Die große Rezession hat den hiesigen Eliten die einmalige Chance eröffnet, zwei weitreichende Veränderungen voranzutreiben, die zuvor nicht durchsetzungsfähig waren: eine bislang beispiellose Einschränkung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und gleichzeitig die Schwächung der Interessenvertretungen der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst – eine der letzten Bastionen der nordamerikanischen Arbeiterbewegung. Spricht man vom Angriff auf den Öffentlichen Dienst, geht es in der Regel um Kürzungen. Genauso ernst zu nehmen sind aber die damit verbundenen Privatisierungen. Unternehmen können es schon kaum mehr erwarten, endlich Profit zu schlagen aus dem, was heute noch öffentlich organisierte Dienstleistungen sind. Unterstützt wird dies von Regierungen, die mit den Neustrukturierungen in den vergangenen Jahren gezielt auf die Privatisierung dieser Dienste hingewirkt haben. Die Staatsschuldenkrise muss dafür herhalten, diese Entwicklung als alternativlos darzustellen und zu forcieren. Bald werden wir also auf Leistungen verzichten müssen, die auf dem Markt unprofitabel sind. Wir werden außerdem Abstriche bei der Qualität machen müssen und viele Leistungen werden nur noch begrenzt zugänglich sein. In jedem Fall werden wir immer mehr dafür bezahlen müssen. Zweifellos muss dieses Szenario verhindert werden. Die Frage ist nur, wie?

Strategische Entscheidungen

Die Tradition der Gewerkschaften, sich hauptsächlich für die eigenen Mitglieder zu interessieren und einzusetzen, hat uns gespalten und dazu geführt, dass wir den Angriffen vonseiten der Unternehmen und des Staates relativ hilflos ausgeliefert sind. Regierungen nutzen diese Schwäche schon lange aus, um die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst zu isolieren – inzwischen tun sie dies unter Verweis auf die staatlichen Haushaltsdefizite mit noch größerer Vehemenz. Ein Teil ihrer Strategie besteht darin, so zu tun, als gebe es nur die Wahl zwischen zwei denkbaren Alternativen: Auf der einen Seite steht die Option immer weiter steigender Kosten für die Angestellten, die in dieser Logik zulasten der Leistungsfähigkeit der Behörden und Einrichtungen gehen; oder die Möglichkeit einer Erhöhung der Qualität der Dienstleistungen durch den Umbau, sprich die Privatisierung des Systems. Während es den Beschäftigten im öffentlichen Sektor Kanadas noch relativ gut geht, ist die Gefahr einer dauerhaften Spaltung der Arbeiterschaft noch größer geworden, seit dem Rest der Arbeiterklasse unendlich viel zugemutet wurde. Der Verlust gewerkschaftlicher Organisationsmacht im privaten Sektor, Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung und bei der Sozialhilfe sowie die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse – all das lässt den Unmut wachsen und verstärkt die Ressentiments gegenüber den Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes. Ein Strategiewechsel ist dringend notwendig: weg von traditionellen Lohnkämpfen und Tarifverhandlungen, hin zur Verteidigung des Öffentlichen Dienstes, als Kampf für qualitativ hochwertige und an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete soziale Dienstleistungen. Dies bedeutet für die Gewerkschaften, über unser Verhältnis zur Bevölkerung und zu den Beschäftigten im Öffentlichen Dienst anders nachzudenken. Wie kann es gelingen, über strategische Defizite öffentlich zu sprechen und gleichzeitig Vorschläge zu unterbreiten, wie Leistungen verbessert werden könnten? Wenn wir so weitermachen wie bisher und über business as usual nicht hinaus kommen, werden wir die fortschreitende Isolierung und Schwächung der im Öffentlichen Dienst Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen nicht verhindern können. Nur wenn wir es schaffen, einen größeren Teil der Bevölkerung und Öffentlichkeit auf unsere Seite zu ziehen, sind wir stark genug, um unsere Arbeitsplätze und gute Arbeitsbedingungen erfolgreich zu verteidigen.

