Platzbesetzungen bis zu den Strategien, die der Präsident der geschichtsträchtigen Wirtschaftsfakultät der Universität Coimbra, José Reis, entwickelte, um die Präsenz der Bewegungen in den Medien zu verbessern. Unter anderem versuchte er, die Themen der Berichterstattung durch alternative Schulungs-Workshops für JournalistInnen zu verändern, oder die allgemeine Öffentlichkeit durch offene Workshops zu erreichen. Diese Veranstaltungen waren eigentlich kostenlose Seminare auf Master-Niveau und knüpften an das Konzept der offenen Universitäten für die gesamte Bevölkerung an. Solche Interventionen haben wichtige Beiträge zu dem dringenden Reflektionsprozess und der Entwicklung von Alternativen geleistet. Gerade in Schlüsselbereichen wie der Wirtschaft sind die Stimmen namhafter AkademikerInnen wichtig. Diese Zusammenarbeit ist entscheidend für die Dekonstruktion neoliberaler Narrative wie für die Überwindung der Zugangsbarrieren zu den Medien, welche von den KapitalistInnen errichtet werden, die die Medienkonzerne besitzen. Zu den beeindruckendsten Merkmalen der portugiesischen sozialen Bewegungen zählen die Fähigkeiten der AktivistInnen: Nicht nur ihr Organisierungsgeschick, auch das Gedächtnis der Bewegungen ist beeindruckend. In den 1990er Jahren z.B. organisierte sich eine Bewegung gegen Studiengebühren, die der Regierung die Stirn bot. Universitäten wurden besetzt, verschiedene öffentliche Informationsveranstaltungen und Abstimmungen sowie Debatten wurden abgehalten. Es kam zu Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die wichtigsten Merkmale und Richtlinien der heutigen Bewegungen haben ihre Ursprünge in diesen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre, zu denen tausende kamen. Die gleichen Studierenden halfen, Organisationen aufzubauen, die heute die Bewegung ausmachen und gaben ihre gewonnenen Erfahrungen und ihr Wissen weiter. Einige der Militärs, die Teil der Revolution des 25. Aprils 1974 gewesen waren, sind ebenfalls in einigen Initiativen aktiv. Sie sind vielleicht nicht so zahlreich, aber sie sind nach wie vor relevant.

…und ihre Schwäche.

Dennoch müssen einige Probleme behoben werden, angefangen bei der geringen Zusammenarbeit und Koordination der verschiedenen Organisationen innerhalb des Spektrums der Bewegungen. Die geringe Mitgliederzahl und Schwäche der Organisationen könnte ausgeglichen werden, wenn sie zusammenarbeiten, gemeinsame Aktionen machen und Interventionen in öffentlichen Debatten gemeinsam planen würden. Die meisten der Organisationen haben nicht mehr als einige Dutzend AktivistInnen. Das ist sowohl der Prekarität portugiesischer ArbeiterInnen geschuldet, als auch der Fragmentierung der Organisationen. Um das Ausmaß der Prekarität der ArbeiterInnen zu verstehen, sind einige Eckdaten wichtig: ArbeiterInnen mit einer vollen Stelle arbeiten in Portugal nach Griechenland, Österreich und Großbritannien am meisten Wochenstunden. Nach Angaben von Eurostat arbeiten sie insgesamt 42,3 Stunden pro Woche.[4] Dabei sind portugiesische Löhne extrem niedrig. Statistiken der EU zeigen, dass 1,2 Millionen Menschen in Portugal arm sind, obwohl sie arbeiten – also weniger als 434 Euro pro Monat verdienen. 