Wenige Wochen nach der türkischen Eroberung Afrins und dem längst vollzogenen Übergang zur offenen Diktatur ist beinahe vergessen: Noch vor fünf Jahren wurde die Türkei insbesondere von gebildeten westlichen Öffentlichkeiten als demokratisches Modell für eine ganze Region gefeiert. Doch spätestens seit der Gezi-Revolte von 2013 befindet sich das AKP-Regime (vgl. Tuğal, 2007 und 2017) in einer tiefen Krise – deren autoritäre Bearbeitung greift längst über die Staatsgrenzen der Türkei hinaus. Zugleich steht die türkische Außenpolitik in Syrien vor einem außenpolitischen Scherbenhaufen, allerdings konnte sie aus der westlich-russischen Konfrontation begrenzten Nutzen ziehen. Dieser hilft ihr den fragilen Burgfrieden im eigenen Land zu stabilisieren und zugleich die Folgen ihrer umfassenden Niederlage im Syrienkrieg auf expansive Weise einzuhegen.

Die lange Krise der AKP

Im Sommer 2013 richtete sich die türkische Juni-Revolte unmittelbar gegen das, was im Westen lange als Demokratisierung der Türkei galt: Ein Projekt radikaler Neoliberalisierung, begonnen 1980 unter der türkischen Militärjunta, lange getragen von Vereinbarungen mit dem IWF, aber auf Dauer gestellt durch ein EU-Beitrittsprojekt, das Demokratisierung an einen unbedingten Neoliberalisierungsprimat band und dies so zugleich einhegte (vgl. Gehring, 2014b). Auch die in den 2000er Jahren viel beachteten liberaldemokratischen Reformen wurden von den führenden türkischen Akteuren übrigens nur anfangs im Konsens beschlossen. Ab 2006 wurden sie zum Teil einer sehr selektiven Agenda – mit dem Ziel Gegner im Machtblock zu bekämpfen. Doch die zunehmende Machtkonzentration unter der AKP wurde seitens der EU lange gar mit Demokratisierung gleichgesetzt, da anscheinend gegen ein kemalistisch-militärisches Establishment gerichtet. Diese Deutung verweist auf die hegemoniepolitischen Erfolge der AKP – sie galt lange als Stimme der ökonomisch und kulturell Ausgeschlossenen. Dabei tat zunächst wenig zur Sache, dass sie im Grunde eine lange Kontinuität repräsentierte, die in der Türkei die Grundachse hegemonialer Politik bildete: Den Anspruch, die Massen kulturell ‚authentisch’ gegen einen immer wieder neu definierten inneren Okzident zu repräsentieren – in Verbindung mit der Durchsetzung der profanen Interessen der ökonomisch Herrschenden. 

Zum inneren Okzident zählten dabei längst nicht nur Kemalisten, sondern auch die politische Linke in ihrer Gesamtheit (vgl. Gehring, 2018c). Die organischen Intellektuellen der AKP formulierten eine die hegemonialen Strukturen festigende Interpretation von Islam (vgl. Tuğal, 2009). Und gerade diese wurde in westlichen Öffentlichkeiten lange als Widerentdeckung des verdrängten kulturellen Erbes gewürdigt und zugleich geradezu euphorisch als ‚anatolischer Calvinismus’ gefeiert (vgl. ESI, 2005). Der Prozess der kapitalistischen Durchrationalisierung stärkte die Rolle der Religion bei der Mediation und Verwaltung der herrschenden gesellschaftlichen Widersprüche und machte sie zugleich zur Gefangenen ebendieser (vgl. Tuğal, 2009). Das bedeutete aber mitnichten ihre Mäßigung oder Säkularisierung, sondern ihre Radikalisierung – denn die sozialen Ein- und Ausschlüsse in den Prozess der stetigen, aber doch fragilen kapitalistischen Expansion wurden verstärkt entlang religiös-identitärer und konfessioneller Linien verhandelt (vgl. Gehring, 2014a). Auch regionalimperialistische Interessen der Türkei, die der ökonomischen Expansion ihrer Unternehmen in die Nachbarstaaten entsprangen, wurden seit Ende der 2000er Jahre zunehmend so begründet. Man wollte in der Region als legitime, d.h. ‚kulturell-authentische’ Macht auftreten und intensivierte zugleich die islamistische Gesellschaftspolitik im eigenen Land (vgl. Saraçoğlu, 2018). Eine solche kulturell-authentische, aber in westliche Bündnisstrukturen eingebundene Macht war auch für westliche Akteure hochattraktiv – schien sie doch deren Wirkungspotenzial in der Region zu vergrößern. 

