Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die politische Landschaft in der Ukraine im Vergleich zu den anderen postsowjetischen Staaten eine viel offenere, umkämpftere. Warum ist das so?

Die Ukraine hat ein eher wettbewerbsorientiertes, autoritäres Regime. Das politische System, das in diesem Land entstanden ist, war von Beginn an pluralistischer als etwa in Russland, Kasachstan oder Weißrussland. Einer der Hauptgründe dafür ist die kulturelle Vielfalt: Es gab sehr bedeutende regionale Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen, und das hat sich seit den 1990er Jahren auch in den Wahlergebnissen gezeigt. Egal, welcher Kandidat die Präsidentschaftswahlen gewann, er wurde von fast der Hälfte der Bevölkerung als illegitim angesehen.

Wie würdest du die ersten postsowjetischen Regierungen der Ukraine beschreiben?

Keine von ihnen war richtiggehend autoritär, die Ukraine war jedenfalls keine Diktatur. Das Hauptproblem für die Meinungsfreiheit war immer, dass Fernsehen, Radio und Presse überwiegend in privater Hand sind. Insofern hat es eher so funktioniert wie im Westen. Was die Wirtschaft angeht, könnte man sagen, dass der Staat unter Kutschma und später unter Janukowitsch für das ukrainische Kapital protektionistisch gewirkt hat. Mithilfe des Staates haben Gestalten wie Achmetow, Kolomojskyj und Pintschuk frühere sowjetische Industrieanlagen zu Spottpreisen erworben. Anschließend haben sie ein Vermögen verdient. Sie haben nicht etwa in die Anlagen investiert oder Modernisierungen vorgenommen, sondern sie haben die Betriebe benutzt, um schnell Geld zu verdienen, und dann haben sie ihr Kapital nach Zypern oder in andere Steueroasen verschoben.

Warum fiel der wirtschaftliche Einbruch der 1990er Jahre in der Ukraine so viel verheerender aus als anderswo?

Einer der wichtigsten Faktoren war, dass Russland über Bodenschätze – Öl und Erdgas – verfügt, was die Ukraine nicht tut. Deswegen konnte der Lebensstandard in Russland zumindest ein wenig besser gehalten werden. Die Ukraine hatte eine Menge Industrieanlagen, die für Hightech-Sektoren produzierten – Luftfahrt, Kybernetik, Raumfahrt –, und die hatten unter dem Zusammenbruch der Sowjetunion besonders zu leiden. Auch weite Teile der ukrainischen Maschinenbauindustrie und des Ingenieurswesens brachen zusammen, als sie ihre Verbindung zu den ehemaligen Sowjetrepubliken verloren. Was überlebte, war gegenüber Westeuropa nicht sonderlich wettbewerbsfähig. Die 1990er Jahre waren in der Ukraine eine Phase weitreichenden industriellen Niedergangs. Dennoch bedeutete der Anstieg der Güterpreise in den 2000er Jahren, dass sich die Wirtschaft ein Stück weit erholte, vor allem im Osten und dort vor allem im Hüttenwesen.

Wie würdest du die Präsidentschaft von Janukowitsch bis zu den Protesten Ende 2013 zusammenfassen?

Mit eine der ersten Amtshandlungen bestand darin, die Befugnisse des Präsidenten erneut auszuweiten. Janukowitsch hat aber nicht nur versucht, die politische Macht zu monopolisieren, sondern auch die finanzielle und wirtschaftliche Macht bei seinen Leuten zu konzentrieren, vor allem in seiner Familie. Das Ergebnis war ein ungeheures Ausmaß an persönlicher Korruption. Auf der wirtschaftlichen Ebene war die Ukraine, als er das Präsidentenamt übernahm, aufgrund der globalen Krise bereits schwer angeschlagen. 2010 begann Janukowitsch Austeritätsmaß- nahmen einzuführen, die natürlich schnell auf Ablehnung stießen.

Wie schätzt du das Assoziierungsabkommen mit der EU ein?

Ich würde sagen, dass Janukowitsch tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen hat, indem er die Verhandlungen darüber aussetzte. Die Freihandelsklauseln wären nur für wenige Sektoren der ukrainischen Industrie vorteilhaft gewesen; insgesamt hätten sie vor allem verschärfte Konkurrenz und den Verlust vieler Jobs bedeutet. Umfragen vom November 2013 zufolge befürworteten 40 Prozent der Bevölkerung die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens; weitere 40 Prozent sprachen sich für ein Abkommen mit der von Russland dominierten Eurasischen Zollunion aus. Als die Proteste begannen, handelte es sich also eindeutig nicht um einen landesweiten Volksaufstand.

Wie würdest du die Anfangsphase der Proteste auf dem Maidan beschreiben?

