Juan Guaidó hat die politischen Krise in Venezuela gezielt eskaliert. Auf einer oppositionellen Großdemonstration am 23. Januar in Caracas vereidigte sich der bis Anfang des Jahres noch weitgehend unbekannte Parlamentsvorsitzende als Interimspräsident selbst. Er schwor, „formell die Kompetenzen der Nationalen Exekutive zu übernehmen“ und kündigte an, Neuwahlen auszurufen, sobald der Nationale Wahlrat (CNE) neu besetzt sei. Kurz darauf erkannte US-Präsident Donald Trump Guaidó an[1]. Es folgten die rechten Regierungen der Nachbarstaaten Brasilien und Kolumbien, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der so genannten Lima-Gruppe mit Ausnahme Mexikos[2]. Am 26. Januar setzten die deutsche Bundesregierung sowie weitere europäische Regierungen dem amtierenden venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro eine Frist von acht Tagen, um die Bereitschaft für Neuwahlen zu erklären. Andernfalls wollen sie und möglicherweise die gesamte EU Guaidó ebenfalls als Interimspräsidenten anerkennen. Die Regierungen Kubas, Nicaraguas, El Salvadors, Mexikos, der Türkei, Irans, Russlands und Chinas betrachten hingegen weiterhin Maduro als rechtmäßigen Präsidenten.[3] Die Einsetzung eines Parallelpräsidenten und die neue Qualität internationaler Einmischung sind der vorläufige Höhepunkt eines seit Jahren andauernden Machtkampfes zwischen linker Regierung und rechter Opposition.
Die Vorgeschichte
Ende 2015 gewannen die rechten Oppositionsparteien die Parlamentswahl deutlich. Die Regierung hatte seit dem Tod des langjährigen Präsidenten Hugo Chávez 2013 und der schweren Wirtschaftskrise[4], die seit dem Fall der Erdölpreise ab 2014 immer dramatischere Formen annimmt, viel Rückhalt verloren. Die Opposition nutzte ihre Mehrheit von Beginn an, um offen auf einen Regierungswechsel hin zu arbeiten. Gleichzeitig agierte die Regierung immer autoritärer, um ihre Macht zu erhalten und warf zentrale Pfeiler chavistischer Politik, wie etwa breite Partizipationsrechte, über Bord. Eine Phase scharfer institutioneller Auseinandersetzungen und mehrmonatiger, teils gewalttätiger Straßenproteste, kulminierte im Juli 2017 in der umstrittenen und von der Opposition boykottierten Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung (ANC).[5] Seitdem übt die vollständig von der Regierung dominierte ANC weitgehend die Funktionen des Parlaments aus und steht über allen anderen staatlichen Gewalten. In der Folge zerfiel die rechte Opposition und trat bei den verspätet angesetzten Regional- und Bürgermeisterwahlen nicht mehr geschlossen an. Nachdem im Januar 2018 Verhandlungen zwischen den beiden großen politischen Lagern gescheitert waren, zog die ANC den Termin für Präsidentschaftswahlen von Dezember auf Mai vor. Unter anderem weil potenzielle Kandidat*innen nicht antreten durften, lehnte ein Großteil der Oppositionsparteien und mehrere Staaten die Wahl von vornherein ab. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 46 Prozent blieben die drei Gegenkandidaten chancenlos, Maduro holte etwa 68 Prozent der abgegeben Stimmen.
Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit am 10. Januar versammelte sich die zuvor notorisch zerstrittene Opposition nun hinter Guaidó, der früh internationale Rückendeckung seitens der USA und der meisten Staaten der Lima-Gruppe erhielt. Laut Informationen der Nachrichten- und Presseganturagentur The Associated Press hatte Guaidó sein Vorgehen bereits im vergangenen Jahr mit Vertretern der USA, Brasiliens und Kolumbiens abgesprochen. Der 35-jährige frühere Studierendenaktivist sitzt seit 2011 für die rechte Partei Voluntad Popular in der Nationalversammlung, die ihn am 5. Januar aus Mangel an Alternativen zu ihrem Präsidenten wählte.[6] Bereits auf einer öffentlichen Versammlung in Caracas am 11. Januar deutete er an, als Interimspräsident bereit zu stehen, sofern er die Unterstützung der Bevölkerung, des Militärs und der internationale Gemeinschaft hätte. Eine kurzzeitige Festnahme Guaidós durch die Geheimdienstpolizei Sebin am 13. Januar verschaffte ihm zusätzlichen Rückenwind. Bei seiner Selbstvereidigung bezog er sich vor allem auf Artikel 233 der Verfassung. Dieser behandelt die dauerhafte Abwesenheit des Staatspräsidenten in Fällen wie Tod, Krankheit oder Abberufung durch ein Referendum. Auf den vorliegenden Konflikt ist der Artikel somit kaum anwendbar. Es handelt sich zweifellos um einen von der US-Regierung unterstützten Putschversuch, der aber von großen Teilen der rechten Opposition in Venezuela und einigen internationalen Akteuren als legitime Machtübernahme betrachtet wird. Sowohl Regierung als auch Opposition versuchen ihre Position jeweils juristisch zu untermauern. Doch längst geht es jenseits der Auslegung von Paragraphen darum, wer sich machtpolitisch durchsetzt.
Wer hat die Macht?
Es ist eine Pattsituation entstanden, in der sich derzeit keine der beiden Seiten ohne Gewaltanwendung durchsetzen kann. Maduro kontrolliert weiterhin den Staatsapparat in Venezuela. Guaidó kann sich bisher allerdings frei bewegen und könnte bald Zugriff auf venezolanische Vermögensgüter im Ausland bekommen, wie etwa das Tankstellennetz Citgo in den USA. Für eine Machtübernahme bräuchte er aber die Unterstützung des venezolanischen Militärs. Bereits seit Wochen ruft er dieses dazu auf, „die verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen und sichert allen daran beteiligten Personen eine Amnestie zu, die laut Guaidó auch für Maduro im Falle eines Rücktritts gelten könne. Verteidigungsminister Vladimir Padrino López stellte sich seit dem 23. Januar mehrmals demonstrativ hinter die Regierung Maduro. Einzig der bisherige venezolanische Militärattaché in den USA, José Luis Silva, erkannte Guidó am 26.Januar als Interimspräsidenten an. Zudem war es am 21. Januar zu einer kurzzeitigen Erhebung einiger Nationalgardisten in Caracas gekommen. Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass sich die Militärführung auf Guaidós Seite schlägt. Denn sie profitiert von einer engen politischen und wirtschaftlichen Verflechtung mit der Regierung. Doch ist unklar, wie es in den unteren Rängen aussieht und welche Auswirkungen weitere Massenproteste oder eine Eskalation der Gewalt haben könnten. Nichtregierungsorganisationen zählten bei Protesten seit dem 21. Januar bereits mehr als 30 Tote und über 800 festgenommene Personen.
