Die Osterferien wollten wir dazu nutzen, Schulstoff zu wiederholen und Vokabeln zu üben. Doch schon Ende März war ein Zugang zur Gemeinschaftsunterkunft, in der ein Teil der Kinder wohnt, nicht mehr möglich. Auch jene, die mit ihren Eltern in einer eigenen Wohnung leben, konnten wir aufgrund der Kontaktsperre nicht besuchen. Also hielten wir Kontakt über WhatsApp. Die Kinder bekamen von ihren Lehrer*innen per Email oder über eine Cloud ihre Hausaufgaben zugeschickt. In der Regel haben die Kinder, die wir unterstützen, Smartphones oder können die ihrer Eltern nutzen. Sie kennen Google und verständigen sich mit WhatsApp. Email-Programme, Schreibprogramme oder PowerPoint standen aber nicht allen zur Verfügung. Und auch einen Drucker besitzen die meisten nicht. Die Schulleitungen versuchten, über Elternbriefe Kontakt mit den Eltern herzustellen. Mit gut gemeinten Tipps wandten sie sich an sie: Man müsse den Tag gut strukturieren, den Kindern einen festen Arbeitsplatz einrichten, sie sollten den Lehrer*innen eine E-Mail schreiben, wenn sie Fragen hätten. Aber welche Fragen sollen Eltern stellen, die weder diese Briefe lesen noch eine E-Mail schreiben können? Ruhige Arbeitsplätze sind in Wohncontainern rar, auch in vollen Wohnungen. Also wurde unsere Wohnung zum Call-Center, jede*r von uns telefonierte zwischen zwei und vier Stunden täglich. Die Kinder fotografierten die relevanten Seiten aus dem Schulbuch und schickten sie uns per WhatsApp. Wir kamen in die Verteiler der Schulen, sodass man sich an uns wenden konnte. Wir druckten Arbeitsblätter aus und brachten diese gelegentlich zu den Familien. Am Ende der Woche sammelten wir die Arbeitsergebnisse ein, scannten sie und schickten sie zurück an die Lehrer*innen. Ich war überrascht, um wie viel anstrengender es ist, Dinge am Telefon zu erklären. Nicht nur die Tatsache, dass die Kinder selbst noch dabei sind, sich die deutsche Sprache anzueignen, stellt auch für alle anderen Fächer eine Schwierigkeit dar. Sie kennen auch viele Dinge nicht. Wie soll man beispielsweise den Umfang einer Walze errechnen, wenn unklar ist, was eine Walze ist? Aber auch die Erläuterungen auf den Arbeitsbögen – zum Beispiel der Unterschied zwischen einer symmetrischen und einer asymmetrischen Korrelation – können sie sich nicht allein erschließen. Am krassesten zeigte sich das beim Physikunterricht. Die Versuchsanordnungen, die der fantasie- und hilfreiche Lehrer ersonnen hatte, konnten von den Kindern nicht ohne Weiteres umgesetzt werden. Zum Teil brachten wir ihnen überhaupt erst die erforderlichen Materialien und filmten die Probedurchführungen. Während wir nun täglich Englischvokabeln paukten, Matheaufgaben lösten, die Kalendergeschichten von Peter Johann Hebel nacherzählten und deren Moral ergründeten, den Wasserkreislauf rekonstruierten etc., blieb es von Seiten mancher Lehrkräfte ziemlich still. Ich hatte eigentlich angenommen, dass die Klassenlehrer*innen in den drei Wochen bis zu den Osterferien Zeit fänden, mit ihren Schüler*innen telefonisch Kontakt aufzunehmen. Doch einige schickten einfach die Kopie aus dem Lösungsheft und baten die Kinder um Rückmeldung, welche Fehler gemacht worden waren. Es gab aber auch sehr engagierte Lehrer*innen. Manche organisierten beispielsweise ein virtuelles Klassenzimmer, in dem täglich von 9 bis 13 Uhr Unterricht stattfinden konnte. Hier die Teilnahme zu ermöglichen, war kompliziert, aber erfolgreich. Eine andere Schule bot Eltern und Kindern an, sich einmal wöchentlich persönlich ein »Lernpaket« abzuholen. Im Kontakt mit den Lehrkräften wurde mir allerdings auch erneut bewusst, wie wenig ihnen häufig über Herkunft und Lebenssituation der Kinder bekannt ist. Als wir dann mit ihnen über die Hintergründe der Kinder sprachen, waren die meisten von ihnen aber wiederum sehr interessiert und boten ihre Unterstützung an. So war eine große Hilfe zum Beispiel, dass Kinder mit unzureichender Ausstattung ein Leih-iPad von der Schule erhalten konnten. Als klar wurde, dass die Corona-Krise nicht einfach nach Ostern vorbei sein würde, erhöhten sich die Anstrengungen der Schulen, die Kommunikation über eine Schul-Cloud zu verbessern. Der Kontakt der Lehrer*innen mit den Schüler*innen blieb jedoch unterschiedlich. Deshalb waren Freude und Erleichterung groß, dass nach und nach die ersten Schüler*innen wieder zur Schule »durften«, wenn auch nur tage- und stundenweise. Mein Eindruck ist, dass die Schulen hier wirklich ihr Möglichstes tun. Klar ist aber auch, dass diese Form des Unterrichts bedeutet, dass viel mehr Lehrer*innen gebraucht werden, weil jede Klasse in zwei Gruppen geteilt wird. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Vertretungslehrer*innen einspringen müssen, die versuchen, den notwendigen Fachunterricht in den Kernfächern sicherzustellen. Die sogenannten Nebenfächer entfallen zumeist. Bis zu den Sommerferien sind es nun nur noch wenige Wochen. Sie bieten die Chance, mit den Kindern Versäumtes nachzuholen oder Wissen zu vertiefen. Ich hoffe, dass wir uns dafür physisch treffen können und auch Nichtschulisches unternehmen dürfen. Mit Sorge lese ich allerdings, dass auch nach den Sommerferien der Schulbetrieb nicht wieder regulär in Betrieb genommen werden kann. Wir kennen und begleiten die Kinder seit drei Jahren und wissen um ihre Bemühtheit, ihren Fleiß, ihre Pünktlichkeit und Zugewandtheit. Ihr Engagement hat über diese ganze schwierige Zeit nicht abgenommen, trotz der beschriebenen Komplikationen (und immer mal wieder zusammenbrechender Telefonverbindungen). Unsere Arbeit ist jedoch nur ein kleiner Rettungsring für die Kinder, die in den deutschen Schulen ohnehin einen schweren Stand haben. Die Coronazeit verschärft dieses Problem nun enorm. Ich sehe da derzeit keine Lösung, außer Patenschaften für alle diese Kinder. Wer will mitmachen?