Anfangs bestand die Bewegung vor allem aus Angehörigen der Kiewer Mittelschicht und aus StudentInnen, die vor allem vom ›europäischen Traum‹ motiviert waren. Es gab auch eine starke antirussische, nationalistische Komponente. Die Protestbewegung stellte das Assoziierungsabkommen mit der EU und die Eurasische Zollunion von Anfang an in einen sehr starren Gegensatz zueinander, fast so, als gehe es um die Wahl zwischen zwei Zivilisationen.

Die ersten Versammlungen waren keineswegs klein: Am 24. November 2013, einem Sonntag, versammelten sich in Kiew etwa 50 000 bis 60 000 Menschen – eine der größten Kundgebungen seit Jahren. Die Parteien, die sich daran beteiligten, gehörten der parlamentarischen Opposition an. Die einzige von ihnen, die als basisdemokratische Kraft mit starken Ortsgruppen angesehen werden kann, ist Swoboda. Der ›zivilgesellschaftliche‹ Teil der Maidan-Proteste war neoliberal und nationalistisch orientiert.

Welche Auswirkungen hatte der Befehl, die BesetzerInnen des Maidan-Platzes anzugreifen?

Der Angriff und die Berichterstattung darüber trugen erheblich dazu bei, weitere Personen zu mobilisieren. Die Proteste, die in Kiew am 1. Dezember abgehalten wurden, waren riesig. Die Bewegung breitete sich auch geografisch aus: In fast jeder Stadt gab es jetzt einen Maidan.

Wie würdest du die Rolle der extremen Rechten in der Maidan-Bewegung einschätzen, quantitativ und ideologisch?

Nur eine kleine Minderheit der KundgebungsteilnehmerInnen gehörte der extremen Rechten an. Aber in dem Zeltcamp auf dem Unabhängigkeitsplatz waren sie keine so kleine Gruppe. Sie hatten aber die Stoßkraft einer organisierten Minderheit: Sie hatten eine klare Ideologie, sie arbeiteten effizient, gründeten ihre eigenen ›Hundertschaften‹ innerhalb der Selbstverteidigungsstrukturen. Darüber hinaus gelang es ihnen, ihre Parolen im Mainstream zu etablieren. Vor dem Euromaidan wurden diese nur in der nationalistischen Szene verwendet. Jetzt wurden sie überall geläufig. Daran zeigt sich, wem es im Zuge der Ereignisse wirklich gelungen ist, hegemonial zu werden.

Welche Rolle spielte die ukrainische Elite in den Protesten?

Sie waren eher während der Anfangsphase bedeutsam als später, also während der Phase des Euromaidan, bevor eine wirkliche Massenbewegung entstand. Liberale und fortschrittlich eingestellte Personen neigten dazu, die Maidan-Proteste zu unterstützen, ihre rhetorische Strategie bestand dabei darin, die Rolle der Rechten herunterzuspielen und zu behaupten, es handle sich um Übertreibungen der russischen Propaganda. Sie unternahmen aber nie etwas, um die Maidan-Bewegung von diesen Gruppen abzusetzen. Das war ein schwerwiegender Fehler.

Hat es denn Versuche gegeben, eine alternative, linke Version der Proteste zu entwickeln?

Der ukrainische Nationalismus hat heute vor allem diese rechten Konnotationen. Als er aber Ende des 19. Jahrhunderts entstand, handelte es sich um eine überwiegend linke und sogar sozialistische Bewegung. Die Forderung nach einem unabhängigen ukrainischen Staat wurde erstmals von einem Marxisten aufgestellt, Julian Bachinsky, der 1895 ein Buch mit dem Titel Ukraina Irredenta schrieb. Und es gab noch viele andere, die diese Forderung Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund marxistischer Positionen formulierten. Die heutigen Versuche, innerhalb des ukrainischen Nationalismus sozialistische Ideen wiederzubeleben, sind jedoch sehr marginal.

Auf dem Maidan-Platz hat die extreme Rechte eine Gruppe von Anarchisten vertrieben, die versucht hatten, innerhalb der Selbstverteidigungsstrukturen ihre eigene ›Hundertschaft‹ aufzubauen. Die Rechten haben auch Linke und GewerkschafterInnen körperlich angegriffen.

Hat sich die soziale und regionale Zusammensetzung der Maidan-Proteste von einer Phase zur anderen verändert?

Nachdem am 19. Januar die Gewalt einsetzte, waren die Menschen auf dem Maidan weniger wohlhabend und gebildet als in der Frühphase. Sie kamen seltener aus Kiew, eher aus Kleinstädten der Zentral- und Westukraine, einem viel ländlicheren Teil des Landes. Diese Regionen sind überwiegend arm, und sie befürworten natürlich stark die europäische Integration. Man könnte sagen, dass diese Maidan-Bewegung ein Stück weit eine Bewegung enteigneter ArbeiterInnen war.