31 Prozent der ArbeiterInnen werden als arm oder von Armut bedroht eingestuft.[5] Circa 1,8 Millionen ArbeiterInnen arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Vor dem Hintergrund dieses kurzen Einblicks in die portugiesische Arbeitswelt ist leicht nachzuvollziehen, dass Menschen nicht viel freie Zeit für sozialen Aktivismus zur Verfügung haben. Sie kommen zu erschöpft von der Arbeit und sehen sich mit dringenderen Problemen konfrontiert oder suchen nach Arbeit oder anderen Wegen, um ihr Überleben zu sichern. Das System verschleißt, okkupiert und beutet die arbeitende Bevölkerung aus. Hinsichtlich der Fragmentierung der sozialen Bewegungen konnten wir einen scheinbaren Widerspruch beobachten: Die Tatsache, dass die allgemeine Öffentlichkeit sich stärker an den Protesten beteiligt, hat überraschenderweise die bereits bestehenden Organisationen eher geschwächt, deren historische Erfahrung für die derzeit dringend notwendigen Interventionen so wichtig ist. Innerhalb weniger Monate sind zahlreiche Organisationen neu entstanden, wie z.B. Portugal Uncut (Ungekürztes Portugal), Movimento 12 de Março (Bewegung 12. März), Movimento 15 de Outubro (Bewegung 15. Oktober), Movimento Que se Lixe a Troika (Zur Hölle mit der Troika!), Iniciativa Cidadã por Uma Auditoria à Dívida Pública (Bürgerinitiative für die Prüfung der öffentlichen Schulden), o Congresso Democrático das Alternativas (Demokratischer Kongress der Alternativen), Primavera Global (Globaler Frühling) neben vielen anderen, die wenige Monate nach ihrem Entstehen wieder verschwanden. Die Zunahme der AktivistInnen  entsprach dem exponentiellen Wachstum an Organisationen jedoch in keiner Weise. Es entstand der Eindruck, dass überall immer die gleichen Leute aktiv waren, obwohl sie für verschiedene Organisationen arbeiteten – was der Bewegung ohne Zweifel schadete. Man bedenke, wie wichtig es für den Erfolg der sozialen Bewegungen in Spanien war, dass bestehende Organisationen neue Strukturen entwickeln konnten, anstatt neue Organisationen zu gründen (vgl. Ruiz in LuXemburg 1/2013). In den 1990ern speisten sich die Proteste aus den Studierenden, die z.T. immer noch aktiv sind. Heute ist die Situation umgekehrt. Die Studierendenbewegung ist an einem Tiefpunkt angelangt. Sie konnte bisher weder neoliberale Politikansätze kritisch verhandeln, noch antikapitalistische Perspektiven oder wenigstens Bewegungen gegen die Austeritätspolitik hervorbringen. Dies ist problematisch für die Erneuerung der sozialen Bewegungen, da keine neuen Generationen von AktivistInnen nachfolgen. Daher müssen die Organisationen besondere Anstrengungen unternehmen, diejenigen für sich zu gewinnen, die gegen die Kürzungspolitik sind, gegen ein System, das ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Erwartungen nicht mehr erfüllt. Hunderttausende protestieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Es ist Aufgabe der AktivistInnen dafür zu sorgen, dass diese Menschen nach den Demonstrationen nicht zurück nach Hause gehen, sondern zukünftige Proteste vorantreiben und Alternativen aufbauen.

