Themen wie (sexuelle) Selbstbestimmung, Emanzipation und (sexuelle) Aufklärung galten weithin als ausgehandelt, als Teil eines liberalen Konsenses. Die 68er-Bewegung schien hier ihre Schuldigkeit getan zu haben. Aus Kinder, Küche, Kirche wurde Kinder, Küche, Karriere, und die Kirchen mussten ihre Deutungshoheit in Fragen des (familiären) Zusammenlebens und des Umgangs mit Sexualität zunehmend aufgeben. Diese Entwicklung gefällt nicht allen. Auseinandersetzungen über die genannten Themen stehen – für einige überraschend – heute wieder auf der Tagesordnung.

Im November 2013 brachte ein badenwürttembergischer Realschullehrer1 eine Petition auf den Weg, die für Furore sorgte: »Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens«. Es ging darum, den Entwurf eines Bildungsplans der Landesregierung zu verhindern, der Toleranz gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen fördern und SchülerInnen hierzu miteinander ins Gespräch bringen sollte. Rund 200000 Menschen unterzeichneten die Petition. Selbst die GEW, die sich zunächst für die Umsetzung des Bildungsplans ausgesprochen und ein eigenes Papier (GEW Baden-Württemberg 2013) dazu verfasst hatte, sprach sich im Laufe der Auseinandersetzungen für dessen Überarbeitung aus. Auch die Landesregierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann signalisierte, das Gespräch mit den reaktionären WutbürgerInnen suchen und deren Befürchtungen ernst nehmen zu wollen. Ob und wie der Bildungsplan umgesetzt werden wird, ist bis heute offen. Im Dezember desselben Jahres gab es einen ähnlichen Vorfall im Europäischen Parlament: Der »Bericht über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte« (kurz: Estrela-Bericht) wurde mit den Stimmen der Konservativen abgelehnt: Er mische sich in Abtreibungsangelegenheiten und die Gestaltung des Sexualkundeunterrichts der Mitgliedsstaaten ein. Tatsächlich ging es unter anderem um das Recht auf sicheren und legalen Zugang zu Abtreibung sowie um altersgerechte Sexualkunde in Grundund weiterführenden Schulen, bei der auch gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen thematisiert werden sollten. Beide Beispiele zeigen rechtskonservative Versuche, die liberale Formierung des gegenwärtigen Kapitalismus mit Antidiskriminierungsgesetzen und ›diversity‹ als avancierter Managementstrategie infrage zu stellen. Die im Neoliberalismus angelegten Enttraditionalisierungen haben Teile des konservativen Lagers irritiert zurückgelassen – eine neue Versachlichung der Klassengesellschaft als konsequente Liberalisierung im Bereich lebensweltlicher Fragen ging für sie zu schnell oder lief ihren kulturellen Wertvorstellungen zuwider. Auf diesem Terrain versuchen nun eine Reihe rechtsreligiöser Akteure, das Potenzial wertkonservativer Wutbürger abzuschöpfen und in ein religiös gefärbtes, gesellschaftspolitisches Rollback zu übersetzen. Sie bewegen dabei vor allem zwei thematische Felder: der Kampf gegen sexuelle Vielfalt, insbesondere gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften, und der Kampf gegen sexuelle Selbstbestimmung von Frauen, insbesondere bei der Frage der Abtreibung. Es gelingt ihnen immer wieder, eine rechtsreligiöse Agenda mit einem konservativen Unbehagen gegenüber den Ergebnissen neoliberaler Modernisierung zu verknüpfen. Die genannte Petition bewegt sich in diesem Diskurs und lässt sich als eine Kritik an den etablierten Institutionen (Kirchen wie Parteien) verstehen, dem Zeitgeist zu sehr nachzugeben. Die Reaktionen auf den Estrela-Bericht zeigen außerdem, dass dieses Spektrum auch in die offizielle Parteipolitik hineinwirkt. Die ›Alternative für Deutschland‹ (AfD) bringt sich auch hier als Alternative zur Union in Stellung: Frontfrau Beatrix von Storch hat gute Kontakte zur rechtsreligiösen Szene und schreibt Beiträge für antifeministische Blogs.