Diese neoosmanische Außenpolitik genoss bei ihnen Ansehen und in westlichen Öffentlichkeiten war es ein Tabu, das Rollenmodell für eine ganze Region als pro-westlich islamistisches Gesellschaftsprojekt zu bezeichnen – man wählte die Umschreibung ‚islamisch-konservativ’. Doch so sehr die herrschenden westlichen Diskurse auch in Stein gemeißelt schienen, sie hatten sich inzwischen weit von der türkischen Realität entfernt. Denn gegen die konkreten Ausformungen dieses Projektes gab es immer wieder lokale, brutal unterdrückte, gesellschaftliche Widerstände – sei es gegen Kommodifizierung des öffentlichen Raumes, gegen die Geschlechter-, Kultur- oder auch die Außenpolitik des Landes. 2012 und 2013 erlebte die Türkei große friedenspolitische Mobilisierungen, die sich gegen die Syrienpolitik der AKP und ihren konfessionalistischen Bias richteten – in unsere Medien schafften es diese relevanten Ereignisse nicht. Im Frühsommer 2013 eskalierte schließlich in İstanbul das Betreiben der AKP-geführten Stadtverwaltung den Taksimplatz neoosmanisch zu gentrifizieren und den Gezi Park zu roden zu einer fast landesweiten Revolte. Kaum ein Projekt verkörperte den ideologischen Bias des Regimes besser, zudem stand es in einer Kontinuität mit weiteren brutal unterdrückten lokalen Widerständen. Verhaftungswellen und die Anwendung von Feindstrafrecht hatten schon vor 2013 für erheblichen Unmut in der Bevölkerung gesorgt, der sich nun in Form einer fast landesweiten Revolte entlud. Erst sie schuf eine größere internationale Öffentlichkeit für die Verhältnisse in der Türkei. Vor allem dekonstruierte sie real den populistischen Anspruch, der AKP eine Art regierende gesellschaftliche Opposition zu sein (vgl. Babacan, 2013). In der Niederschlagung der Revolte war klar geworden, wessen Interessen sie mit welchen Methoden verteidigt, sobald diese ernsthaft herausgefordert werden. Was wir seit 2013 erleben, ist keine Abkehr vom bis dahin verfolgten Pfad der Demokratisierung, sondern vielmehr die Radikalisierung von Tendenzen, die im Innersten des AKP-Projektes angelegt waren, aber im Ausland geradezu programmatisch übersehen wurden.

Dezisionismus

Spätestens diese Revolte wurde zum Initial einer tiefen Hegemoniekrise, die Versuche der AKP sie zu lösen, vertiefen einerseits den bisher verfolgten Pfad durch Radikalisierung der autoritären Elemente, weisen andererseits über ihn hinaus, indem sie den bisherigen Handlungsrahmen sprengen. Diese Hegemoniekrise artikuliert sich zum einen im Zusammenbruch ihrer bisherigen Erzählung, mit der die AKP bis weit in das liberale Spektrum hinein hatte Zustimmung mobilisieren können. Strategien der gesellschaftlichen Spannung und Spaltung entlang soziokultureller und konfessioneller Konfliktlinien halfen ihr während der Revolte das islamistische und nationalistische Lager fester an sich binden. Sie bewirkten jedoch eine Verschiebung ihrer politischen Basis weg von einem liberal-konservativ-islamistischen Bündnis hin zu einer nationalistisch-islamistischen Kräftekoalition (vgl. Tuğal, 2017). Auch innerhalb des  Spektrums des politischen Islam hat sich längst nicht nur die Gülenbewegung mit der AKP überworfen. Auch andere Gruppen gehen auf Distanz zur Regierungspolitik. Während linksislamistische Gruppen wie die Antikapitalistischen Muslime größenmäßig kaum ins Gewicht fallen, haben sie zumindest den Raum denkbarer Alternativen innerhalb des religiösen Lagers erweitert und stellen eine ideologische Herausforderung dar. Auch fällt es Parteien, wie der HDP nun leichter, religiöse Ansprachen in ihrem eigenen Diskurs zu verankern – im Wahlkampf 2015 konnten sie auch damit im kurdischen Raum erhebliche Stimmzuwächse zu Lasten der AKP erzielen. 