Gemeinsame Aktionen mit den Gewerkschaften

Eine der andauernden Debatten in den Organisationen der portugiesischen sozialen Bewegungen dreht sich um die Koordinierung und Kooperation mit den Gewerkschaftsverbänden CGTP und UGT und den Parteien. Koordinierung kann Synergien ermöglichen. Aufrufe zu Demonstrationen oder Kampagnen in Zusammenarbeit mit einer der großen Gewerkschaften wird mehr Menschen erreichen, als wenn sie von nur einer Organisation initiiert werden. Mit diesen historischen Strukturen zusammenzuarbeiten eröffnet den sozialen Bewegungen auch Zugang zu den Kontaktdatenbanken, was entscheidend für die Kommunikation der Initiativen ist. Obwohl der Zugang der Gewerkschaften zu den Medien ebenfalls eingeschränkt ist, so ist er doch besser als der der sozialen Bewegungen. Der wichtigste Aspekt gemeinsamer Aktionen ist, dass die sozialen Bewegungen von den Erfahrungen und dem Wissen lernen können, dass die ArbeiterInnen der Gewerkschaften über die Jahrzehnte gewonnen haben. Der Kontakt mit den ArbeiterInnen, die täglich in den Gewerkschaftsstrukturen aktiv sind, ist zentral für die Entwicklung und die Lernprozesse innerhalb der Bewegung. Andererseits ist die Befürchtung weit verbreitet, die Gewerkschaftsstrukturen könnten bei gemeinsamen Aktionen die Aktiven der Bewegungen in den Hintergrund drängen. Und leider sind diese Befürchtungen in Portugal wie in vielen anderen Ländern nicht unbegründet. In den Debatten um Kooperation ist die Frage nach der Kontrolle daher zentral. Die Bewegungen distanzieren sich immer wieder von den politischen Parteien, obwohl viele AktivistInnen auch Parteimitglieder sind. Trotzdem vermischen sich diese Sphären nie auf formaler Ebene. Auch die beiden wichtigsten portugiesischen Gewerkschaftsverbände CGTP und UGT stehen jeweils der Kommunistischen bzw. Sozialistischen Partei nahe. Beide Vorsitzende dieser Gewerkschaften sitzen in den höchsten Gremien der jeweiligen Partei. Dies stellt eines der Hindernisse für die Einheit von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen dar. Obwohl wir beobachten können, wie die sozialen Bewegungen auf die Gewerkschaften zugehen, geschieht dies umgekehrt kaum. Den Gewerkschaften fällt es schwer, sich an die neuen Realitäten und Organisierungsformen der Kämpfe anzupassen. Einige der Demonstrationen und Kämpfe haben ihren Ursprung in sozialen Netzwerken, in autonom organisierten Gruppen, ohne definiertes Epizentrum und mit anderen Anliegen als den traditionellen Gewerkschaftsthemen. Auf der anderen Seite neigen die Gewerkschaften dazu, Themen wie Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, oder Prekarität hintenanzustellen. Das erschwert die Beziehungen zwischen Bewegungen und Gewerkschaften. Gewerkschaften betrachten die sozialen Bewegungen als anarchische Strukturen, die ideologisch leicht manipulierbar sind, und die Bewegungen sehen die Gewerkschaften als altmodische, rigide Strukturen. Jenseits all dieser Faktoren mangelt es den Gewerkschaften an Bereitschaft, die sozialen Bewegungen in die von ihnen organisierten Proteste mit einzubeziehen. Manchmal mobilisieren sie sogar zum selben Zeitpunkt zu anderen Orten, um TeilnehmerInnen der Bewegungsproteste abzuwerben und nicht von der Initiativkraft der Selbstorganisation einfacher Bürgerinnen und Bürger übertroffen zu werden. Sogar bei der historischen Demonstration am 15. September 2012 gab die CGTP erst am Morgen desselben Tages ihre Teilnahme an dem Protest bekannt. Im Vorfeld hatte sie trotz Einladungen nie ihre Teilnahme zugesagt oder wenigstens die Wichtigkeit der Initiative anerkannt. In Zukunft müssen der Dialog und die Koordinierung der Kämpfe unbedingt verbessert werden. Die sozialen Bewegungen werden weiterhin die Gewerkschaften zu ihren Aktionen einladen und nach wie vor zu Gewerkschaftsprotesten gehen. Die Positionen der Gewerkschaften scheinen sich auch zu verändern. Bei einem Treffen sagte ein  Vorstandsmitglied der CGTP im Vertrauen zu uns, dass die Geste der Solidarität in Richtung der CGTP am 15.September dazu beigetragen habe, die wechselseitigen Distanzierungen aufzuheben.