Die Reaktionen der Gewerkschaften auf die aktuelle Situation sind unterschiedlich. Manche spielen die bestehende Bedrohung herunter oder versuchen sie gänzlich zu ignorieren. Andere wenden sich an die politischen Parteien in der Hoffnung, dass diese uns retten werden. Gewerkschaften werden wohl auch in Zukunft Millionen von Dollar investieren, in der Annahme, dadurch den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen. Die ›Sympathien‹ und die Bereitschaft der Parteien, unsere Anliegen zu unterstützen, sind jedoch begrenzt – darüber sollten wir uns nicht täuschen lassen. Es müsste vielmehr darum gehen, Politik neu zu definieren. Unser Ziel sollte darin bestehen, Organisationen und Kapazitäten der Arbeiterbewegung auszubauen und so zu stärken, dass man unsere Forderungen ernst nehmen muss. Für die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor heißt das, ihre beträchtlichen Ressourcen für die Durchsetzung eines politischen Programms zugunsten der gesamten Arbeiterklasse zu nutzen. Selbst wenn hierfür die Unterstützung bestimmter Kandidaten oder einer Partei bei Wahlen nötig wäre – es müsste sichergestellt sein, dass Wahlpolitik nicht an Stelle einer unabhängigen Mobilisierung der Gewerkschaftsbewegung tritt.

Beispiele für kreative und solidarische Eingriffe

Wir müssen diese Strategiedebatten aber nicht in einem historischen Vakuum führen, sondern können bei den aktuellen Auseinandersetzungen um die Erneuerung unserer Gewerkschaften auf Erfahrungen aus den Kämpfen der Vergangenheit zurückgreifen:

  1. Mitte der 1990er Jahre waren die Ontario Days of Action eine weltweit einzig- und neuartige Form des Protestes. Als Reaktion auf massive Sozialkürzungen und eine Aushöhlung des Arbeitsrechts schlossen sich Gewerkschaften mit verschiedenen sozialen Bewegungen zusammen. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren organisierten sie mit viel Disziplin und Fantasie in zahlreichen Kommunen Generalstreiks. Die GewerkschafterInnen waren gezwungen, ihre Verhandlungsroutinen aufzugeben und auch Nichtmitglieder vom Nutzen dieser Proteste zu überzeugen. Leider gelang es nicht, die in verschiedenen Städten neu geschaffenen Bündnisse zwischen Community- und Gewerkschaftsorganisationen auf Dauer zu stellen. Meist brachen sie recht schnell wieder auseinander, wenn wir den Ort verlassen hatten, um woanders den nächsten Generalstreik zu organisieren.
  2. Finanziert aus Mitteln der Canadian Union of Public Employees (CUPE), der größten Gewerkschaft in Kanada, fand im Herbst 2010 ein öffentliches Forum zu Kürzungen und Privatisierungen im Gesundheitswesen statt. Unter der Schirmherrschaft der Greater Toronto Workers’ Assembly wurde das Forum gemeinsam vom Ontario Council of Hospital Unions (OCHU) und von der Ontario Coalition Against Poverty (OCAP) organisiert. Im darauffolgenden Sommer gab es eine weitere Konferenz zum Thema »Armut und gesundheitliche Folgen« mit einer Reihe von sozialen Einrichtungen und Gesundheitsträgern.
  3. Als Toronto die Müllabfuhr privatisieren wollte, reagierte das Local 416 der zuständigen Gewerkschaft nicht einfach mit der Androhung eines Streiks, den sie wahrscheinlich sowieso nicht lange hätten durchhalten können. Stattdessen wurden eigens dafür ausgebildete GewerkschafterInnen eingesetzt, die – mit Informationen und Argumenten gegen die Privatisierung ausgestattet – von Haus zu Haus gingen und direkt mit den Menschen sprachen. Die Gewerkschaft der Beschäftigten in Elektrizitäts- und Wasserkraftwerken und die Vereinte Gewerkschaft der Transportarbeiter (Amalgamated Transit Union) haben in der Vergangenheit Foren organisiert, zu denen sie selbst die Öffentlichkeit einluden, um über die Qualität öffentlicher Dienstleistungen und Betriebe zu diskutieren und darüber, wie diese verbessert und erhalten werden können.
  4. Mitglieder der Lehrergewerkschaft bauten an einem Samstag mitten auf einem der belebtesten Plätze Torontos Tische und Stühle auf und korrigierten in aller Öffentlichkeit die Arbeiten ihrer SchülerInnen. Auf dem Tisch standen Schilder mit der Aufforderung: »Wenn Sie sich fragen, was wir hier tun, sprechen Sie uns bitte an.« Viele Passanten gingen darauf ein, sodass die LehrerInnen die Gelegenheit hatten, über ihre Arbeitsbelastungen zu informieren. Mit dieser Aktion reagierten sie auf die permanente Abwertung des Lehrerberufs und das Vorurteil, dass LehrerInnen angeblich nur wenige Stunden in der Woche arbeiten.
  5. Zu Beginn der 1990er Jahre gab es eine große Solidaritätsaktion der Gewerkschaften zur Unterstützung von Erwerbslosen, nachdem die Regierung den Zugang zur Arbeitslosenunterstützung erheblich erschwert und die Behörden dazu angehalten hatte, möglichst viele Hilfesuchende abzuweisen. Daraufhin informierten GewerkschaftsvertreterInnen die AntragsstellerInnen mit Flugblättern darüber, wie Fragen des Arbeitsamtes zu beantworten waren, um trotzdem Unterstützung zu erhalten. Da die Beschäftigten der Arbeitsämter mit Disziplinarmaßnahmen hätten rechnen müssen, hätten sie sich direkt an der Aktion beteiligt, wurden die Flugblätter von MitarbeiterInnen aus anderen Abteilungen und Festangestellten der Gewerkschaften verteilt.
  6. In den frühen 1990er Jahren zeigte die Canadian Union of Postal Workers (CUPW), wie man auch während eines Streiks Rücksicht auf die Interessen anderer Bevölkerungsgruppen nehmen kann. Diesmal ging es um die Senioren, die ihre monatliche Rente in der Regel auf dem Postweg zugestellt bekommen. Als die Postbeschäftigten während einer Tarifverhandlung ihre Arbeit niederlegten, nahmen sie die RentnerInnen davon aus und stellten ihre Schecks weiter zu. Sie wollten damit zeigen, dass sich ihr Streik nicht gegen sie, sondern nur gegen den Arbeitgeber richtete. Als die Regierung daraufhin die RentnerInnen dazu zwang, sich bei großer Hitze in langen Schlangen vor einem Warenhaus anzustellen, um dort persönlich ihre Schecks abzuholen, versuchten die Streikenden nicht, dies zu verhindern, sondern versorgten die Wartenden mit Wasser und Campingstühlen.
  7. Vor kurzem initiierten einige AktivistInnen aus den Reihen der Gewerkschaften und aus sozialen Bewegungen ein Unterstützungsprojekt für Frauen und Männer, die in der häuslichen Pflege tätig sind (vgl. Flanders in diesem Heft). Dies ist eine der am schnellsten wachsenden Berufsgruppen in Kanada und den USA, die zudem mit besonders niedrigen Löhnen zu kämpfen hat. ArbeiterInnen aus diesem Bereich waren von Beginn an in die Planung einbezogen, und es ging bei dem Projekt nicht darum, diese dazu zu bewegen, einer bestimmten Gewerkschaft beizutreten. Vielmehr überließ man die Entscheidung darüber, welche Form der Organisierung angemessen und erstrebenswert ist, den Beteiligten.