Ein weiteres Element – neben den wachsenden Refinanzierungsschwierigkeiten auf den internationalen Finanzmärkten – sind die ökonomischen Stagnationstendenzen, die auch durch frisierte Statistik nicht überbrückt werden können, da sie im Alltag spürbar sind. Besonders deutlich artikuliert sich die Hegemoniekrise jedoch in der Kette von gesellschaftlichen Widerständen, die immer wieder neu ausbrechen und sich an den Widersprüchen des Regimes reiben. Es ist dabei beinahe egal, ob es sich um Proteste gegen die katastrophalen Folgen der schwachen Regulierung des Bergbausektors (Katastrophe von Soma), die jährlichen Demonstrationen zum 8. März, Proteste gegen Wahlfälschungen die massenhaften Mobilisierungen im Kontext der Kämpfe um Kobane handelt – immer wird die Legitimität des AKP-Regimes als solches direkt und unmittelbar in Frage gestellt. Jeder Kampf weist über den gegeben hegemonialen Handlungsrahmen hinaus. Möglichkeiten der Eindämmung durch Konzessionen bestehen fast keine mehr, es bleibt der AKP fast immer nur noch, die Widerstände direkt zu unterdrücken. Bisher erfolgreich praktizierte Methoden der Mobilisierung stoßen an ihre Grenzen und neue bergen zum Teil erhebliche Probleme: Noch in den 2000ern fand der populistische Anti-Establishment-Diskurs der AKP weitgehende Unterstützung im Ausland. Er wurde sogar als Teil von Demokratisierungsbemühungen wahrgenommen – vor allem da er sich gegen die letzten staatsapparativen Sedimente jenes kemalistischen Korporatismus richtete, der seit 1980 mit westlicher Unterstützung abgebaut wurde. 

Doch schon seit Beginn der 2010er Jahre und rasant unter den Bedingungen der manifesten Hegemoniekrise seit 2013, wandelt sich der Diskurs der inzwischen seit weit über 10 Jahren regierenden AKP. Es fällt ihr schwerer sich als Quasi-Opposition an der Regierung darzustellen, sie definiert sich nunmehr als oppositionell gegen den Westen und riskiert dafür manche Konfrontation und Krise. Galt in westlichen Diskursen früher das alte ‚kemalistische Establishment’ die Verkörperung des illiberalen östlichen Staates, so ist es nunmehr die AKP in Folge ihres nationalistisch-islamistischen Diskurses (vgl. Gehring, 2016). Ein transnationaler Anker ihrer diskursiven Hegemonie hat sich damit aufgelöst. Wirtschaftlich bleibt die Türkei derweil ein fester Bestandteil der transatlantisch-europäischen Ordnung: Nicht nur das Gros der Investitionen, ein wieder wachsender Teil der Exporte kommt von der beziehungsweise geht in die EU (vgl. TUİK, 2018). Die Einbindung der Türkei in den Welthandel wird wesentlich über die Beziehungen zur EU – namentlich der Zollunion – reguliert. Es gibt wenig Evidenz für die Behauptung, dass die Türkei in politökonomischer Hinsicht in absehbarer Zeit überhaupt über eine reale östliche Option verfügt. Gerade in diesem Kontext sorgen die wachsenden internationalen Zweifel über einen Verbleib der Türkei in der transatlantisch-europäischen Ordnung für wachsende Spannungen im Machtblock. Diese Sorge um internationale Isolation wurde nicht zuletzt in der (ansonsten dünnen) Erklärung der Putschisten vom 15. Juli 2016 angeführt.

