Im Gegensatz zu diesen Äußerungen bestehen aufseiten der offiziellen katholischen Kirche nach wie vor enorme Vorbehalte gegenüber einer Theologie der Befreiung und einem Christentum, das sich dem sozialen und politischen Wandel verpflichtet fühlt – und das, obwohl Papst Franziskus in diesen Fragen große Offenheit zeigt. Kürzlich behauptete der Vorsitzende der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM), dass die Befreiungstheologie gar nicht mehr existiere. Sie sei tot. Das ist aber nicht wahr. Allein seit 2012 fanden in der Region mehrere große Treffen und Kongresse zur Befreiungstheologie statt, darunter das 4. Weltforum für Theologie und Befreiung in Dakar (Januar 2012), der Internationale Theologie-Kongress in São Leopoldo, Rio Grande do Sul (Oktober 2013) und das erste nationale Treffen der Jugend und zum Geist der Befreiuung in Fortaleza, Ceará (Mai 2014), um nur einige zu nennen. Zudem gibt es zurzeit in der Region einige Länder, deren Regierungen auf Seiten der Unterdrückten stehen. Der ehemalige venezolanische Präsident Hugo Chávez bekannte sich in mehreren Interviews zum christlichen Glauben und wies darauf hin, dass die bolivarische Revolution – der neue Typ des demokratischen Sozialismus, der sich in Lateinamerika herauszubilden beginnt – seine Wurzeln im Christentum und im Evangelium hat. Auch Rafael Correa, Präsident von Ecuador, beschreibt sich als Anhänger der Befreiungstheologie, schließlich hat er im belgischen Leuven Soziologie bei François Houtart studiert, dem Lehrmeister zahlreicher Befreiungstheologinnen und -theologen. Auch die gesamte indigene Bewegung im Süden Mexikos konnte sich seit ihren Anfängen 1994 auf den Beistand des Bischofs von Chiapas, Samuel Ruiz, und die Priester der Diözese verlassen. Und auch heute noch befindet sich die Bewegung in einem ständigen Dialog mit den aufgeschlossenen Vertretern und Institutionen der katholischen Kirche in Mexiko und Repräsentanten der indigenen Befreiungstheologie. Darüber hinaus werden in Brasilien soziale Bewegungen wie das Movimento de Trabalhadores Sem Terra (die Bewegung der Landlosen), das Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (die Bewegung der obdachlosen Arbeiter) oder das Movimento de Moradores da Rua (die Bewegung der auf der Straße Lebenden) von verschiedenen Geistlichen und Befreiungstheologen unterstützt, die zum Teil auch aktiv an diesen Bewegungen teilnehmen. Derzeit stehen viele der Linksregierungen in Zentral- und Südamerika den sozialen Bewegungen recht nahe. Und manche sind überzeugt davon, dass viele der sozialen und politischen Veränderungen hier nicht möglich gewesen wären, wenn sich Pfarrer der katholischen Kirche und evangelische Basisgemeinden seit Ende der 1960er Jahre nicht so stark für die Belange der sozial Schwachen in der Gesellschaft eingesetzt hätten. Bestimmte politische Prozesse und Entwicklungen, die wir gegenwärtig in der Region beobachten können, wären also undenkbar ohne das Wirken christlicher Gruppen und insbesondere den Einfluss der Befreiungstheologie auf die vielen Basisgruppen und sozialen Bewegungen. Es ist daher wichtig, sich zumindest kurz mit der Geschichte der der Befreiungstheologie zu beschäftigen, weil wir nur so die Konturen ihrer gegenwärtigen Strömungen und die damit verbundenen Herausforderungen verstehen können.