Neue Vorhaben

Man könnte noch weitere Beispiele aufführen, wie auf die zentralen Herausforderungen, die durch die gegenwärtigen Krise und durch die Austeritätspolitik für den öffentlichen Sektor in Kanada entstehen, kreativ reagiert werden kann. Wie wäre es, wenn streikende MitarbeiterInnen der kommunalen Verkehrsbetriebe in Zukunft Forderungen nach einem kostenlosen und frei zugänglichen öffentlichen Nahverkehrssystem unterstützen würden? Wenn sie nicht nur ihre Arbeit niederlegen und für eine bessere Entlohnung kämpfen, sondern sich zuvor auch öffentlichkeitswirksam weigern würden, Fahrkarten zu verkaufen und Fahrgastkontrollen durchzuführen? Wie wäre es, wenn die MüllwerkerInnen in ihrem wichtigen Kampf gegen die Privatisierung ihrer Betriebe dafür sorgen würden, dass sich während eines Streiks der Müll insbesondere im Finanzdistrikt auftürmt und weniger in unseren Grünanlagen? Und wie wäre es, wenn sich Lehrer, Hausmeister und Reinigungskräfte sowie ihre kollektiven Interessenvertretungen gemeinsam mit Eltern und lokalen Nachbarschaftsorganisationen gegen drohende Schulschließungen einsetzen würden? Oder wenn sie dafür sorgen würden, dass diese in soziale Zentren umgewandelt würden, wo öffentliche Versammlungen, Seminare für Erwachsene, Kinderbetreuung u.ä. stattfinden könnten?