Fragiler Burgfriede

Dieser brutal und rasch niedergeschlagene Putsch stellt einerseits eine Zuspitzung der Krise des AKP-Regimes dar, denn Teile der Streitkräfte erhoben sich offen gegen die Regierung. Anderseits wurde er zum Ausgangspunkt für einen neuen, fragilen Burgfrieden. Materiell basiert dieser Burgfriede darauf, dass die AKP bis heute die in den Verträgen mit der EU kodifizierten Grundpfeiler der ökonomischen Regulierung nicht fundamental in Frage stellt. Sie drängt gar auf eine Vertiefung der Zollunion – ihr radikal antiwestlicher Diskurs und ihr materielles Handeln klaffen weit auseinander (vgl. Gehring, 2017). Zum anderen gibt es kein konkurrierendes Gesellschaftsprojekt, welches fähig ist, die Interessen der führenden Klassen zu prozessieren , so wie es das AKP-Projekt in den 2000er Jahren vermochte, als es stabile gesellschaftliche Zustimmung für die neoliberale Ordnung produzierte . Die inhaltsleere Deklaration Putschisten (dokumentiert auf Haber3.com, 2016) brachte dieses zum Ausdruck – es gab kein gegenhegemoniales Projekt, auf welches sie sich hätten beziehen können. Vor diesem Hintergrund verzichteten die führenden Holdinggesellschaften darauf, ihre Medienmacht in den Dienst des Putsches zu stellen. Dies mochte zum Teil einem abwartenden Opportunismus geschuldet sein, schwächte aber direkt die Putschisten, die schlicht auf jedwede Unterstützung angewiesen waren. Auch alle anderen gesellschaftlichen Kräfte verweigerten sich – gerade auch vor dem Hintergrund einschlägiger Erfahrungen mit Militärputschen. Insofern basiert der Burgfriede – zumindest im Hinblick auf die Interessen der führenden Klassen wesentlich auf einer noch immer alternativlosen AKP. 

Diese Alternativlosigkeit ist aber fragil, wenn nicht gar bloß imaginiert. Die Partei muss sich daher weiterhin massenhafter popularer Unterstützung versichern, oder aber deren Erosion durch eine Radikalisierung ihrer Kernanhänger kompensieren. Ansonsten ist sie bei manifesten Brüchen innerhalb des Machtblocks nicht handlungsfähig, denn der Putsch wurde gerade auch durch radikalisierte eigene Anhänger niedergeschlagen. Beide Ziele versucht sie durch eine Radikalisierung ihres Islamismus bei gleichzeitigem Einbau nationalistisch-kemalistischer Elemente zu erreichen (vgl. Babacan, 2016). Diese Politik betreibt sie jedoch nicht erst seit dem Putschversuch 2016, sondern im Grunde seit der Gezi-Revolte 2013. Doch vor allem die letzten drei Jahre sind hier von Interesse: Bereits nach ihrer relativen Wahlniederlage im Juni 2015, die AKP verfehlte auf Grund des Einzugs der HDP auch im Parlament die absolute Mehrheit, schwenkte die AKP in Richtung eines türkischen Nationalismus mit ausgeprägt antikurdischen Zügen. In der Folge kündigte sie den Friedensprozess mit der PKK auf (vgl. Gehring, 2015). In der Konstellation des gezielt neu eskalierten Bürgerkrieges im kurdischen Raum konnte sie nationalistische Stimmen aus dem Spektrum der MHP an sich binden. Im weiteren Verlauf des Krieges schloss sich auch die – anfangs kritische – CHP der Kriegskoalition an. Im Frühjahr 2016 stimmte letztere schließlich zusammen mit AKP und MHP der Aufhebung der Immunität von Abgeordneten zu – eine Maßnahme, die vor allem gegen die HDP als Oppositionspartei zielte. 

Weite Teile ihrer höheren und mittleren Führungsebenen sind inhaftiert, nur der Form halber ist die HDP nicht verboten. Während der Bürgerkrieg also als ein ideologisches Bindemittel für eine disparate Koalition aus Kemalisten und Nationalisten unter islamistischer Führung dient, wurden durch die Niederschlagung des Putschversuches die Voraussetzungen geschaffen, diese administrativ zu festigen. Unmittelbar nach dem Putsch wurde zur Verteidigung der ‚demokratisch gewählten Regierung’ die ‚Koalition der Nationalen Einheit’ geschmiedet, die alle Parteien außer der HDP umfasste. Ob gewollt oder nicht, legitmierte die CHP durch ihre Beteiligung an dieser Koalition den bereits am 21. Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand (vgl. Mersin Gündem, 2016). Dieser diente nicht der Niederschlagung des binnen einer Nacht kollabierten Putsches, sondern bildete vielmehr die Grundlage die Übertragung der Legislativ- und Exekutivmacht auf den Präsidenten, dessen Notstandsdekrete ferner von einer Überprüfung durch das Verfassungsgericht ausgenommen sind. Demonstrations- und Streikverbote sowie umfangreiche Säuberungswellen bilden seither den Alltag (vgl. Babacan, 2016). Obgleich die CHP diese Situation anprangert und gegen die regelmäßigen Verlängerungen des Ausnahmezustands stimmt, ist dieser zu einem permanenten geworden. Mit den Stimmen der MHP sichert sich die AKP seine regelmäßige Verlängerung. Die MHP wurde administrativ kooptiert, viele ihrer Parteigänger*innen fanden Eingang in nunmehr freigewordene hohe Ämter. Allerdings erodiert die subalterne Kooption der MHP, ihre eigene Wählerbasis von der sie nunmehr als Anhängsel der AKP wahrgenommen wird. Die Zustimmung zu den Verfassungsänderungen, die die Einführung des Präsidialsystems ab 2019 vorsehen, fiel beim Referendum im April 2017 verhalten aus. Trotz massiver Fälschungen konnte die AKP nur wenig mehr als ihre eigenen Anhänger*innen für ihr Vorhaben gewinnen. Die MHP-Basis hatte sich beinahe vollständig der Mobilisierung verweigert. 