Schritte zur Internationalisierung der Bewegungen

Die Kämpfe der sozialen Bewegungen richten sich heute wie nie zuvor auf supranationale Zusammenhänge. Wenn wie im Oktober dieses Jahres zu einer Belagerung des Parlaments aufgerufen wird, um gegen den antisozialen Haushaltsentwurf für 2013 zu demonstrieren, so richten sich die Rufe der DemonstrantInnen nicht nur an die portugiesischen Abgeordneten, sondern auch an die RepräsentantInnen internationaler Institutionen wie der Europäischen Kommission, der EZB und des Internationalen Währungsfonds. Neoliberale Kräfte sind dem Widerstand der Bewegungen mehrere Schritte voraus. Die Angriffe auf die Reste  des europäischen Sozialstaats und die rasante Liberalisierung der Wirtschaft gehen von internationalen Institutionen aus, während der Widerstand und die Einspruchsmechanismen auf lokaler und nationaler Ebene angesiedelt sind. Bewegungen haben die Notwendigkeit erkannt, sich dementsprechend neu auszurichten. Attac Portugal entschied sich zum Beispiel ungeachtet seiner strukturellen Schwächen, seinen gesamten Aktionsplan zu ändern, um seine Kräfte auf die stärkere internationale Vernetzung und die Umsetzung der Aktionen des europäischen Netzwerkes auf nationaler Ebene zu bündeln. Die portugiesischen AktivistInnen nahmen an mehreren europaweiten Treffen, Debatten und Demonstrationen Teil, um gemeinsame alternative Reflektionen auf europäischer Ebene voranzutreiben. Im Jahr 2012 nahmen griechische, spanische, französische und deutsche AktivistInnen an Debatten teil, die Attac Portugal angestoßen hatte. Zum ersten Mal wird 2013 auch das Treffen des europäischen Netzwerkes in Portugal stattfinden, bei dem AktivistInnen aus vielen Ländern Europas sowohl intern als auch öffentlich miteinander diskutieren werden. Die Bürgerinitiative für ein öffentliches Schuldenaudit (IAC) startete seine Aktivitäten mit einer nationalen Konferenz mit internationalen Gästen. Unter ihnen waren unter anderem Maria Lucia Fatorelli aus Brasilien, Costas Lapavitsas aus Griechenland, und Éric Toussaint aus Belgien. Die Prüfung der portugiesischen Schulden wird dabei stets als ein Puzzleteil der notwendigen europaweiten Prüfung begriffen. Dies sind nur zwei Beispiele. Andere Bewegungen, wie die der prekären ArbeiterInnen oder der OrganisatorInnen der Demonstrationen vom 12. März 2011 und 15. September 2012, stehen in regelmäßigem Kontakt mit anderen Bewegungen auf europäischer Ebene. Die Kooperationen zwischen den Organisationen der verschiedenen Länder kommen zustande, weil die portugiesischen Organisationen daran Interesse haben, aber auch durch die zahlreichen Einladungen zu internationalen Foren, die sie erhalten. Der Wille, die Kämpfe auf supranationaler Ebene zu organisieren, ist stärker als je zuvor. Während am 14.November die Fahnen Portugals, Italiens, Griechenlands und Spaniens den griechischen Generalstreik anführten, hallten Rufe wie „der Kampf ist international“ durch die Straßen Europas. Auch in der Welt der Gewerkschaften gibt es ermutigende Beispiele von Annäherungen auf europäischer Ebene, die zum historischen europäischen Streik am 14.November 2012 führten. Schon vor dieser Entscheidung hatten verschiedene nationale Gewerkschaftsbünde gemeinsame Positionspapiere zu den Angriffen des Kapitals auf die peripheren Ökonomien der Eurozone verfasst. Die europäische Linke wurde auch durch den Kampf gegen die europäische Austeritätspolitik geeint. Über die Jahre waren die Verbindungen zwischen den jeweiligen europäischen Schwesterparteien stärker geworden, aber sie hatten niemals das Ausmaß an Engagement und Enthusiasmus für eine Wahlkampagne erreicht, wie während des zweiten Wahlkampfes von Syriza 2012. Dies hing natürlich auch mit dem Stellenwert der Wahlen zusammen und den