Noch Mitte des 20. Jahrhunderts war es möglich, von Southampton, London oder Liverpool aus auf die andere Seite des Globus zu segeln, ohne britisches Territorium zu verlassen, indem man vor Port Said in Gibraltar und Malta anlegte, von dort nach Aden, Bombay und Colombo weitersegelte und nach einer Rast auf der Malaiischen Halbinsel in Honkong ankam… Heute können die Chinesen ein ganz ähnliches Kunststück vollbringen“[1]

Weltkonflikt

Der „kollektive Westen“ steht in Gestalt seiner transatlantischen Allianz einem sich herausbildenden weltpolitischen Lager aufsteigender Mächte in Eurasien, Afrika und Lateinamerika gegenüber. Deren Triebkraft lässt sich durchaus als „emanzipatorisch“ qualifizieren. Emanzipatorisch im Sinne eines „Abnabeln“ von jahrhundertelanger Hegemonie durch die „nordatlantische Welt des weißen Mannes“[2], dessen kolonialer und neokolonialer Dominanz. Solche Mächte sind vor allem China und Russland sowie regionale-, wie Brasilien, Indien, Indonesien, Iran, Nigeria, Saudi-Arabien, Südafrika, was nicht bedeuten soll, dass diese nicht selbst von Unterdrückungsverhältnissen geprägt sind. 
Eine neue internationale Kräfte- und Konfliktkonstellation bildet sich heraus. Letzteres gilt vor allem für Regionen, welche den USA sowie dem Westen als Schlüsselregionen ihres internationalen Einflusses, als unverzichtbarer Rohstoffquell und als Absatzmarkt galten und noch immer gelten. Unter den Bedingungen der Multipolarität beginnen die Regeln des Westens jedoch ihre bisherige Monopol- und Modellfunktion einzubüßen. 
Mit seiner Strategie einer „Regelbasierten internationalen Ordnung“ kreierte der Westen eine weltpolitische Doktrin, um sein, auf die USA und deren engste Verbündete beschränktes System internationaler Normen und Institutionen auch unter multipolaren Bedingungen aufrechtzuerhalten. Dieses System umschließt, erstens, das bisherige, von den einstigen „Westmächten“ geschaffene und beherrschte Weltwirtschaftssystem Universal Economic System, UES[3] oder „regelbasiertes multilaterales Handelssystem“.[4]Auf ihm beruht das weltwirtschaftliche Regulierungs- und Kapitalmonopol des Westens. Zweitens, ein Instrumentensystem zur Internationalisierung des westlichen Werte- und Ordnungssystems - Sammelbegriffe liberale Demokratie sowie Menschenrechte, von EU- und NATO-Staaten.[5]  
Die „Regelbasierte internationale Ordnung“ lässt sich somit als ein neuer Pakt des Westens für universale Dominanz in einer sich formierenden multipolaren Welt qualifizieren. Dokumente von NATO, EU, Parlamenten, Regierungen belegen, dass diese den Anspruch auf eine „regelbasierte internationale Ordnung“ in ihre Programmatik sowie Aktionsorientierungen integriert haben. Offensichtlich ist, dass die USA jenen Block zugunsten ihres weltpolitischen Führungsanspruchs lenken. Sie machen daraus kein Geheimnis: Der US-Kongress charakterisierte den Inhalt und das Selbstverständnis der Doktrin von der „Regelbasierten internationalen Ordnung“, es gehe darum, eine „um die USA zentrierte Welt, deren Alliierte sowie Partner, um deren gemeinsame Werte und Interessen durchzusetzen, freie, offene, demokratische, inklusive, regelbasierte, stabile sowie vielfältige Regionen zu erhalten und zu fördern.“[6] Dass Amerika unter „Alliierte Partner“ die NATO in ihr Ringen eine Periode amerikanischer Bemühungen begonnen hat, den eurasischen Doppelkontinent mit Hilfe der NATO-Osterweiterung durch das Einbeziehen Eurasiens zu kontrollieren. integriert, steht für die USA außer Frage: Als Basen “großräumiger, langfristiger U.S.-Militäroperationen gegen China und Russland” gelten “US-Allianzen und -Partnerschaften, einbegriffen die NATO, welche geschaffen wurde, um die Sowjetunion (heute Russland) daran zu hindern, regionaler Hegemon über Europa zu werden.“[7]
Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, dass "Im Kern geht es  [Russland] vor allem darum, strategische Vorteile des geopolitischen Rivalen USA zu verhindern, nicht zuletzt auch solche, die das nuklearstrategische Gleichgewicht der beiden nuklearen Supermächte gefährden könnten […] Deshalb bleibt das Risiko bestehen, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine werden könnte, solange dieser Krieg andauert.", so General a.D. Harald Kujat in einem aktuellen Interview.[8]