In Reaktion auf die Krise der MHP ist mit der İYİ Parti eine AKP-kritische rechte Partei entstanden, die ernsthafte Chancen hat, bei dem nächsten Wahlen auf Kosten der MHP ins Parlament einzuziehen. Die AKP steuert nicht nur in Wahlumfragen, sondern auch bündnispolitisch auf eine schwere Wahlniederlage zu. Ihre Alternativlosigkeit dürfte auch aus Sicht führender Machtblockakteure bald nicht mehr gegeben sein, sofern sie nicht durch dezisionistisches Handeln die Bildung politisch handlungsfähiger gegenhegemonialer Kräfte im Keim erstickt – auch durch überraschende Neuwahlen, wie für den Juni 2018 angekündigt. Die Begründungsmuster für Dezisionismus, also die glaubhafte Behauptung einer nationalen Bedrohung, auf die per Definition nur der staatliche Souverän angemessen antworten kann (vgl. Schmitt, 1932), müssen dafür aber beständig reproduziert werden. Die Invasion Afrins stellt in diesem Kontext innenpolitisch zum Teil eine Reaktion auf die Krise innerhalb des Machtblocks dar, ebenso entspringt sie der verminderten Fähigkeit der AKP, organische Beziehungen zu weiten Teilen der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Allerdings hat die Türkei spätestens mit der Verhängung des Ausnahmezustandsregimes (dessen Präsidialdekrete, übrigens von einer verfassungsrechtlichen Überprüfung ausgenommen sind), die Türkei die Form eines dezisionistischen Maßnahmestaates angenommen. Begriffe, wie ‚Illiberale Demokratie’, ‚Defekte Demokratie’ oder ‚Fassadendeemokratie’ verkennen auf Grund ihrer schwachen staatstheoretischen Unterfütterung genau dieses Faktum und damit den entscheidenden Modus Oparandi der türkischen Diktatur: Dezisionismus ist kein Mittel mehr, das eingesetzt oder auch nicht eingesetzt werden könnte, wie noch in früheren Jahren der AKP-Herrschaft. 

Die Legitimation dieses Dezisionismus wird aus der existenziellen Bedrohung des Staates abgeleitet auf die nur die AKP als Inhaberin der Regierungsmacht angemessen reagieren kann. Dies schließt sogar die Aufrechterhaltung einer demokratischen Fassade aus – woraus im Übrigen wesentlich der internationale Reputationsverlust des Regimes resultiert. Im Zuge sich totlaufender Säuberungskampagnen, die lange schon auch die herrschende Partei selbst erfasst haben und der brutalen, aber im Ergebnis doch effektiven Widerherstellung der staatlichen türkischen Ordnung in den kurdischen Provinzen, ist eine existenzielle Bedrohung des Staates aber nicht mehr nur durch innere Gegner allein zu rechtfertigen. Der Dezisionismus der AKP als solcher ist also fragil und mit ihm ihre Herrschaft. Insofern ist das permanente Herbeiführen von Krisen nationaler Bedeutung nicht nur wahltaktischen Erwägungen geschuldet, sondern bildet eine Dynamik, die der dezisionistischen Staatsform entspringt. Dies gilt auch für den Angriffskrieg auf Afrin, der die bestehende Bedrohung der Nation (zumindest kurzzeitig) auf ein neues Level hievte. In der Tat stehen alle maßgeblichen Machtblockakteure, inklusive der (nominal) oppositionellen CHP, geschlossen hinter der Offensive. 

