Ihr habt bereits im März mit dem Einsetzen der Ausgangssperre in Chile einen feministischen Notfallplan entwickelt. Inwiefern richten sich die Forderungen an den Staat und inwiefern geht es dabei um Selbstorganisierung?
Chile ist weiterhin das Wahrzeichen des Neoliberalismus in Lateinamerika. Und Neoliberalismus bedeutet nicht nur eine Politik der Privatisierung, sondern auch der radikalen Individualisierung von Verantwortung. So bestehen auch die staatlichen Reaktionen auf die Pandemie vor allem darin, an die Individuen und deren „rational choice“ zu appellieren.Ein Beispiel: Auch wenn unbestritten ist, dass es derzeit in Chile zu mehr sogenannter innerfamiliärer Gewalt kommt und zu einer enormen Überlastung der Arbeitskraft von Frauen, wird den Frauen nur gesagt: „Organisiert Euch doch einfach besser untereinander“. Und den Männern: „Zeigt mehr Verständnis für die Belastung der Frauen“. So einfach machen sie es sich. Geradezu grotesk ist auch das aktuelle Beschäftigungsschutzgesetz (Ley de Protección del Empleo), das die Regierung verabschiedet hat, um Arbeitsplätze zu sichern. Die Subventionen gehen aber nicht an die Beschäftigten, sondern an die Unternehmen. Diese haben zudem das Recht zugesprochen bekommen, Leute fristlos zu entlassen oder Arbeitsverträge ohne Entschädigung oder Lohnfortzahlung zu suspendieren, bis die Pandemie vorbei ist. Das ist der neoliberale Horror in all seinen Dimensionen.
Warum sprichst Du von einer „sogenannten“ innerfamiliärer Gewalt? Und für welche Politik gegen Gewaltverhältnisse in Zeiten der Ausgangssperre setzt Ihr Euch ein?
Kurz vorweg: Unser Notfallplan behandelt mehrere Problemlagen, nicht nur die Frage der Gewalt. Wir sehen es als großen Erfolg an, dass dieser Notfallplan nicht nur unter Feministinnen verbreitet wurde, sondern dass ihn etwa auch Gewerkschaftsorganisationen und Studierende übernommen und weiterverbreitet haben.
In der 8.-März-Koordination (CF8M) sprechen wir von patriarchaler, nicht von innerfamiliärer Gewalt, um die strukturelle Verankerung dieser Gewalt deutlich zu machen. Die Ausgangssperre reaktiviert und verschärft ja die historischen Bedingungen dieser Gewalt, nämlich die Situation, mit Deinem Aggressor zusammen eingesperrt zu sein. Außerdem fassen wir als patriarchale Gewalt nicht nur die Gewalt gegen Frauen, sondern auch die Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder, die Gewalt gegen alte Menschen und auch gegen queere und Transpersonen. Für sie heißt die Ausgangssperre, in Familien eingesperrt zu sein, die ihnen eine dissidente sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität immer schon verweigert haben.
Aber wir möchten über die körperlichen und psychischen Dimensionen hinaus auch auf die ökonomische Dimension der Gewalt aufmerksam machen. Sie betrifft alle, die nun zu wenig oder gar kein Einkommen mehr haben und von einem Familienernährer abhängig sind. Und sie bringt diejenigen in eine totale Isolation, die sich Handy- oder Internetgebühren nicht leisten können und keinen Zugang mehr zu Kommunikation haben. Um gegen diese Isolation vorzugehen, machen wir im Notfallplan zum einen auf die leider sehr prekäre und kaum vorhandene öffentliche Infrastruktur der Frauenhäuser und Notfalltelefone aufmerksam. Vor allem aber fordern wir alle dazu auf, sich im Stadtviertel oder in der Nachbarschaft zu organisieren. Tatsächlich setzen wir in diesen prekären Zeiten der Pandemie auf etwas ganz Grundlegendes, das wir territoriale Organisierung nennen: die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung. So haben sich zum Beispiel in Lo Hermida, einem ärmeren Stadtviertel von Santiago die Nachbarinnen in den einzelnen Häuserblocks organisiert – und zwar mit Pfeifen. Wenn eine Person eine Situation der Gewalt erlebt oder beobachtet, pfeift sie, damit die andern das hören und sie unterstützen. Dort sind viele Häuser im Übrigen so schlecht gebaut, dass alle immer hören, was nebenan passiert. In anderen Stadtteilen haben Genossinnen ein System der regelmäßigen Hausbesuche organisiert – und wieder andere haben sich in Whatsapp-Gruppen organisiert, um sich in Gewaltsituationen schnell helfen zu können. Denn in Chile ist es so wie in vielen Ländern: Wenn Du zur Polizei gehst, um Anzeige zu erstatten, sagen Sie Dir meist nur: Lösen Sie das Problem doch unter sich. Abgesehen davon ist es derzeit bei der Polizei im Unterscheid zu anderen Behörden nicht möglich, online Anzeige zu erstatten. Eine Freundin von mir musste sich neulich der Gefahr der Ansteckung mit dem Virus aussetzen, weil sie für eine Anzeige zur Polizeistation musste.
Du setzt Dich in dem sozialökologischen Komitee der 8. März-Koordination, einem Bündnis verschiedener feministischer Gruppen in ganz Chile, für einen antikapitalistischen, anti-extraktivistischen und antirassistischen Feminismus ein. Was heißt das allgemein für Euren politischen Alltag, vor welchen Herausforderungen steht Ihr?
Sicherlich gibt es in Chile noch immer sehr unterschiedliche Vorstellungen von feministischer Politik. Gerade gab es eine erfolgreiche feministische Kampagne gegen unsere Frauenministerin, Macarena Santelices, die inzwischen zurückgetreten ist. Sie ist die Großnichte von Ex-Diktator Pinochet und bekannt für rassistische Aussprüche gegen die haitianische Community sowie für äußerst sexistisches und frauenverachtendes Musikfernsehen im Privatsender Megavisión. Der Slogan der Kampagne war: „Wir haben keine Ministerin!“ Wir von der Koordination haben das kritisiert, weil wir sagen: In einem Staat wie Chile wollen wir überhaupt keine Frauenministerin haben. Ein weiteres Konfliktfeld ist, dass der konventionelle Feminismus in Chile rassistische Verhältnisse immer noch kaum sichtbar macht und eher wie ein unwichtigeres Spezialthema behandelt. Für mich, auch als sozioökologisch engagierte Feministin ist das aber ein grundsätzliches Merkmal unserer Gesellschaftsstruktur, nicht zuletzt wegen der zunehmend rassistischen Dimensionen der Arbeitsbedingungen im Agrobusiness. Viele der Saisonarbeiterinnen in der Landwirtschaft sind heute Migrantinnen und arbeiten unter absolut prekären Bedingungen. Für sie organisieren wir Unterstützungsnetzwerke. Meines Erachtens ist es heute die große feministische Herausforderung, dem Rassismus auch im Rahmen des Migrationsregimes entgegenzutreten und zu verstehen, wie der Extraktivismus [1]rassifiziert ist.