In der Pflege stehen Gewerkschaften vor besonderen Herausforderungen. Besonders in kleinen und/oder ambulanten Betrieben lässt sich nur schwer ökonomischer und politischer Druck aufbauen und Repressionen von Seiten der Arbeitgeber sind schwer abzuwehren. Doch auch in großen Krankenhäusern fällt es vielen Pflegekräften schwer, im Streik die Arbeit niederzulegen – oft aus Angst, PatientInnen und KollegInnen allein zu lassen. Aber der Leidensdruck ist hoch: Weil immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern lastet, nehmen Stress und Überlastung zu. Wenn es unter diesen Umständen dennoch gelingt, Widerstand zu organisieren, gleicht das einer »kleinen Revolution«; einer, die viele kleine Schritte braucht und oft jenseits klassischer Arbeitskämpfe stattfindet. Dazu bedarf es neuer Wege der Organisierung – und neuer Wege, um effektiv Druck aufzubauen. Wie dies auch jenseits der großen Streiks gelingen kann, zeigen die folgenden Beispiele aus Ludwigsburg (in diesem Beitrag) und Mannheim (vgl. Beitrag von Mia Lindemann und Michael Zimmer).

Die Methode des Ultimatums

In einem sensiblen Bereich wie der Krankenpflege sind Anzahl und Art der Aktionsformen limitiert. In unsere Arbeit hat sich die Methode des Ultimatums als erfolgreich erwiesen, die von Aktiven im Klinikum Saarland entwickelt wurde. Als neue ver.di Betriebsgruppe am Klinikum Ludwigsburg haben wir sie in den letzten Jahren wiederholt angewandt. 

Das Besondere an der Methode ist, dass eine Gruppe von Beschäftigten direkte Forderungen an die Geschäftsführung stellt – Kommunikation von ganz unten nach ganz oben. Es handelt sich meistens um Teams auf den einzelnen Stationen oder in Klinikbereichen, die mit einem gemeinsamen Problem konfrontiert ist. Die Forderungen können dabei unterschiedlicher Art sein; meist geht es um zusätzliches Personal und ausreichend besetzte Schichten. Zur Durchsetzung der Forderungen wird ein Ultimatum gesetzt: »Wenn bis zu einem bestimmten Zeitraum nichts geschieht, drohen wir folgende Konsequenzen an.« Doch wie lassen sich Konsequenzen finden, mit denen sich die Beschäftigten nicht selbst angreifbar machen? Da das gesamte Gesundheitswesen mittlerweile unterbesetzt ist und damit im Prinzip auf sogenannten Freiwilligkeitsleistungen basiert, liegt die Idee nahe, genau diese zu bestreiken. Eingestellt wird also, was ohnehin offiziell nicht zur Arbeitsleistung zählt, was ›zusätzlich‹, gleichsam ›freiwillig‹ geleistet wird, weil es sonst keiner macht. Konkret betrifft das im Wesentlichen das sogenannte Einspringen aus dem Frei, also spontane Schichtübernahmen, um ausreichende Besetzung zu gewährleisten ebenso wie den Tausch von Diensten aus dem gleichen Grund. Und es geht um das alltägliche Übernehmen ärztlicher Tätigkeiten wie Medikamentengabe oder Blutabnehmen. All das können Pflegekräften jederzeit verweigert werden, ohne arbeitsrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. 

Die Vorteile der Methode liegen auf der Hand: Die MitarbeiterInnen werden für ihre eigenen Belange aktiv. Das ist ein Gegenentwurf zur Stellvertreterpolitik: nicht die Gewerkschaft, die Betriebsgruppe oder der Betriebsrat werden tätig, sondern die betroffenen Bereiche nehmen das Problem selbst in die Hand. Die Wirkung ist ermächtigend. Das Gefühl, nichts ändern zu können, ist in der Pflege weit verbreitet. Durch die Direktheit der Aktion entsteht bei den KollegInnen wieder das Gefühl, die eigenen Geschicke beeinflussen zu können.