Zudem gibt es eine langtradierte Gegnerschaft zur kurdischen Bewegung, die ideologisch für ein postkapitalistisches und postpatriarchales Gesellschaftmodell steht und so eine permanente hegemoniepolitische Herausforderung bildet – insbesondere, wenn sich die drei kurdischen Kantone in Rojava bzw. die Demokratische Konföderation Nordsyrien an ihr orientieren. Diese politische und ideologische Konkurrenz prägt seit Jahrzehnten die Innen- und Außenpolitik der Türkei und kann als Teil türkischer Staatsräson betrachtet werden. Namentlich soll die Herrschaft der PKK oder von ihrer Ideologie inspirierter Organisationen über Territorien von signifikanter Größe verhindert werden. Erst recht gilt dies für die Etablierung von ganzen Staaten oder de facto staatlichen Regimen. Doch genau dies ist mit Bildung der Demokratische Föderation Nordsyrien, die sich am Demokratischen Konförderalismus orientiert, seit 2012 der Fall.

Die Invasion Afrins in ihrem geopolitischen Kontext

Jenseits der inneren Dynamik der Türkei stellt sich die Frage, warum, erst im Januar 2018 mit einem größeren militärischen Angriff auf das nordwestlich von Aleppo gelegene Kanton Afrin begonnen wurde. Zunächst ist festzuhalten: In ihrer gegenwärtigen Verfassung ist die Türkei kaum noch in der Lage, ambitionierte geopolitische Projekte zu verfolgen. Dafür fehlen ihr einerseits die Mittel, anderseits hat sie sich in zu viele Konflikte und Widersprüche mit ihren Nachbarn und den großen Interventionsmächten in Syrien verfangen. Es geht aus Sicht führender türkischer Akteure primär um Schadensbegrenzung. Die sich seit Jahren abzeichnende, allumfassende Niederlage im Syrienkrieg soll ein Stück weit begrenzt werden. In Folge der Revolten und Umstürze in zahlreichen arabischen Staaten, intervenierte die AKP-Regierung nach anfänglichem Zögern in die zunächst innersyrische Revolte und unterstützte islamistische und dschihadistische Rebellengruppen. Namentlich war ein Sieg der Muslimbruderschaft in ihrem Interesse, doch die Struktur des Aufstandes und sein Umschlagen in einen Bürgerkrieg war weit komplexer als von ihr zunächst angenommen. Sie verwickelte sich in einen Stellvertreterkrieg, der unter anderem zu einer scharfen russisch-türkischen Konfrontation führte. Russische Sanktionen ab Ende 2015 trafen die Türkei dabei hart. Die russische Intervention ab 2015 veränderte die militärischen Kräfteverhältnisse und zerstörte jede Perspektive auf Sieg. 

Damit war aber zugleich den Grundstein für eine Annäherung zwischen der Türkei und Russland gelegt. Verschärfend kam hinzu, dass der türkische Versuch, die kurdischen Autonomiestrukturen in Rojava durch die Unterstützung dschihadistischer Gruppen unter Druck zu setzen, mit zum rasanten Anwachsen des Islamischen Staates (IS) beitrug. Ein IS, der weite Teile Syriens und des Irak beherrschte, wurde international, allen voran von den USA, nicht akzeptiert. Zudem gab es international groß angelegte zivilgesellschaftliche Mobilisierungen gegen den IS. Beides verschaffte den kurdischen Autonomiestrukturen in Rojava nicht nur internationale Sichtbarkeit innerhalb der politischen Linken als ein mögliches alternatives Gesellschaftsmodell, sondern machte ihren militärischen Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), zu einem Schlüsselpartner im Kampf gegen den IS. Insbesondere durch die Gründung der Demokratischen Kräfte Syriens (DKS), in die sich nun auch arabische Einheiten integrierten, wurden die Beziehungen zu den USA gefestigt. Für die Türkei bedeutete all dies ihre vollständige Niederlage im Syrienkrieg. Begrenzte türkische Offensiven wie 2016/17 auf den bis dato vom IS gehaltenen, nordsyrischen Raum um Jarablus und Al Bab blieben letztlich Kosmetik (vgl. Gehring, 2016b). Auch für Russland, das das Ziel der territorialen Integrität Syriens sowie die Restauration des Baath-Regimes verfolgt, stellen die kurdischen Autonomiestrukturen eine Herausforderung dar – insbesondere, wenn diese intensive Beziehungen zu den Vereinigten Staaten unterhalten. Solange wie der IS noch große Gebiete beherrschte und die Regierung in Damaskus primär um die Rückeroberung von Rebellengebieten kämpfte, wurden die kurdischen Autonomiestrukturen von Russland als sekundäres Problem behandelt – sogar ein Ausgleich mit ihnen gesucht. Der sich abzeichnende Sieg über den IS, sowie jener der syrischen Regierung über die letzten Rebellengruppen rückte jedoch Rojava verstärkt in den Fokus russischer Außenpolitik. 