Ursprung und Anfänge der Befreiungstheologie

Historisch betrachtet haben sich die obersten Würdenträger der christlichen Kirchen immer auf die Seite des Kolonialismus und gegen die soziale Revolution gestellt. Dennoch war an der Basis immer spürbar, dass es eine tiefe Beziehung zwischen dem christlichen Glauben und den weltlichen Veränderungsprozessen gibt. Seit den 1960er Jahren sind in einer Reihe von Ländern des Kontinents die Armen und Unterdrückten zu Trägerinnen und Trägern revolutionärer Prozesse geworden. Sie taten dies zum Großteil als Christen und forderten die Kirche dazu auf, sie dabei zu unterstützen. José Comblin (1981, 12), ein belgischer Theologe, der später in Brasilien tätig war, spricht davon, dass linke Christen »die Kirche besetzt« hätten. Um diese Bewegungen zu reflektieren und theologisch zu begründen, entstand in einem langen Prozess die Befreiungstheologie. Sie hat unterschiedliche Wurzeln: In sie fließen Erfahrungen von Gruppen ein, die ihren Glauben als Teil ihres revolutionären Wegs lebten. In Chile und Argentinien gab es Bewegungen wie die ›Christen für den Sozialismus‹ oder die ›Pfarrer für den Sozialismus‹, die sich als ›Kommunisten in der Kirche und Christen in der Partei‹ organisierten. Nach dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) und nach der dritten und vierten Generalversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen begannen in Lateinamerika offizielle Vertreter sowohl der katholischen als auch der evangelischen Kirchen, in einen Dialog mit den Laiengruppen einzutreten. In Lateinamerika erklärte die zweite lateinamerikanischen Bischofskonferenz, die 1968 in Kolumbien stattfand: »Wir wollen der lateinamerikanischen Kirche das Gesicht einer armen, missionarischen und österlichen Kirche geben, die sich auf allen Ebenen für die Befreiung der gesamten Menschheit und jedes einzelnen Menschen einsetzt.« Mehrere lateinamerikanischen Bischöfe und einige evangelische Pfarrer entwickelten eine positive Haltung gegenüber sozialen Bewegungen und Veränderungsprozessen, an denen viele Christen beteiligt waren (Rocha 1999). Immer mehr Arme studierten die Bibel und eigneten sich diesbezüglich Kenntnisse an (vgl. z.B. Mesters 1978). 1971 veröffentlicht Gustavo Gutiérrez sein Werk Theologie der Befreiung. Seither wurde diese Theologie durch die Basisgemeinden und über die Beteiligung von Christen an den Transformationsprozessen in dieser Welt ständig weiterentwickelt.

Etappen der Befreiungstheologie

Analog zu den Veränderungen der sozialen und politischen Realitäten des lateinamerikanischen Kontinents hat auch die Befreiungstheologie, die Teil dieser Realitäten ist, unterschiedliche Etappen durchlaufen, die Einfluss auf ihre Form und ihre Inhalte hatten. In der ersten Phase stand der Widerstand gegen die Militärdiktaturen, die in vielen Ländern des Kontinents herrschten, im Vordergrund. In den 1970er Jahren führten die politische Zensur in den verschiedenen Ländern sowie die Erfahrungen eines gemeinsamen Kampfes zu einer Annäherung zwischen Christen und Marxisten. Eine Reihe von Befreiungstheologen bemühte sich darum, den Dialog mit linken Gruppen zu vertiefen. Man zwar kann nicht behaupten, dass die Befreiungstheologie sich dem Marxismus anschloss, aber die Befreiungstheologen waren der Meinung, dass die marxistische Analyse der sozialen Wirklichkeit zusammen mit dem Glauben und einem Dialog über den Sozialismus einen guten Ansatzpunkt bot, um eine unabhängige Theologie zu entwickeln (vgl. Assmann 1979; Miranda 1973; Dussel 1985; Bretto 1985). Nach dem Fall der Militärregime in Brasilien, Argentinien, Chile und anderen Ländern, in einer Phase, in der die Demokratie eher formal war und keine wirkliche Teilhabechancen bot, blieben die Probleme der sozialen Ungleichheit und Armut. Sie nahmen eher zu. Gleichzeitig kam es unter der Führung von Papst Johannes Paul II zu einer Abschottung der Institution der katholischen Kirche gegenüber der Gesellschaft. Das zwang die Befreiungstheologie, sich mehr mit den internen Angelegenheiten und Machtverhältnissen in der Kirche zu beschäftigen. Ab 1991 brachen die realsozialistischen Systeme in Osteuropa zusammen. In Lateinamerika verloren die Sandinisten die Wahlen. Sofern sozialistische Ideen mit diesen Systemen assoziiert worden waren, büßten sie an Glaubwürdigkeit ein. Die Befreiungstheologie musste sich wieder neu in den lokalen Gemeinden und an der Basis verankern und sich grundsätzlichen Fragen der Gerechtigkeit und des Zusammenlebens zwischen verschiedenen kulturellen und ethnischen Gruppierungen sowie der Geschlechterfrage zuwenden. Von da aus entwickelten sich mehrere kontextuelle Theologien – schwarze, indigene und feministische Ansätze sowie die Öko-Theologie und die ökologische Theologie. Für die imperialistische Welt und deren Medien begann 2001 mit den Anschlägen auf die Türme des World Trade Centers in New York und mit dem Kampf der USA gegen den internationalen Terrorismus eine neue Ära der Weltgeschichte. Aber für die Völker Lateinamerikas bedeutete der zapatistische Aufstand der indigenen Völker im Süden Mexikos einen viel größeren Einschnitt, da seitdem eine Reihe von Organisationen und Bewegungen, die die Interessen der indigenen Bevölkerung vertreten, auf dem Kontinent immer stärker wurde. Nach und nach entwickelte sich daraus ein neuer sozialer und politischer Prozess, der heute in verschiedenen Ländern zu beobachten ist. In all dieser Zeit hat sich die Befreiungstheologie darum bemüht, ihren neuen theologischen Ansatz zu vertiefen und in einen Dialog zu treten mit den verschiedenen sozialen und ökologischen Bewegungen sowie mit der neuen Kosmologie und den aktuellen Theorien zum Ursprung des Universums. Die Ökumenische Vereinigung der Theologen und Theologinnen der Dritten Welt (ASETT) koordinierte die Veröffentlichung von fünf Sammelbänden über die Begegnung zwischen der Befreiungstheologie und Theologien des religiösen Pluralismus. Seit 2002 wird, anknüpfend an Treffen des Weltsozialforums, das Weltforum zu Theologie und Befreiung abgehalten. Vier Treffen gab es bislang, unter Beteiligung von Theologinnen und Theologen aus mehreren Kontinenten.