Wandel des religiösen Felds

Diese Entwicklung lässt sich nur im Kontext einer Neusortierung des religiösen Felds und vor dem Hintergrund einer veränderten Situation der Kirchen verstehen. Bis weit in die 1980er Jahre hinein war Westdeutschland weltanschaulich von den beiden Staatskirchen dominiert. Die in der Adenauer-Ära gefestigte juristische wie finanzielle Sonderstellung der Kirchen ist zwar weiterhin gültig, mit der weltanschaulichen Wirklichkeit hat sie jedoch nicht mehr viel zu tun. Der Anteil konfessionsloser Menschen in Deutschland nimmt stetig zu und liegt zahlenmäßig mittlerweile weit über dem der Angehörigen der beiden christlichen Kirchen. Die weltanschauliche Ausdifferenzierung ließ außerdem einen Religionsmarkt entstehen, auf dem nun zahlreiche Anbieter um die ›Seelen‹ der Menschen konkurrieren. Der Verlust des Vertrauens in die Kirchen wurde nicht zuletzt durch die Skandale um Finanzen und sexuellen Missbrauch verstärkt. In diesem Setting bemühen sich konservative Strömungen des Christentums, allen voran die evangelikale Bewegung, ihren Einfluss auszubauen und ihre Positionen innerhalb wie außerhalb der evangelischen Landeskirchen durchzusetzen. 1,3 Millionen evangelikal Gläubige sind in Deutschland in den evangelischen Landeskirchen, in Freikirchen, aber auch in Hauskirchen organisiert. Obwohl es sich um eine heterogene Strömung handelt, eint sie die Überzeugung, dass die Bibel als einzige Richtschnur für ihr Leben zu akzeptieren sei. Immer öfter nutzen sie die Medien, um Druck auf die Verantwortlichen der evangelischen Kirche auszuüben. Ihre Kritik ist einfach und klar: Die Kirche passe sich dem Zeitgeist an und vergesse ihre Wurzeln.