In diesen Kontext lässt sich der Konflikt zwischen dem Westen und Russland um die Ukraine sowie mit China auch als allseitige Kraftprobe im "Zeitalter der Großmachtrivalität" („Era of Great Power Competition“; US Congressional Research Service) verstehen. Er beendet eine historisch kurze Phase relativer Entspannung nach dem Ende des ersten Ost-West- bzw. West-Ost-Konflikts 1990. Die Konfrontation zeichnet sich aus durch ihre drei Kontinente erfassende Feindeskonstellation, ihren instrumentellen Charakter der Kriegsführung und Konfliktaustragung, durch einen globalen Wirtschaftskrieg mit Folgen für weltweite Wirtschafts-, Finanz-, Handels-, Rohstoff- und Marktbedingungen sowie durch soziale Binnenkrisen.  

Kausalitäten: Der Aufstieg neuer Mächte

Je intensiver und international ausgreifender der Westen daran arbeitet, Multipolarität für sich monopolar zu „domestizieren“, desto mehr könnten sich internationale Widersprüche auch militärisch verschärfen. Und genau in der Fehleinschätzung neuer internationaler Kräfteverhältnisse liegt der konzeptionelle und realpolitische Sprengsatz jenes neuen Weltkonflikts. 
Ähnliches lässt sich für regionale und kontinentale Konfliktszenarien sowie deren Kausalitäten sagen. Das verdeutlicht eine Studie, die ich gemeinsam mit Achim Wahl, Karin Kulow und John P. Neelsen für das Welttrends-Institut für Internationale Politik verfasst habe und die denselben Titel trägt wie dieser Artikel[9]. Sie zeigt, dass gegenwärtig fundamentale Veränderungen in den internationalen Kräfteverhältnissen zu Ungunsten des atlantischen Westens vor sich gehen, die seine Doktrin einer „Regelbasierten internationalen Ordnung“ auf schwankenden Boden stellt. Die Ursache dieser Labilität ist erstens, dass der Aufstieg des Südens auf qualitativen und  quantitativen Veränderungen objektiver Natur basiert. Der Westen wird nicht in der Lage sein, diese zu kontrollieren. Der Westen ist damit konfrontiert, dass die vormals „erste Welt“ den Brecher ihrer Jahrhunderte langen globalen Hegemonie nun ausgerechnet in der einstmals „dritten Welt“ findet, die dessen Selbstplatzierung als „Erste“ nicht mehr anerkennt. Darin besteht die neue Qualität in der internationalen Dynamik der Multipolarität. Mit den BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) entstanden einflussreiche regionale Zusammenschlüsse und euroasiatische Gravitationszentren. Die Mitgliedsstaaten der SOZ[10] vertreten circa 40 Prozent der Weltbevölkerung, davon allein 12 Prozent durch die Bevölkerung Chinas. Eine neue Weltordnung ist längst Realität und China eine Weltmacht, an der auch die USA und Europa nicht vorbei kommen. Diese neue Ordnung nicht als Ausgangsbasis zu akzeptieren, bedeutet notwendig, zu scheitern.
Zweitens steht die „Regelbasierte internationale Ordnung“ mit ihrem Anspruch auf universelle Dominanz vor einem Dilemma, das in der Verfasstheit der veränderten internationalen Ordnung begründet liegt: Ist sie weiterhin wie seit 1990 US-monopolar oder multipolar wie gegenwärtig und zukünftig? Damit ist zugleich die Hegemoniefrage berührt, denn in dem Maße, wie die USA und ihre Alliierten auf der Universalität ihrer Vormachtstellung in der Welt beharren, widersetzen sie sich dem Trend