Die gemeinsamen Schritte

Klar ist: die Aktion geht nur gemeinsam und muss schrittweise aufgebaut werden. Und das funktioniert etwa so: Als Betriebsräte werden wir angesprochen und auf einen Missstand aufmerksam gemacht. Wir arrangieren ein Treffen mit den KollegInnen der Station - üblicherweise außerhalb der Arbeitszeit und weit entfernt vom Arbeitsplatz, privat oder in einem Restaurant. Dort analysieren wir die Situation und klären die wichtigsten Fragen: Welche Probleme gibt es? Wer ist bereit aktiv zu werden? Wollen die KollegInnen es alleine versuchen? Oder gemeinsam mit dem Betriebsrat? Wahlweise mit ver.di? Wie hoch ist der Organisationsgrad? Die letzte Frage ist uns wichtig: Unsere Faustregel ist, dass auf jeder Station, die ein Ultimatum stellen will, mindestens 80 Prozent der KollegInnen die Aktion unterstützen müssen. Ungefähr 50 Prozent sollten ver.di- Mitglieder sein oder möglichst bald werden, um ihr Handeln abzusichern. Wichtig ist, sich auf konkrete und erfüllbare Forderungen zu einigen. Das Ziel muss erreichbar sein, da man sonst einen Dauerkonflikt hervorrufen würde, zu dem die meisten KollegInnen nicht bereit sind. Eine bewährte Frage ist: Was würde Euch am besten entlasten? 

Als nächsten Schritt empfehlen wir den KollegInnen, eine Art Vertrag oder ›Pakt‹ untereinander abzuschließen. Das ist wörtlich gemeint: Es geht um eine schriftliche Verabredung, die gemeinsam formuliert wird und die alle unterschreiben. Jeder erhält eine Kopie der gemeinsamen Selbstverpflichtung. Dass soll allen klar machen, was das Ziel ist und eine gewisse Verbindlichkeit herstellen. Denn häufig ist die Angst groß, allein in die Schusslinie zu geraten. 

Auch die Forderungen werden gemeinsam formuliert – am Besten durch die betroffenen MitarbeiterInnen selbst. Eine Unterstützung durch Betriebsgruppe oder GewerkschaftssekretärIn ist legitim, sofern der Inhalt aus dem Team kommt. Das Ultimatum selbst, der Zeitraum der Forderung, hängt vom konkreten Fall ab. Wir wollen eine vernünftige Chance einräumen, das Problem zu lösen. Das ist wichtig, um den Eindruck zu vermeiden, es gehe uns nur um die Eskalation.

Druck und Gegendruck

Jedes Team entscheidet selbst, ob es mit ver.di zusammenarbeiten will oder nicht. Wenn ja, werden die Forderungen über die GewerkschaftssekretärInnen übermittelt. Findet eine Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat statt, erledigt dieser den Schriftverkehr. Wenn das Team alleine vorgeht, darf das Schreiben keine/n eindeutige/n Verfasser/in haben um Repressalien gegen einzelne zu vermeiden. Je exponierter einzelne Akteure sind, desto höher ist das Risiko für sie. 

Ist die Forderungen gestellt und das Ultimatum läuft, ist es enorm wichtig, das Team damit nicht alleine zu lassen. Wenn möglich werden sie vom ver.di-Fachbereich unterstützt. Ansonsten können es je nach Fall die Betriebsgruppe, der Betriebsrat oder sogar externe Unterstützerbündnisse sein. In mehreren Fällen haben wir erlebt, dass die Geschäftsführung versuchte, die beteiligten Teams zu diskreditieren und ihre Forderungen im Betrieb als unangemessen und überzogen darzustellen. 

Hier ist es wichtig, aktiv gegenzusteuern und Öffentlichkeit zu schaffen, innerhalb oder auch außerhalb des Betriebs. Durch das Ansprechen anderer Stationen und das Sammeln von Solidaritätsbekundungen ist es mehrfach gelungen, die Versuche ins Leere laufen zu lassen. Darüber hinaus haben wir durch tägliche Besuche der Verantwortlichen, durch Artikel in der Betriebszeitung sowie durch Flugblätter Druck aufgebaut. Wir haben begleitend Pressemitteilungen veröffentlicht und Leserbriefe geschrieben oder externe UnterstützerInnen darum gebeten. Auch hier ist durchaus mit heftigen Reaktionen der Arbeitgeber zu rechnen. In einem Fall wurde eine Kundgebung von Gewerkschaften und UnterstützerInnen polizeilich aufgelöst, den Gewerkschaften wurde Zutrittsreche verwehrt und es wurden zeitweise sogar Hausverbote ausgesprochen. 