Im Dachverband CUPE wird zurzeit eine weitere Idee diskutiert. Die regionale Sektion der Beschäftigten in Krankenhäusern (OCHU) hat in der Provinz zahlreiche Demonstrationen und lokale Kämpfe gegen Kürzungen im Gesundheitswesen durchgeführt. Sie versuchten dabei einen Weg zu finden, wie man einen Arbeitskampf führt, ohne dabei die Versorgung der PatientInnen und damit die öffentliche Unterstützung zu gefährden (vgl. Wolf in diesem Heft). Die Gewerkschaften erwägen nun, eine neue Taktik auszuprobieren: ein work-in statt eines Ausstandes, eine Form des ›Gegenstreiks‹. Dabei würden sich ganz viele MitarbeiterInnen außerhalb ihrer Dienstzeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt bei der Arbeit zurückmelden, um mit ihrer Präsenz auf die erdrückenden Arbeitsbelastungen aufmerksam zu machen sowie auf den rigiden Abbau von Betten und Stellen im Krankenhaussektor bei gleichzeitig gewachsener Nachfrage. Ziel solcher Aktionen wäre auch, deutlich zu machen, wie das Niveau der Versorgung aussehen könnte, wenn die Politik dem Gesundheitswesen einen größeren Stellenwert einräumen würde. Solche Streiks könnten nacheinander in verschiedenen Stadtteilen und Kommunen stattfinden. Es käme darauf an, dass die Öffentlichkeit begreift, dass es nicht die Beschäftigten sind, die die PatientInnen hängen lassen, sondern die Regierungen und Krankenhausverwaltungen. Mit dem Schritt, die Qualität von sozialen Dienstleistungen zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen, könnte ferner eine allgemeine Politisierung verbunden sein. Dies würde die Gewerkschaften in die Lage versetzen, zum einen die starke Machtposition des Managements anzufechten und zum anderen die staatliche Politik der Sozialkürzungen vehementer als zuvor anzugreifen.

Auf den ersten Blick drohen bei work-ins die Interessen der Beschäftigten gegen die Interessen der PatientInnen ausgespielt zu werden. Doch darin liegt auch die Stärke dieses Ansatzes. In der aktuellen Situation, die von Austeritätsprogrammen geprägt ist, werden die Gewerkschaften nämlich nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn es ihnen gelingt, sich diesem (vermeintlichen) Widerspruch zu stellen und neue Bündnisse mit anderen Bevölkerungsgruppen einzugehen. Die weit verbreitete Skepsis von Gewerkschaftsmitgliedern gegenüber dieser Taktik ist allerdings auch verständlich. Manche befürchten einen Verrat am Selbstverständnis, dass die Organisationsmacht von Gewerkschaften in ihrer Streikfähigkeit liegt – also im Entzug der Arbeitsbereitschaft ihrer Mitglieder – und nicht darin, Arbeitskraft unbezahlt zur Verfügung zu stellen. Für andere wirft dieser neue Ansatz im Unterschied zur alten Praxis zu viele Fragen auf und führt deshalb zu Verunsicherung. Wieder andere fürchten sich vor dem Aufwand, der damit verbunden wäre, die Mitglieder über den neuen Kurs aufzuklären und sie darauf einzustimmen. Es ist deshalb besonders wichtig, dass die Gewerkschaften ihren aktiven Mitgliedern überzeugend versichern können, dass sie alles tun, um die zentrale Koordinierung solcher Arbeitskämpfe zu gewährleisten. Auch dass sie ausreichend Ressourcen zur Verfügung stellen, damit auf der lokalen Ebene in den verschiedenen Gremien und Versammlungen genügend Unterstützung für die neue Taktik mobilisiert werden kann.

Egal wie die Sache ausgeht: Bereits jetzt hat die Debatte ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass grundsätzlich mehr Gewerkschaftsmitglieder in die Auseinandersetzungen um neue Strategien eingebunden werden müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Generationen von ArbeiterInnen vor uns haben kreative Antworten auf die Herausforderungen ihrer Zeit gefunden. Es ist nun an uns – den zahlreichen überzeugten AktivistInnen innerhalb der Arbeiterbewegung –, den Anfang zu machen und uns den hier aufgeworfenen Fragen ernsthaft zu stellen. Wir müssen sie offensiver in unsere Gewerkschaften hineintragen und solidarische Netzwerke sowohl zwischen den Gewerkschaftsorganisationen als auch mit anderen Bewegungen und Gruppierungen aufbauen. Nur so kann die weit verbreitete Frustration zu konkreter Hoffnung werden.

Dieser gekürzte Artikel erschien zuerst in The Bullet No. 516. Aus dem Amerikanischen von Britta Grell.