Aktuelle Herausforderungen

1. Die Befreiungstheologie ist in einem spezifischen kulturellen und religiösen Umfeld entstanden. Heutzutage nimmt die Säkularisierung der Gesellschaft zu. Die modernen religiösen Bewegungen sind hauptsächlich spirituelle Bewegungen, die nicht für eine Veränderung der Welt eintreten. Da Papst Johannes Paul II. und sein Nachfolger Benedikt XVI. ein neochristliches Projekt verfolgten, fühlten sich viele Arme allein gelassen und flüchteten deswegen in moderne Pfingstkirchen, die ihnen Gesundheit und Wohlstand versprachen. 2. Religion an sich kam in die Krise. Viele religiöse Führer denken, dass nur eine umfassendere Institutionalisierung und ein größerer Dogmatismus sie aus der Krise führen können. 3. Überall auf der Welt mangelt es linken Gruppen an einer klaren Orientierung, sie wirken zunehmend verloren. In vielen sozialen Bewegungen herrscht Müdigkeit, und die Befreiungstheologie hat Schwierigkeiten, sich eindeutig zu verorten. In mehreren Ländern Lateinamerikas kam es zu einem neuen sozialen und politischen Aufbruch: In Bolivien nennt er sich ›indigener Aufstand‹, in Ecuador ›Revolution der Bürger‹, in Venezuela ›Prozess der bolivarischen Revolution‹. Auch wenn viele anerkennen, dass diese Entwicklungen ohne die Beteiligung von christlichen Basisgruppen nicht in dieser Form hätten stattfinden können, bin ich der Ansicht, dass die Befreiungstheologie sich nicht kritisch genug in diesen Prozess eingebracht hat. 4. In verschiedenen Ländern Südamerikas wie Bolivien, Ecuador und Venezuela ist es gelungen, neue progressive Verfassungen zu verabschieden, in denen ethnischer Pluralismus hochgehalten wird, indigenen Völkern kulturelle Rechte, der Umwelt ein Recht auf Schutz und allen Bürgerinnen und Bürgern weitreichende soziale und politische Rechte zugestanden werden. Da unsere Regierungen und die sozialen Bewegungen, die sich für diese Verfassungen engagiert haben, recht liberale Haltungen in Bezug auf Sexualität und Familie haben (die Scheidung wurde legalisiert, Abtreibungen aus medizinischen und therapeutischen Gründen akzeptiert und gleichgeschlechtliche Partnerschaften anerkannt), haben sich die Oberen der katholischen Kirche immer gegen diese Bewegungen positioniert. Trotzdem nehmen christliche Basisgruppen und Gemeinden, von der Befreiungstheologie ermuntert, aktiv an diesen Bewegungen teil. Gegenwärtig bereiten soziale Bewegungen in Brasilien eine umfassende nationale Kampagne für eine Volksabstimmung vor. Es geht um die Einsetzung einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung, um dringend notwendige politische Reformen im Land auf den Weg zu bringen. Verschiedene Strömungen und Akteure der Befreiungstheologie sind intensiv in diesen sozialen und politischen Prozess eingebunden. Auf dem letzten Treffen einer Gruppe von Befreiungstheologinnen und -theologen in Brasilien wurde die Perspektive eines neuen Sozialismus für Lateinamerika und die Welt diskutiert. Obwohl die Vorschläge der sozialen Bewegungen und der politischen Vordenkerinnen und -denker sehr unterschiedlich sind, bleiben diese im Gespräch. Sehr wichtig für Lateinamerika ist ein neues soziales Paradigma wie Buen Viver (gutes Leben). Dieses Konzept stammt von den indigenen Andenvölkern, Ähnliches gibt es bei vielen anderen autochthonen Völkern. Das kollektive und das individuelle Glück aller Bürgerinnen und Bürger zu garantieren und zu fördern, gilt als die vordringlichste staatliche Aufgabe. Wichtig hierbei sind neue respektvolle Beziehungen zwischen den Menschen, der Ausbau des Dialogs und die Anerkennung von Unterschieden. Zudem geht es um eine neue Beziehung zwischen der Gemeinschaft, ihrer Umwelt und der Natur. In Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas sammeln sich in der Gruppe Fé e Política (Glauben und Politik) Christinnen und Christen aus unterschiedlichen Kirchen, die in der Politik aktiv sind (darunter Stadträte und Abgeordnete). Hier finden sich Mitglieder von verschiedenen linken Parteien, die sich aufgrund ihres christlichen Glaubens politisch betätigen. Diese Bewegung ist inzwischen in verschiedenen Regionen und auch auf der nationalen Ebene organisiert. Schon seit drei Jahren haben die nationalen Treffen Buen Viver zum neuen sozialen und politischen Projekt für unsere Länder erklärt und zu einem zentralen Thema der öffentlichen Auseinandersetzung gemacht. In diesen Debatten spielen verschiedene Strömungen der Befreiungstheologie eine Rolle, vor allem diejenigen, die sich der Entwicklung von indigenen Theologien verschrieben haben, sowie diejenigen, die insbesondere die Kämpfer der Landarbeiterinnen und -arbeiter unterstützen.

