»Immer diese Widersprüche«
Christian, Sozialarbeiter in einer Kriseneinrichtung für Psychiatriebetroffene
Ich begann langsam, mein Leben umzustellen. Am Vormittag hatten wir auf einer Sonderteamsitzung ausführlich das weitere Vorgehen besprochen. Wir – das ist das Weglaufhaus, ein kleines, basisdemokratisch organisiertes Projekt des Berliner Hilfesystems mit wackliger Finanzierung. Wir unterstützen wohnungslose Menschen in ihrem Kampf gegen die Zumutungen der Psychiatrie. Wir begleiten sie in Krisensituationen. Unerwartet waren wir gemeinsam mit einer umfassenderen Krise konfrontiert. Wir waren überfordert, sprachen uns Mut zu. Bevor ich schlafen ging im Weglaufhaus, las ich das Internet leer. Der hinter einer Paywall versteckte Artikel »Wie das Coronavirus das Nachtleben für immer verändern könnte«, der mit einem Bild des Berghains warb, machte Eindruck auf mich. Etwas dick aufgetragen, die Überschrift, dachte ich und schickte einen Screenshot an Freund*innen, von denen einige im Berliner Nachtleben tätig sind. Es war der 14. März und ich entschied, Bahnfahrten auf ein Minimum zu reduzieren. Auf halbem Nachhauseweg stieg ich aus und begann zu telefonieren. Ich hatte Zeit, der Himmel war blau, ich musste klarkommen nach einer viel zu langen Schicht. Eine Freundin wies mich darauf hin, dass hinter der drohenden längeren Schließung des subkulturellen Berliner Nacht- und Feierlebens die nächste Gentrifizierungsrunde wartet. Ich schämte mich etwas für die Gedankenlosigkeit meines Screenshots und teilte die neue Erkenntnis mit einem Freund. Wir prophezeiten die Rettung der Lufthansa. Ein alter Bekannter – Mittelschicht, selbstständig – ließ mir ausrichten, dass ich lieber nicht zu seiner Geburtstagsfeier im kleinen Kreis kommen solle. Im näheren Umfeld einer Kolleg*in war eine Person positiv auf Covid-19 getestet worden. Ich hätte mich schließlich länger als 15 Minuten mit ihr im selben Raum aufgehalten. Aber war das der Grund – oder lag es daran, dass ich mit den Schmuddelkindern spielte? Was war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlicher: dass Bewohnende einer antipsychiatrisch orientierten Kriseneinrichtung für Wohnungslose mit Covid-19 infiziert waren oder Angehörige der Mittelschicht? Das Testergebnis meiner Kolleg*in war negativ. Die Geburtstagsfeier fand trotzdem ohne mich statt. Hinter dem drohenden Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung zeichnete sich eine Verschärfung des Klassenkampfes von oben ab. Wer kann sich retten, wer wird gerettet? Alles beschleunigte sich. Ich versuchte, das für uns zuständige Gesundheitsamt zu erreichen. Ein Rückruf konnte mir nicht garantiert werden, da die Telefonanlage ausgefallen war. Es war Montag, der 16. März. Wir sorgten uns – um die Zukunft des Weglaufhauses. Was wäre, wenn die meisten Mitarbeiter*innen krank würden oder in Quarantäne wären und ihre Dienste nicht übernehmen könnten? Was, wenn Bewohner*innen schwer erkranken würden? Was, wenn die Einrichtung unter Quarantäne gestellt werden würde? Welche Folgen hätten dann die Bewohner*innen zu tragen? Können wir ihnen zumuten, weiterhin in Doppelzimmern zu wohnen? Die demütigende Erfahrung der Systemirrelevanz ihrer Anliegen, ihrer Wünsche und Sehnsüchte ist ihnen nur allzu bekannt. Was konnten sie also erwarten, was konnten sie tun, wo doch An- und Zurechtweisungen, Vorgaben und Einschränkungen strukturell ihre Lebensführung durchkreuzen? Gemeinsam dagegenhalten, weitermachen, sich nicht unterkriegen lassen, was auch sonst! Wir stellten das Angebot unseres Besuchstages ein, auch unsere ehrenamtlich organisierte Beratungsstelle wurde vorübergehend geschlossen. Immer diese Widersprüche! Leave no one behind! Wir unterstützten die Forderung, Obdachlose und Geflüchtete in Hotels und Ferienwohnungen unterzubringen. Wir hofften, für den Notfall Zeit zu gewinnen. Glücklicherweise blieben den Bewohner*innen unangenehme Termine bei Jobcentern, Bezirksämtern und Sozialpsychiatrischen Diensten erspart. Ich las wiederholt von Entschleunigung und den Segnungen des Homeoffice. Ich fühlte mich zunehmend genervt von moralisierenden Anrufungen. Mich ärgerte die Stimmungsmache gegen Jugendliche, die vermeintliche Corona-Partys feierten, während Leute weiterhin gezwungen waren, in schlecht belüfteten Büroräumen und Fabrikanlagen ungeschützt zu arbeiten. Ich wurde immer wütender und war doch in der Komfortzone: keine Vorerkrankung, sozialversicherungspflichtiger Job, eingebunden in mein vertrautes soziales Umfeld, davon niemand akut gefährdet oder pflegebedürftig. Unterdessen fiel Teilen der linken Öffentlichkeit nichts Besseres ein, als ihr immer gleiches Vokabular von Brüchen, Krisen und Chancen neu anzuordnen. War die Welt für viele nicht schon immer zerbrochen? Ich dachte, lediglich neoliberale Apologet*innen und Psycholog*innen könnten in Krisen Chancen erblicken. Ich flüchtete mich in Sarkasmus. Anfang Juni. Die Lufthansa ist gerettet. Es gibt noch immer keinen uns bekannten stabilen Notfallplan. Ich befürchte, dass Bezirksämter zukünftig zum Sparen angehalten werden. Dies könnte auch die Bewilligungspraxis von Aufenthalten im Weglaufhaus betreffen. Das Prinzenbad hat wieder geöffnet. Noch nie hatte ich so viel Platz zum Schwimmen. Und am Hermannplatz treffe ich auf eine Kundgebung mit über 1000 Teilnehm*innen. Dicht gedrängt, aber es geht um etwas, es geht um viel, es geht um alles. Black lives matter!