der Zeit in Richtung Multipolarisierung. Das Ende der Bipolarität zwischen zwei antagonistischen Gesellschaftssystemen bestimmte vom Ende des zweiten Weltkrieges 1945 bis zum Ende des Ost-Blocks 1990 die internationale Ordnung und ihr Zusammenbruch tat den USA das historische Fenster einer alleinigen Hegemonie in der Welt auf. Doch nun sehen sich die USA und ihre Alliierten nicht nur durch den Aufbruch des post-kolonialen Südens gemeinsam mit Russland und China herausgefordert. Von fundamentaler Bedeutung ist auch, dass sie diesmal nicht auf einen sang- und klanglosen Untergang der neuen Mächte setzen können wie 1990/92 auf den Zerfall der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers. Heute ist dem Rechnung zu tragen, dass die „neuen Mächte“ die Motoren und Träger jener sich entfaltenden Multipolarität sind und bleiben. 
Verallgemeinernd lassen sich zwei Dinge konstatieren. Zum einen verengen die neuen multipolaren Kräfteverhältnisse die Spielräume des Westens, praktisch international zu agieren und verengen auch seine Aussichten, universalistischen Ambitionen zu realisieren. Er muss sich im Gegenteil zunehmend mit realen, sich offensichtlich dynamisch formierenden Gegenkräften und deren internationalen Ansprüchen auseinandersetzen. Zum anderen kollidieren die Programmatik der „Regelbasierten internationalen“ Doktrin, die Konfliktträchtigkeit anti-russischer und anti-chinesischer Strategien, die Militarisierung der internationalen Beziehungen und besonders eine Art „Kalter Krieg“ um Werte auf provokative Weise mit den Erwartungen des Südens. Die Herrschenden können nicht mehr, wie sie wollen, die Beherrschten wollen nicht, wie sie sollen. Das gilt auch für weltwirtschaftliche Aspekte. Schritte zu einer neuen Weltwirtschafts-, Handels-, Klima- und Sicherheitsordnung bleiben aus. Statt sich Reformen zu öffnen, transportiert die „Regelbasierte internationale Ordnung“ akute internationale Widersprüche in die noch „junge“ Multipolarität und belastet mögliche friedenspolitische Ansätze der Konsolidierung. 
Die Gefahren sind nicht zu negieren: Multipolarität bedarf unzweifelhaft reformierter internationaler Absichten, Regeln, Verhaltensweisen sowie „Geschäftsordnungen“ zwischen Staaten und beansprucht damit völkerrechtliche Übergangsmodalitäten. Diese können nur die jetzt geltenden sein. Sie basieren primär auf der Charta der Vereinten Nationen. Die Beziehungen zwischen den Staaten müssen dem Charakter friedlicher Koexistenz entsprechen. Es sind genau jene völkerrechtlichen Regelungen, auf welche die BRICS- und SOZ-Staaten ihre Reformierungsbemühungen gründen.  
System- und Wertepluralismus sind keine Veranlassung zu Kriegen. Das ist eine der wichtigsten, entspannungsfördernden Erkenntnisse aus der Periode friedlicher Koexistenz Europas. Nicht Systemunterschiede per se stellen eine primäre Bedrohungsursache dar, sondern die Militarisierung des Umgangs mit diesen.[11] Unsere empirischen Erkenntnisse lassen den Schluss zu, dass Werteproblematik und „Regime Change“ innerhalb zwischenstaatlicher und internationaler Widersprüche zu den explosivsten Konfliktursachen zählen. Eine Politik „wertegeleiteter“ neuer (Block)Konfrontation führt zu Kriegen und Katastrophen.