Doch was passiert, wenn es zu keiner Einigung innerhalb der Frist kommt? Wie weit ist man bereit zu eskalieren? Wenn die angekündigten Konsequenzen – kein Einspringen aus dem Frei, kein Diensttausch, keine Übernahme ärztlicher Tätigkeiten – umgesetzt werden, muss das Vorgehen nach außen abgesichert werden. Neben der betriebsinternen Öffentlichkeit und Solidarität braucht es eine gute Pressearbeit: Unserer Erfahrung nach springen die Medien sehr gut auf diese Aktion an. Am wichtigsten bleibt jedoch die gegenseitige Rückversicherung im Team. Die Forderungen sind gemeinsam erarbeitet und von allen unterschrieben: Nicht Einspringen ist solidarischer als ›einknicken‹. Wie das aussehen kann, hat eine HNO-Station vorgelebt: die KollegInnen verlangten kollektiv die Löschung ihre privaten Nummern, um in ihrer Freizeit nicht mehr zum Einspringen angerufen werden zu können. Denn dies federt auf Dauer nur die zu dünne Personaldecke ab. 

Verhandlungen mit dem Arbeitgeber können von unterschiedlichen Akteuren geführt werden. Auch hier ist Wichtig, dass kein/e Einzelne/r zu sehr exponiert wird. Im Zweifel ist es besser, Verhandlungen mit dem gesamten Team einfordern. Die Zusammenarbeit mit ver.di ist sicher der Idealfall. Verhandeln können also viele – Angebote annehmen kann aber ausschließlich das betroffene Team. Wenn das Erreichte den KollegInnen nicht genügt, müssen die Verhandlungen weitergehen. Wenn aber Erfolge erzielt sind und es Zusagen gibt, muss deren Einhaltung unbedingt überprüft werden. Leider müssen Zusagen, wie etwa neue Stellenzuwächse immer wieder neu eingefordert werden. Und auch das Erreichte muss immer wieder verteidigt werden, wenn es etwa neue Belastungen gibt.

Mühsam erkämpft: eine positive Bilanz

Insgesamt ziehen wir eine positive Bilanz. Mit der Methode wurde einiges erreicht. Gleichzeitig haben die Beschäftigten auch viel einstecken müssen. Das Ergebnis hängt dabei von den Bedingungen der einzelnen Stationen ab. Während eine Station der Inneren Medizin allein durch die Androhung des Ultimatums einen Abbau von Betten, die Erhaltung der zweiten Nachtwache, die Einrichtung zweier weiterer Computerarbeitsplätze und eine Arbeitsmedizinische Gefährdungsbeurteilung erreicht hat, sind andere Stationen noch immer in der Auseinandersetzung, ohne dass sich tragfähige Lösungen abzeichnen. 

Die Resultate des Ultimatums sollten möglichst publik gemacht werden. Wenn Arbeitgeber Zugeständnisse machen, wollen sie es oft nicht öffentlich tun oder sie stellen die Verbesserungen als anlasslose Gesten des guten Willens dar, nicht als Erfolg der Belegschaft. Aus gutem Grund: Es geht um mehr als nur um Zahlen oder Stellenschlüssel. Es geht um ein neues Selbstbewusstsein der Beschäftigten. So sind viele Beteiligte im Zuge der Auseinandersetzung gewerkschaftlich aktiv geworden und wurden nachhaltig politisiert. Einige von ihnen sind der Betriebsgruppe beigetreten oder arbeiten eng mit ihr zusammen. Auch die Bereitschaft, sich mit anderen Themen, wie etwa Antirassismus oder Flüchtlingsarbeit zu beschäftigten, erleben wir hier als sehr hoch. Das Gefühl der Ermächtigung hält an. 

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