Fazit

Seit der Wahl von Franziskus zum Papst gibt es ein neues und positives Vorbild sowohl für das Christentum als auch für die Befreiungstheologie. Dies ist in den evangelischen Gemeinden und in der katholischen Kirche zu spüren, es beeinflusste auch die letzte Versammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (Busan 2013). Theologen wie Leonardo Boff haben einen wichtigen Beitrag zur Formulierung der sogenannten Charta für die Erde, die von der UNESCO 2001 angenommen wurde und der UNO als ökologische Richtlinie dient, geleistet. Wir hoffen, dass diese eines Tages von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen angenommen und umgesetzt wird. In Brasilien hat die nationale (katholische) Bischofskonferenz bereits fünf ›soziale Wochen‹ organisiert, mit Themen und Fragestellungen wie: Welche Rolle soll der Staat bei der Organisation des Landes haben? Welche Art von Staat wollen wir? Und wie sieht der Weg zu einer neuen Gesellschaft aus? Vertreterinnen und Vertreter der Befreiungstheologie nehmen an diesem Prozess aktiv teil. Die Herausforderungen und Hindernisse, die es dabei zu überwinden gilt, sind vielfältiger Natur. Zwischen den aufgeschlossenen Teilen der Kirche und der Regierung Kubas wird der Dialog über Einrichtungen wie das Ökumenische Zentrum Martin Luther King und die Solidaritätsgruppe Oscar Romero in Havanna fortgesetzt. In diesen Tagen werde ich nach Caracas reisen und dort mit Vertreterinnen und Vertretern der evangelischen Kirchen und hohen Regierungsbeamten Venezuelas zusammentreffen. Als Befreiungstheologen wollen wir uns mit der bolivarischen Regierung Venezuelas solidarisieren und sie unterstützen, insbesondere in Zeiten, in denen die Medien mit Hilfe der US-amerikanischen Regierung der USA Putschgedanken schüren und versuchen, das Land zu destabilisieren. Die Schwierigkeiten sind vielfältig, aber wir sollten Pedro Casaldáliga folgen, der rät: »Man muss warten können und sich zugleich darüber im Klaren sein, dass die Lage dringlich ist und man nicht nur einfach abwarten kann.« Aus dem Portugiesischen von Florian Klose

Literatur

Assmann, Hugo, 1979: Marx, K. & Engles, F. Sobre la Religión, Salamanca Bretto, Frei, 1985: Fidel e a Religião, São Paulo Casaldáliga, Pedro , 1978: Antologia Retirante, Gedichte, Rio de Janeiro Cirardi, Giulio 2001, El Movimiento Subversivo de Jesus en la Sociedad Capitalista, Madrid Comblin, José, 1981, A Força da Palavra, Petrópolis Dussel, Enrique, 1985: A Philosophy of Liberation, New York Mesters, Carlos, 1978, Por trás das Palavras, Petrópolis Miranda, J 1973: Marx y la Biblia, Mexico City