Während sich die türkische Regierung Anfang Januar durch die von Russland und Iran unterstützte Offensive syrischer Regierungstruppen gegen die in der nordwestsyrischen Provinz Idlib verbliebenen islamistischen und dschihadistischen Gruppen um die bescheidenen Verhandlungserfolge im Astanaprozess betrogen fühlte; stellte für Moskau die US-amerikanische Ankündigung, eine 30 000 Soldaten starke Grenzschutztruppe aus Kräften der YPG aufstellen und ausrüsten zu wollen, einen massiven Eingriff in eigene Interessen dar. In diesem Kontext konnte sie durch ein Nachgeben gegenüber lange gehegten türkischen Invasionswünschen, die Verletzung türkischer Interessen in Idlib ein Stück weit kompensieren und so ihre Beziehungen zu Ankara pflegen. Zudem war es ihr nun möglich der PYD und der YPG ihre Verwundbarkeit vorzuführen – denn im Gegensatz zu den Gebieten östlich des Euphrat fällt Afrin in die russische Interessenszone und damit war die Abstimmung mit Russland und nicht etwa den USA für die Durchführung der türkischen Offensive auf Afrin maßgeblich (Gehring, 2018a). Dennoch ist die westliche Bewertung des türkischen Angriffskriegs als Akt der Selbstverteidigung kein Faktor, der zu unterschätzen ist. Mochten westliche Regierungen nicht vorab informiert gewesen sein, so haben sie sich mehrheitlich rasch mit der Offensive abgefunden. Ein Grund für diese Zurückhaltung ist sicherlich die Sorge, westlicher Expert*innen und Politiker*innen, die Türkei würden sich seit Sommer 2016 strategisch an Russland annähern. Der Beginn der Astana-Gespräche Ende 2016, die unter türkischer, russischer und iranischer Federführung zu einer Verhandlungslösung im syrischen Bürgerkrieg beitragen sollen, schien diese Befürchtungen zu bestätigen. Kurz: Die russisch-westliche Konkurrenz um gute Beziehungen zur Türkei gab der Türkei die Möglichkeit unter Billigung der beiden um Ankaras Gunst konkurrierenden Seiten Afrin anzugreifen. 

Doch welche konkreten Vorteile, jenseits der Pflege türkisch-russischer Beziehungen, hatte das Zulassen der türkischen Offensive für Moskau? Denn immerhin hat der türkische Angriff binnen zwei Monaten zur Besetzung Afrins durch islamistische und dschihadistische FSA-Rebellen geführt, deren Bekämpfung offiziell den Zweck der russischen Syrienintervention an Seite der Zentralregierung in Damaskus bildet. Dies erfordert einen näheren Blick auf die militärische Lage in Afrin und anderen Teilen Syriens während des Zeitraums der Offensive von Ende Januar bis Mitte März. Und ebenso sind Russlands längerfristige strategische Zielsetzungen zu beachten: Obwohl die bisher größte Luftoperation in der Geschichte der türkischen Streitkräfte und der großangelegte Einsatz von Artillerie dem Angriff zu seinem militärischen Erfolg verhalfen, war das am Boden eingesetzte Kontingent an türkischen Soldaten und islamistischen Kämpfern überschaubar geblieben. Es war zugeschnitten auf die Eroberung Afrins – nicht darauf im direkten Anschluss weitere kurdische Kantone zu erobern. Was aus kurdischer Sicht verheerend ist, stellt aus Sicht externer Interventionsmächte wie Russland ein eher lokal begrenztes Ereignis dar. Das ist der Zynismus realer Machtpolitik. Im Austausch für das Zulassen dieser lokalen Offensive reduzierte Ankara, wenn auch widerwillig und inkonsequent, seine Unterstützung für die islamistischen und dschihadistischen Rebellen in Idlib (Gehring, 2018b). Dort führten Moskau und Damaskus in den ersten Wochen der türkischen Afrin-Offensive eine eigene brutale Militärkampagne durch, die nach signifikanten Geländegewinnen vorerst gestoppt wurde. Der Angriff an Ost-Ghouta schloss sich unmittelbar daran an. 