Erwartungen, die man an sie knüpfte. Die Bemühungen, die die Parteien unternahmen, um der leidenden Bevölkerung ihre Solidarität zu zeigen, sind nicht zu leugnen. Als Angela Merkel Griechenland und Portugal besuchte, schickte z.B. die LINKE eigene RepräsentantInnen in diese Länder, um alternativen Stimmen Gehör zu verschaffen. Sie konnten der lokalen Bevölkerung vermitteln, dass auch in Deutschland Millionen Menschen gegen die Austeritätspolitik sind. Diese enge Zusammenarbeit, ergänzt durch Online-Kommunikationswerkzeuge, hat zu einem Diskussionsprozess beigetragen, in dem nach stichhaltigen Alternativen zur Austeritätspolitik und zum kapitalistischen System selbst gesucht wird. Das Mantra des „There Is No Alternative“ wurde geschwächt. Diese neuen Narrative entwickelten sich jedoch nur langsam, verglichen mit der Erneuerung der Sprache der herrschenden Mächte. Es müssen neue Wege gefunden werden, die internationalen Bündnisse von lokaler bis zur supranationalen Ebene zu stärken, um Bewegungskampagnen auf europäischer Ebene durchführen zu können. Bisher gibt es keine Strategien, die Schranken und Vorurteile gegenüber den sozialen Bewegungen abzubauen, die die Medien aufgebaut haben. Auch Kommunikationsstrategien müssen auf supranationaler Ebene entwickelt werden. Regelmäßige europäische Begegnungen sollten alle sechs Monate stattfinden. Derzeit werden solche Treffen auf anarchische Weise abgehalten. Zu jeder Veranstaltung kommen andere TeilnehmerInnen, was nicht gerade zu einer kohärenten Aktionslinie über längere Zeit beiträgt. Im Juni 2013 findet in Griechenland ein Alternativgipfel statt, der AlterSummit. Im Anschluss daran kommt es darauf an, die Aktivitäten, die aus den Beschlüssen der Konferenz entwickelt werden, kontinuierlich zu begleiten und den Erfahrungsaustausch bei einem zweiten Treffen Ende des Jahres fortzusetzen. Dies wird nur möglich sein, wenn permanente Strukturen auf europäischer Ebene finanziert werden. Wenn eine europäische Koordination geschaffen werden soll, müssen wir zunächst davon ausgehen, dass die Bewegungen zuallererst ein gemeinsames Ziel verfolgen sollten. Wir brauchen nicht noch mehr Solidaritätsbewegungen und Proteste in Europa. Den Kampf um Europa müssen nicht nur die AktivistInnen aus Südeuropa kämpfen. ArbeiterInnen in Zentraleuropa leiden ebenfalls seit 2000 unter der Stagnation der Reallöhne, und die Rezession wird vielleicht bald auch bei ihnen ankommen. Portugals Handelsdefizite sind Deutschlands Überschüsse. Es herrscht Klassenkampf. Kampagnen müssen die Grenze zwischen dem einen und den 99 Prozent definieren. Dies ist unsere Strategie gegen die neoliberale Taktik, EinwohnerInnen verschiedener Länder gegeneinander in Stellung zu bringen.
 
[1]     Der größte Gewerkschaftsbund CGTP (Allgemeiner Bund der portugiesischen ArbeiterInnen), der der Kommunistischen Partei (PCP) nahe steht, rief zu den drei Generalstreiks auf. In einem Fall arbeitete er mit dem Gewerkschaftsbund UGT (Allgemeine Gewerkschaft der ArbeiterInnen) aus dem Umfeld der sozialistischen Partei zusammen.
[2]     Nach portugiesischer Rechtsprechung erhalten ArbeiterInnen 14 Monatslöhne im Jahr. Somit entspricht eine Lohnminderung um sieben Prozent Einbußen von 98 Prozent eines Monatsgehaltes. [3]     Im Juni 2011 wurde die PS nur zweitstärkste Kraft. Damit straften die Wählerinnen und Wähler den sehr unbeliebten Parteivorsitzenden und Premierminister José Sócrates ab, der innerhalb wie außerhalb seiner Partei scharf kritisiert wurde. Sein Rücktritt konnte abwenden, dass die Partei so massive Einbrüche hinnehmen musste wie die PASOK in Griechenland.
[4]     https://docs.google.com/spreadsheet/ccc?key=0AonYZs4MzlZbdDNoOUlYZDk4YUp2ZDFJUVAwNXpXYkE#gid=0
[5]     www.dinheirovivo.pt/Economia/Artigo/CIECO034306.html