Öffnung nach rechts

Noch in den 2000er Jahren war die evangelische Kirche bemüht, derart konservativen Stimmen wenig Bedeutung beizumessen. Mit dem Amtsantritt Wolfgang Hubers als Ratsvorsitzendem der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) endete diese Politik 2003. Es wurde eine Öffnung hin zu den Evangelikalen vorangetrieben. Dass die Führung der EKD das Augenmerk auf die bibeltreuen ChristInnen richtet, ist nicht zuletzt von der Hoffnung getragen, so dem Mitgliederschwund und Bedeutungsverlust Einhalt gebieten zu können. Galten die Vorstellungen dieser Strömung lange Zeit als nicht kompatibel mit denen der EKD, sah der Ratsvorsitzende Huber in der gegenseitigen Annäherung »eine der verheißungsvollsten Entwicklungen, die es in unserer Kirche in den letzten zehn bis zwanzig Jahren gegeben hat« (zit. n. Janzen 2009). Mit der Öffnung ermöglicht man es den Evangelikalen, Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der eigenen Theologie zu nehmen. Diese nutzen die Aufwertung zur öffentlichen Intervention. Mit Blick auf den bereits angesprochenen Bildungsplan befand der Generalsekretär der Evangelischen Allianz Deutschland – der ideologische Überbau der evangelikalen ChristInnen in Deutschland –, die Akzeptanz anderer sexueller Beziehungen als der zwischen Mann und Frau entspreche »weder dem Grundgesetz noch der Landesverfassung noch dem Schulgesetz und schon gar nicht christlichen Vorstellungen, die dahinterstehen« (Steeb 2014). Wie weit der Einfluss geht, zeigt sich auch daran, dass das Papier zur Sexualethik »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit« zurückgenommen werden musste. Es wich vom traditionellen Familienmodell der Kirchen ab und schloss gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sowie sogenannte Patchwork-Familien ein. In der katholischen Kirche ist die Ausganglage anders. Sie ist im Gegensatz zur evangelischen Kirche für ihre wertkonservative Haltung bekannt. Man ist deshalb wenig überrascht, wenn Bischöfe öffentlich von Homosexualität als Sünde sprechen.2 Liberale Positionen haben es hier bis heute schwer, sich durchzusetzen. Unlängst nahm die deutsche Caritas ein aus Sicht der ›Gender-KritikerInnen‹ unliebsames Buch von ihrer Internetseite (vgl. kath-net 2014). Schwulsein ist heilbar In einem Fernsehinterview auf dem 4. Christlichen Gesundheitskongress in Bielefeld erklärte Gero Winkelmann, der Vorsitzende des Bundes Katholischer Ärzte, Homosexualität sei therapierbar, und schlug dem Journalisten vor laufender Kamera eine Entgiftungskur vor. Der Bielefelder Kongress wurde von Caritas und Diakonie unterstützt, deren Präsidenten, Peter Neher und Johannes Stockmeier, wünschten in einem Grußwort »allen Teilnehmenden und den Mitwirkenden gutes Gelingen«. Unter den UnterstützerInnen und MedienpartnerInnen tauchten weitere Personen und Organisationen auf, die in den beiden Kirchen verankert sind. Neben dem Gesundheitskongress gibt es eine Vielzahl an Veranstaltungen, auf denen pseudowissenschaftliche Therapien und Theorien verbreitet werden. Das Christival 2008 etwa, eine durch das damalige Familienministerium unter der Leitung von Ursula von der Leyen gesponserte Veranstaltung, geriet durch die angebotenen ›Heilungsseminare‹ in die öffentliche Kritik. Im Mai 2009 fand an der Philipps-Universität in Marburg der 6. Internationale Kongress für Psychiatrie und Seelsorge mit dem Titel »Identität – der rote Faden in meinem Leben« statt. Dagegen hatte es bereits im Vorfeld Proteste gegeben, da in den Workshops von Markus Hoffmann von Wüstenstrom e.V. und Christl Ruth Vonholdt vom Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft Möglichkeiten einer Konversion (Umkehrung) von Homosexuellen zur Debatte standen. Während der Lesben- und Schwulenverband Deutschland, der AStA der Universität Marburg, Bündnis 90/Die Grünen, linke Gruppen, Gewerkschaften und zahlreiche WissenschaftlerInnen gegen diese Tagung protestierten, nahm das Präsidium der Philipps-Universität die Verantwortlichen in Schutz: »Wissenschaft und Demokratie leben davon, dass man sich mit den Meinungen anderer und vermeintlichen Irrlehren argumentativ auseinandersetzt [...] [E]in faktisches kollektives Redeverbot für alle Referentinnen und Referenten des Kongresses wird vom Präsidium strikt abgelehnt.« (Universität Marburg 2009) Als Reaktion auf die Proteste unterzeichneten fast 400 WissenschaftlerInnen, PublizistInnen und Personen des öffentlichen Lebens aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die »Marburger Erklärung für Freiheit und Selbstbestimmung – gegen totalitäre Bestrebungen der Lesben- und Schwulenverbände«. Diese erweckt den Eindruck, man habe Verständnis für Homosexuelle, achte deren Würde und kämpfe lediglich gegen Verleumdungen. Tatsächlich steht sie jedoch für eine Verschiebung im gesellschaftlichen Dialog. Unter dem Deckmantel der Freiheit der Wissenschaft werden dort überholte Geschlechterrollen propagiert und Ängste geschürt. Das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft gilt als (pseudo-)wissenschaftliche Speerspitze der ›Homoheiler‹. 1969 wurde es als Institut für Jugend und Gesellschaft, Bensheim gegründet und gehört zur evangelikalen Gemeinschaft der Offensive Junger Christen e.V., die wiederum der EKD angehört. Über die Jahre veränderten sich Profil und Schwerpunktsetzung. Seit den 1980er Jahren werden verstärkt Arbeiten zu Identität, Sexualität und Homosexualität sowie Ehe und Familie veröffentlicht. Leitbild des Instituts ist eine heterosexuelle Partnerschaft. Homosexuelle Partnerschaften und feministische Lebensentwürfe werden strikt abgelehnt und als widernatürlich beziehungsweise behandelbar verstanden. Das Institut kann als einer der ideologischen Bündelungspunkte homophober Bestrebungen verstanden werden: Ressentiments werden pseudowissenschaftlich untersetzt.