Wie würdest du die Übergangsregierung beschreiben, die dann an die Macht kam?

Die extreme Rechte war in der neuen Regierung auf jeden Fall gut vertreten: Der Übergangspräsident, der Premierminister und mehrere andere Minister kamen aus Tymoschenkos Partei, aber auch vier Swoboda-Mitglieder waren im Kabinett vertreten. Es gab außerdem mehrere Personen, die zwar nicht Swoboda angehörten, aber ebenfalls aus der extremen Rechten kamen. Die Regierung ist jedoch eher als neoliberal zu beschreiben denn als rechtsextrem. Ihr Wirtschaftsprogramm bestand im Wesentlichen aus Austeritätsmaßnahmen. Es war ein Programm, das die Armen die Last der Wirtschaftskrise schultern lassen sollte.

Gleichzeitig begann die Ukraine, sich rasch zu polarisieren. Ab Ende 2013 gab es im Osten des Landen ›Anti-MaidanKundgebungen‹, die allerdings vor allem von Janukowitsch und der herrschenden Partei der Regionen orchestriert wurden. Nach dem Sturz von Janukowitsch nahmen die Proteste im Osten des Landes einen dezentraleren, eher von der Basis ausgehenden Charakter an, und sie wurden heftiger.

Was unterscheidet die Provinzen Donezk und Luhansk von den anderen, überwiegend russischsprachigen Gebieten der Ost- und Südukraine?

Es handelt sich um das am stärksten industrialisierte Gebiet der Ukraine und um das am stärksten verstädterte. Außerdem ist es die bevölkerungsreichste Region des Landes: Dort leben über sechs Millionen Menschen, mehr als 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Wirtschaft in Donezk und Luhansk beruht vor allem auf ehemaligen sowjetischen Betrieben: Kohlebergbau, Hüttenwesen. Die Oligarchen haben dem Staat diese Fabriken während der wilden Privatisierungen der 1990er Jahre mehr oder weniger gestohlen. Es handelt sich nach wie vor um sehr große Konzerne. Zum Beispiel beschäftigt der Oligarch Achmetow über seine Beteiligungsgesellschaft System Capital Management etwa 300 000 Menschen.

Viele dieser Industrieanlagen verkaufen den Großteil dessen, was sie produzieren, in Russland. Die Verbindung dorthin ist vielleicht auch ein Grund, weshalb die prorussischen Mobilisierungen in diesen Gebieten größer waren als etwa in Dnipropetrowsk oder Odessa, wo die Lokalwirtschaft viel weniger eng mit Russland verflochten ist.

Eine weitere Besonderheit des Donezbeckens besteht darin, dass die ethnische Identität dort historisch eine viel geringere Rolle gespielt hat als die regionale und die Berufsidentität. Die Menschen haben sich immer in erster Linie als Menschen aus dem Donezbecken oder als Bergarbeiter verstanden. Ausschlaggebend für die Mobilisierung der Ostukraine war auch, dass sich Teile der Maidan-Bewegung offen zeigten für den Kult der extremen Rechten rund um den Faschisten Stepan Bandera.

Inwiefern handelte es sich bei der Unterstützung der Bewegung durch russische Freiwillige um eine von der Putin-Regierung angestoßene Initiative?

Man kann nicht sagen, dass diese Menschen nur von außen gesteuert wurden. Die DemonstrantInnen waren eine sehr heterogene Gruppe: Manche forderten die Abspaltung der OstUkraine oder die Vereinigung mit Russland, aber viele andere wären bereits mit Bürgerentscheiden über die Autonomie der Ostukraine und die Föderalisierung des Landes zufrieden gewesen. Und diese Leute hatten auch Angst vor dem Rechten Sektor. Die Demonstrationen waren ziemlich groß: In Donezk zogen Anfang März Zehntausende Menschen auf die Straße. Zu einem Wendepunkt kam es allerdings Anfang April, als die russischen Freiwilligen eintrafen. Sie waren sehr gut ausgerüstet und haben die bewaffnete Übernahme von Slowjansk organisiert. Viele von ihnen sind rechtsextreme russische Nationalisten mit sehr konservativen Ansichten, deren Begehrlichkeiten noch weit über das Donezbecken hinausreichen: Sie betrachten Kiew als die Mutter aller russischen Städte, und sie glauben, dass ein viel größerer Teil der Ukraine annektiert werden sollte als nur der Osten.