Im Gegensatz zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Jahr 2017 ist die Lage in den wohlhabenderen Vierteln bisher allerdings vergleichsweise ruhig. Die Menschenrechtsorganisation Surgentes wies darauf hin, dass die Toten überwiegend in ärmeren Wohngegenden zu beklagen seien, in denen es teilweise zu Unruhen gekommen ist. Dennoch kann die Bevölkerung in den Armenvierteln, die sich kulturell überwiegend dem Chavismus zugehörig fühlt, trotz großer Unzufriedenheit mit Maduro nicht viel mit Guaidó anfangen. Dessen enge Zusammenarbeit mit der US-Regierung sorgt zusätzlich dafür, dass die Anhänger*innen der Regierung die Reihen schließen. Jenseits der radikalen Ablehnung des Chavismus und einer Rückkehr der alten Eliten an die Erdöltöpfe, verfügen weder Guaidó noch der Rest der rechten Opposition über ein überzeugendes Programm. Die internen Streitereien zwischen unterschiedlichen Oppositionspolitikern schwelen zudem im Hintergrund weiter. Hinzu kommt, dass die rechte Opposition in der Vergangenheit nicht gerade durch demokratische Überzeugungen aufgefallen ist und der Bevölkerung in den Armenvierteln mittelfristig kaum etwas anzubieten hat. Die Regierung Maduro hingegen zeigt in den barrios durch Lebensmittelkisten und unregelmäßige Bonuszahlungen nach wie vor Präsenz. In der polarisierten Debatte innerhalb und außerhalb Venezuelas weniger hörbar sind Kritiker*innen der Regierung Maduro, die meist selbst aus dem Chavismus stammen. Dazu zählt etwa die Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung, in der sich mehrere ehemalige Minister*innen unter Chávez sowie kritische linke Akademiker*innen und Aktivist*innen zusammen geschlossen haben. Die Gruppe fordert zur Überwindung der aktuellen Krise einen Dialog zwischen Regierung und Nationalversammlung und die Abhaltung eines verbindlichen Referendums über die Frage, ob alle staatlichen Gewalten neu besetzt werden sollen oder nicht.[7] In die gleiche Richtung geht eine internationale Erklärung, in der zahlreiche Erstunterzeichner*innen sich für ein Ende der Eskalation aussprechen[8]. Beide Initiativen kritisieren sowohl die Regierung Maduro als auch die Selbstvereidigung Guaidós und die Einmischung von außen.
Perspektiven
Weder Guaidó noch die USA scheinen gewillt, ein Verbleiben von Maduro im Amt zu tolerieren. Dass dabei auch eine militärische Option auf dem Tisch liegt, ist kein Geheimnis. Dies hatte Donald Trump bereits September vergangenen Jahres betont und dieser Tage nochmals bekräftigt. Eine direkte Intervention wäre allerdings äußerst risikoreich, könnte die Position der USA gegenüber einigen Bündnispartnern sogar schwächen und zu lang anhaltenden internen Auseinandersetzungen in Venezuela führen. Wahrscheinlicher ist der Versuch einer wirtschaftlichen Erdrosselung der Regierung Maduro, etwa durch Sanktionen, die erstmals direkt die Öllieferungen aus Venezuela in die USA treffen, oder die Umleitung der Einnahmen aus den Erdölexporten an Guaidó. Am 28. Januar verhängten die USA Sanktionen gegen den staatlichen venezolanischen Erdölkonzern PDVSA. Einnahmen dürfen fortan nur noch auf Sperrkonten fließen. In diesem Fall könnten sich jedoch China und Russland dazu bereit erklären, finanziell auszuhelfen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit Venezuelas von diesen beiden Staaten würde dann weiter steigen, schon jetzt muss das südamerikanische Land ihnen einen Teil der zukünftigen Erdölförderung abtreten, um seine Schulden zu begleichen. Aufgrund der Pattsituation ist der einzige Weg, um Gewalt zu vermeiden, eine Verhandlungslösung.
Als mögliche Vermittler haben sich bereits die Regierungen Mexikos und Uruguays angeboten, die in dem Konflikt das Prinzip der Nichteinmischung vertreten. Während sich Maduro offen für Gespräche zeigte, erteilte Guaidó einem „falschen Dialog“ allerdings eine Absage. Er wolle lediglich diskret mit Funktionären und Militärs sprechen, die bereit für einen Wandel seien. Stattdessen rief er für den 30. Januar und den 2. Februar zu weiteren Großdemonstrationen auf. Verhandlungen, die sich allein mit den Themen Neuwahlen, Neubesetzung der staatlichen Gewalten und Amnestiefragen beschäftigen, könnten die Probleme Venezuelas über eine kurzfristige Befriedung hinaus allerdings auch nicht lösen. Nötig wäre es darüber hinaus, weitere Themen wie die Überwindung der Wirtschaftskrise, die zukünftigen Sozialpolitik oder die Anerkennung eines demokratischen Rahmens für ein friedliches Zusammenleben mit einzubeziehen. Doch dafür müssten zuallererst die USA und andere Staaten ihre einseitige Einmischung einstellen. Jenseits geopolitischer Interessen müssen die Venezolaner*innen selbst über ihre Zukunft entscheiden.
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