Selbstbestimmung ist Menschenrecht

Auch wenn diese Strömung vom Umfang her überschaubar ist, so hat sie doch einen beachtlichen medialen Einfluss. Eine besondere Rolle kommt Prominenten wie Birgit Kelle (Kolumnistin und Autorin des Buches Dann mach doch die Bluse zu: Ein Aufschrei gegen den Gleichheitswahn), Jürgen Liminski (Redakteur des Deutschlandfunks, Mitglied des Opus dei und Unterstützer des christlich-konservativen Interessenverbandes Familiennetzwerk) sowie Matthias Matussek (vormals WELT-Redakteur und Unterstützer der katholische Laienbewegung Deutschland pro Papa) zu. Sie sind häufige Gäste in Talkshows, in denen sie aussprechen, was sich vermeintlich kaum einer zu sagen traut: Der deutschen christlichen weißen Familie fehle der Rückhalt in der Politik. In den Kirchen hingegen könnten Homosexuelle und Abtreibungsbefürworter sich widernatürlich verhalten und vorbehaltlos äußern. Es wird der Eindruck vermittelt, hinter der ›Gender-Debatte‹ oder der Durchsetzung von Frauenrechten stünden einflussreiche Kräfte, die etwas gegen freie Meinungsäußerung hätten. Die Schnittstellen zu aktuellen rechtspopulistischen Argumentationsgängen etwa in Bezug auf die EU oder die ›Entkernung‹ konservativer Parteien liegen auf der Hand, auch deshalb verfängt dieser Diskurs.

Gegenbewegungen

In dieser Situation formieren sich aber auch entgegengesetzte Kräfte, die sich um Aufklärung über Struktur und Inhalte dieser Szene bemühen und für ein Selbstbestimmungsrecht kämpfen. Auch sie sind in letzter Zeit stärker geworden. Stellvertretend stehen die Gegenmaßnahmen zum sogenannten Marsch für das Leben (1000-Kreuze-Marsch) in Berlin. Die seit 2008 jährlich stattfindende Demonstration von AbtreibungsgegnerInnen gilt als Hauptveranstaltung der europäischen Pro-Life-AktivistInnen. Begleitet von zahlreichen Grußbotschaften aus Politik und Kirchen setzte sie in den letzten zwei Jahren mit jeweils über 4000 Teilnehmenden ein beachtliches Signal. Unter der Federführung des Familienplanungszentrums Balance und mit der Unterstützung zahlreicher Gruppen und Einzelpersonen aus dem linken und linksliberalen Spektrum wurden Gegenveranstaltungen organisiert und eine gemeinsame Publikation herausgegeben, in der die Strategien der christlich-fundamentalistischen AbtreibungsgegnerInnen diskutiert werden (Familienplanungszentrum – BALANCE 2012). Da nicht nur in Berlin, sondern in zahlreichen Städten Europas solche Märsche stattfinden, muss es zukünftig darum gehen, Kräfte zu bündeln und über mögliche Strategien zu beraten, was man dieser Entwicklung im europäischen Kontext entgegensetzen kann. Linken christliche Gruppen sollten dafür ebenso gewonnen werden wie Verbände und Personen aus dem säkularen Spektrum. Durch Veranstaltungen, Workshops und durch gute Medienarbeit bestünde darüber hinaus Gelegenheit, Menschen für diese Problematiken zu sensibilisieren und Gegenentwürfe zu thematisieren. Ein verbindendes Moment dieses durchaus heterogenen Spektrums ist die Überzeugung, dass (sexuelle) Selbstbestimmung ein Menschenrecht ist.