Die Verklärung der Sowjetvergangenheit durch die Separatisten beruhte vor allem auf der imperialen Vorstellung von einem großen Land, das der amerikanischen Supermacht die Stirn bieten konnte. Die sozialistischen Elemente dieser Vergangenheit spielten kaum eine Rolle.

Am 25. Mai wurde in der Ukraine eine Präsidentschaftswahl abgehalten, aus der Petro Poroschenko als Gewinner hervorging. Was kannst du uns über Poroschenkos Person sagen?

Er ist Milliardär, laut Forbes die sechsreichste Person der Ukraine. Poroschenko ist Eigentümer des Süßwarenkonzerns Roshen, daher auch sein Spitzname »Schokoladenkönig«. Er besitzt aber auch andere Firmen, etwa den Fernsehsender Kanal 5. Politisch ist er für alles zu haben, er ist ein Opportunist: Ende der 1990er Jahre war er Mitglied einer ProKutschma-Partei, dann Mitbegründer der Partei der Regionen. Anschließend hat er seine eigene Partei gegründet, die Solidaritätspartei. 2004 hat er Viktor Juschtschenko unterstützt. Später wurde er Außenminister, unter Janukowitsch dann Handelsminister. Der Hauptgrund für seine gegenwärtige Beliebtheit ist aber wohl, dass er die Maidan-Bewegung unterstützt hat.

Die offiziellen Wahlergebnisse schienen auf einen Erdrutschsieg hinzuweisen. Aber vermutlich gab es hinter der scheinbaren Einmütigkeit erhebliche regionale Unterschiede.

Das ist richtig. Aber frappierend ist zunächst einmal die Wahlbeteiligung – die niedrigste bei einer Präsidentschaftswahl seit der ukrainischen Unabhängigkeit. Eine Umfrage in Donezk und Luhansk ergab, dass zwei Drittel der Befragten nicht vorhatten, sich an der Wahl zu beteiligen. Von diesen erklärten wiederum 50 Prozent, ihre Entscheidung habe politische Gründe: Sie sahen das Donezbecken nicht mehr als Teil der Ukraine an und vertrauten den KandidatInnen nicht. In der Westukraine und in Galizien war die Wahlbeteiligung viel höher, und Poroschenko schnitt sehr gut ab. In den meisten Teilen des Landes und selbst in Kiew wählten jedoch weniger Menschen als noch vor vier Jahren. Das bedeutet, dass Poroschenko nicht die einheitstiftende nationale Führungsfigur ist, die sich viele Menschen erhofft haben. Er ist der Präsident der West- und Zentralukraine. Es gibt auch ein gewisses Ressentiment gegen die Oligarchen: In den sozialen Netzwerken zirkulieren jetzt Bilder, auf denen das Gesicht von Janukowitsch mit dem von Poroschenko verschmilzt, wie um zu sagen, dass wir einen Oligarchen mit kantigem Gesicht gegen einen anderen ausgetauscht haben – war das wirklich ein Sieg für die Maidan-Bewegung?

Wie offen unterstützen die Menschen in der Ukraine die extreme Rechte?

Ich würde sagen, der Rechtsruck des politischen Mainstreams ist viel gefährlicher als die Unterstützung rechtsextremer Parteien durch die Bevölkerung, unabhängig davon, wie viele AnhängerInnen diese Parteien genau haben. Eine sehr verstörende Entwicklung ist die Verbreitung menschenfeindliche Rhetorik in der Ostukraine. Dort haben die Leute das schwarz-orangene Sankt-Georgs-Band als ihr Symbol gewählt; es erinnert an den Sieg über die Nazis während des von den Sowjets sogenannten Großen Vaterländischen Krieges.

Welche Auswirkungen hat der ›Anti-TerrorEinsatz‹ gehabt?

Ich vertraue weder der ukrainischen noch der russischen Berichterstattung – es sind so viele Falschmeldungen in Umlauf, und die Schilderungen der Ereignisse widersprechen sich. Es ist ein Informationskrieg. Was die Gefechte selbst angeht, so verteidigt die Armee meistens die Außengrenzen eines bestimmten Gebietes, aber ein Großteil der Kampfhandlungen wird von Sondereinsatzgruppen und Freiwilligenbataillonen übernommen, die formell dem Innenministerium unterstehen. Manche sind im Grunde die Privatarmeen von Oligarchen. Dann gibt es noch das Bataillon Asow, dem eine Menge Kämpfer der extremen Rechten angehören: Es gab Bilder von ihnen, wie sie sich unter ihrer gelben Fahne mit der Wolfsangel aufstellen.

Gekürzte Fassung des Interviews Ukraine’s Fractures, erschienen in der New Left Review 87 (6/2014). Aus dem Englischen von Max Henninger.