Beide Kampagnen banden erhebliche Kräfte der syrischen Regierungstruppen sowie ihrer Verbündeten und beide Gebiete haben für Damaskus eine erheblich höhere Bedeutung als Afrin. Abgesehen von der eher symbolischen Entsendung regierungsnaher Milizen, hatte Damaskus also kaum reale Möglichkeiten gehabt, der türkischen Offensive etwas entgegenzusetzen. Während die Türkei Afrin einnahm, verfolgte die syrische Regierung ihre primären Ziele. Fand die türkische Offensive auf Afrin im Windschatten der Angriffe des Baath-Regimes auf Idlib und Ghouta statt, so konnten letztere umgekehrt im Windschatten des Angriffs auf Afrin durchgeführt werden (Gehring, 2018b). Diese besondere, für die Türkei überaus günstige, Konstellation ermöglichte den Angriff auf Afrin. Doch sie ist nicht ohne weiteres in andere Konstellationen und geographische Kontexte übertragbar – selbst wenn Ankara die Eroberung weiterer kurdischer Kantone anstreben mag. Hatte Damaskus in der Vergangenheit – wie im Falle von Afrin - aufgrund eigener militärischer Schwäche kurzfristig ­taktische Konzessionen gemacht, so strebt es doch langfristig die vollständige Rückgewinnung der territorialen Einheit Syriens an. Bereits jetzt haben die syrische und die russische Regierung die Türkei dazu aufgefordert, Afrin mittelfristig unter syrische Kontrolle zu stellen. Da Afrin, westlich der informellen Demarkationslinie zwischen der US-amerikanischen und der russischen Interessenszone im Syrienkonflikt liegt, hatte es seitens der USA nie Sicherheitsgarantien oder sonstige Zusagen gegeben. Die zeitweilige taktische Übereistimmung mit Russland war daher für den türkischen Angriff maßgeblich gewesen. Ungleich komplexer stellt sich für die Türkei die Lage im Hinblick auf die Gebiete rund um Manbij und östlich des Euphrat dar. Diese Gebiete sind die einzigen in Syrien, auf die westliche Außenpolitik durch weiterhin bestehende Kontakte zur kurdischen Autonomieverwaltung zumindest indirekt Einfluss hat. 

Ein türkischer Angriff auf diese Gebiete würde westliche Interessen empfindlich treffen – dies indiziert zumindest die französische Entscheidung, die eigene (bereits bestehende) Präsenz von Spezialkräften in der Region nunmehr offen gegenüber der Türkei sichtbar zu machen. Allerdings sind Interessen nicht statisch, sondern werden immer wieder neu definiert – dies gilt auch für scheinbar festgesetzte Einflusszonen. Die US-Syrienpolitik der letzten Jahre konnte auf Grund eines tief gespalteten Staatsapparateensembles nicht zu einer kohärenten Linie finden. Was der journalistische Alltagsverstand als erratische Attitüden des US-amerikanischen Präsidenten interpretiert, stellt vielmehr eine Gespaltenheit der Staatsapparate über die Frage dar, ob und bis zu welchem Grad geopolitisch mit Kräften kooperiert werden soll, die grundlegend andere gesellschaftspolitische Ziele verfolgen, zugleich aber militärtaktisch unentbehrlich sind. Widersprüchliche Signale über das Verhältnis zur kurdischen Autonomieverwaltung und der Zukunft des US-amerikanischen Engagements in Rojava bilden genau diese Gespaltenheit ab, die es schon unter der Obama-Administration gab. Diese Gespaltenheit sowie die russisch-amerikanische Konfrontation haben zumindest bislang den Handlungsspielraum für die fortgesetzte türkische Aggression geschaffen.