Friedenspolitische Skizzen  

EU-Europa wird in der bereits real existierenden, sich formierenden Multipolarität nicht darum herumkommen, seine internationalen und außenpolitischen Interessen zu überprüfen und neu zu definieren. Denn unter den neuen Bedingungen ergibt es keinen Sinn, alte Absichts- und Verhaltensmuster, die bereits zu Vertrauensverlust, Krisen, Konflikten und Krieg geführt haben, in die Multipolarität hinüber zu schleppen. Egon Bahrs prophetische Frage an Europa nach 1990, ob es angesichts einer neuen Welt Selbstbestimmung wollte, ist hoch aktuell: „Die Selbstbe­stimmung ist nur gegenüber der Protektoratsmacht zu erreichen. Genauer: indem die weitgehende Dominanz Amerikas über europäische Außen- und Sicherheitspolitik beendet wird.“[12]

Damit bleiben folgende unmittelbare Handlungsmöglichkeiten:

Erstens: Die friedliche Koexistenz der Staaten in einer multipolaren Welt zu gewährleisten. Sie ist mehr als die Abwesenheit von Gewaltanwendung zu verstehen und zu organisieren. Sie ist die Existenz eines politischen Raums, in dem widerstreitende gesellschafts-, werte- und politische Systeme sich zueinander ins Verhältnis setzen und interagieren, ohne das Völkerrechtsprinzip souveräner Gleichheit der Staaten in Frage zu stellen – solange deren Regierungshandeln der Charta der Vereinten Nationen und/oder deren normativen Akten entspricht. Es ist ein Raum, in dem die handelnden Völkerrechtssubjekte nicht die soziale Wesenstransformation des Anderen zur Bedingung machen für bessere Beziehungen zwischen den Staaten. Die Konfrontationen aus vormultipolaren Epochen dürfen nicht fortgeführt werden.
Zweitens: Der Frieden mit „Nichtdemokratien“ als Voraussetzung für Frieden unter multipolaren Bedingungen. Die Toleranz gegenüber Prozessen kultureller Pluralität, Selbstbestimmung und nationaler Identität würde gewaltige internationale Entspannungsräume eröffnen.[13] Provokante Kampflosungen wie „Demokratie versus Autokratie“ führen die internationalen Staatenbeziehungen in eine Sackgasse. Hinsichtlich des Stellenwerts und Platzes der Werteproblematik in den europäisch-eurasischen Staatenbeziehungen sollte ein Ansatz erarbeitet werden, der die zeitgenössischen multipolaren und soziokulturell pluralen Bedingungen realistisch bewertet. Priorität haben kooperative Staatenverhältnisse.
Drittens: Die Prinzipien friedlicher Koexistenz in Europa (Stichwort Helsinki-Konferenz) sowie in Afrika und Asien (Bandung-Konferenz)[14], sollten wieder zentrale und praktische Bedeutung gewinnen. Die Unterzeichnerstaaten sollten sich erneut dazu verpflichten, deren Prinzipien und Grundregeln einzuhalten und zu modernisieren. In Europa darf das Ziel einer europäischen Friedensordnung, das die Russische Föderation einbezieht, nicht als „obsolet“ fallen gelassen werden, bleibt Russland doch Europas größtes Land.  
Viertens: EU-Europa sollte seine kontinentalen Erfahrungen und Potenziale zur Zivilisierung von Konflikten, zur Kriegsprävention und Koexistenz umgehend revitalisieren. Seine einzigartige eurasische kontinentale Verortung gilt es zum gegenseitigen Vorteil weitsichtig zu erschließen. Letzteres ist perspektivisch von zentralem Gewicht, denn niemand anderes kann sich einer kontinentalen Nachbarschaft zu den drei Zentren der neuen multipolaren Weltkonstruktion erfreuen als China, Europa und Russland. Ein Verhältnis friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit könnte sie gemeinsam zu einem globalen wirtschaftlichen Gravitationszentrum machen.