Darin sind circa 50 Gewerkschaften aus ganz verschiedenen Sektoren aktiv. Es hat sich in den letzten Jahren auch weltweit verbreitet, Gewerkschaften und Betriebsgruppen in Deutschland, der Türkei, Mosambik, Südafrika, Nigeria und kürzlich auch Kolumbien haben sich angeschlossen. Mit VidaViva wollten wir rund um das Thema »Gesundheit am Arbeitsplatz« eine effektivere Praxis entwickeln. Im Laufe der letzten 30 Jahre hatte es in Brasilien in fast allen Bereichen Umstrukturierungsmaßnahmen in Produktion und Dienstleistungen gegeben, verbunden mit massiven Verschlechterungen der Arbeitsverhältnisse. Die Unfallund Erkrankungsrate von Beschäftigten stieg in deren Folge dramatisch an. Gewerkschaften reagierten darauf vor allem, indem sie die juristische und medizinische Unterstützung für Beschäftigte ausbauten. Das war wichtig, aber es gab kaum präventive Arbeit, kaum Einflussnahme auf die Arbeitsbedingungen selbst. Dies spiegelte sich auch in Tarifauseinandersetzungen – oft galt: Monetarisierung von Gesundheit statt Prävention und bessere Arbeitsbedingungen. 2001 haben wir begonnen, gewerkschaftliche Arbeit dieser Art kritisch zu hinterfragen. Es sollte um eine Praxis gehen, die den Arbeitsplatz tatsächlich verändert. Wir waren am Anfang ein kleiner Kreis von vielleicht 20 AktivistInnen aus 16 unterschiedlichen Gewerkschaften. Das Netzwerk entwickelte sich daraus Schritt für Schritt. In den ersten Jahren ging es um die grundlegenden Fragen, die sich stellen, wenn wir gewerkschaftliche Arbeit in Richtung Aktivierung der Beschäftigten verändern wollen. Dazu haben wir Bildungs- und Organisierungsinstrumente entwickelt. Das TIE-Netzwerk ermöglichte es uns, auf Erfahrungen von Gewerkschaften in Nordamerika und Europa zurückzugreifen. Mit diesen, in einem kollektiven Prozess entwickelten Instrumenten werden heute lokale gewerkschaftliche MultiplikatorInnen geschult, die die jeweiligen Aktivitäten in ihren Betrieben umsetzen. In allen Modulen geht es um den Zusammenhang »Arbeit – Gesundheit – Leben«. Sie zielen darauf ab, die Beschäftigten zu mobilisieren. Über die Auseinandersetzung mit ihren Arbeitsbedingungen sollen sie gewerkschaftliche Forderungen und Aktionen selbst bestimmen. Was sind die wesentlichen Themen eures Netzwerks? Zentral sind die Umstrukturierungsmaßnahmen in Produktion und Dienstleistungen, die neuen Managementstrategien zur Produktivitätssteigerung sowie die Einbindungs- und Kooptierungsstrategien, mit denen Unternehmen Konkurrenz zwischen den Beschäftigten schüren. Die Prekarisierung der Beschäftigten ist ein weiteres wichtiges Thema – sie macht Solidarität und die Beziehung zwischen den Beschäftigten kaputt. Aber auch der Konsumismus spielt eine Rolle und seine Auswirkungen auf Gesundheit am Arbeitsplatz. Die gesellschaftlichen Konsumnormen halten die Beschäftigten an, über ihre Grenzen hinauszugehen, ihre Gesundheit zu schädigen und ihr soziales und familiäres Leben zu gefährden. Schließlich geht es natürlich darum, Widerstands- und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Allerdings ist es nicht leicht, Organisierung und Mobilisierung am Arbeitsplatz zu fördern. Auch wenn die Gewerkschaften immer betonen, dass sie genau das möchten, handeln viele doch nicht danach. Mit der Beteiligung von Mitgliedern und Beschäftigten muss man allerdings wirklich ernst machen, sonst werden unsere Instrumente auf bloße »Bildungsinstrumente« reduziert. Das hauptsächliche Ziel einer Gewerkschaft, die sich an VidaViva beteiligt, muss es sein, ihre Mitglieder und die Beschäftigten zu mehr Handlungsfähigkeit zu ermächtigen. Warum ist internationale Solidarität für euer Netzwerk von Bedeutung? Was bei uns in Brasilien in der Arbeitswelt geschieht, geschieht auch in vielen anderen Ländern. Es geht um eine Reorganisation des Kapitals, das seine Strategien optimiert und diese weltweit umsetzt. Multinationale Unternehmen entwickeln Programme, die die Subjektivität der Beschäftigten ansprechen, um ihre Herzen und Köpfe zu gewinnen und diese in den Dienst der Produktion zu stellen. Es ist deshalb unverzichtbar, Widerstand und das Lernen von Anderen zu internationalisieren. Marx war nie aktueller als heute. Wir haben deswegen das Netzwerk zunächst auf verschiedene Branchen in Brasilien und danach auf andere Länder ausgeweitet. Dazu haben wir AktivistInnen aus anderen Ländern (Deutschland, Mosambik, Türkei, Südafrika, Kolumbien) unsere Vorgehensweisen vorgestellt und gemeinsam diskutiert. Je nach Kontext wurden sie übernommen, angepasst oder völlig eigenständig entwickelt. Solidarität heißt, von der Praxis und den Instrumenten der andern zu lernen, um sie effektiver zu gestalten. So haben wir so etwas wie ein alternatives Benchmarking für gute Praxis geschaffen. Kannst Du ein konkretes Beispiel für internationale Solidarität geben? Für VidaViva und auch TIE ist Solidarität ein gegenseitiges Prinzip. Wir wollen das gängige Verständnis aufbrechen, Solidarität sei eine eindirektionale Nord-Süd-Beziehung, in der die einen von den anderen unterstützt werden. In vielen Projekten bemühen wir uns um eine Süd-Süd- oder auch Süd-Nord-Beziehung. Ein konkretes Beispiel hierfür ist unser »Forum gewerkschaftliche Aktion«. Regional und international vergleichen wir konkrete Verhandlungserfahrungen, Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen oder auch Lösungsansätze. Jede Gruppe oder Gewerkschaft kann über unser Netzwerk ihre Probleme schildern und nach entsprechenden Lösungsansätzen suchen – dabei wird außerdem gemeinsam Klassenzugehörigkeit erfahrbar. Was sind die größten Hürden für internationale Solidarität? Ein erstes Hindernis liegt bei uns selbst. Wir versuchen unterschiedliche Akteure innerhalb der Gewerkschaften zu beteiligen, insbesondere die KollegInnen an der Basis. Das braucht Zeit. Nicht alle AktivistInnen und InteressenvertreterInnen sind wirklich offen dafür, von anderen zu lernen und eine neue, aktivierende Praxis zu entwickeln. Sprache ist eine weitere Herausforderung. Oft gibt es keine Ressourcen, um etwas zu übersetzen oder eine internationale Debatte wirklich führen zu können. Hier geht es dann unter Umständen tatsächlich um Unterstützung »von außen«. Dem Kapital gelingt es immer wieder, uns als Klasse zu spalten. Besonders in Krisen, wenn es oft um das nackte Überleben geht, ist es schwierig, solidarische Beziehungen aufzubauen. In solchen Momenten verstärken sich Vorurteile und soziale Spaltungen, die im Extrem bis zu Xenophobie reichen können. Worin liegen die Unterschiede in euren verschiedenen internationalen Kooperationen? Es gibt große Unterschiede hinsichtlich der Möglichkeiten der Organisierung und der jeweiligen Gewerkschaftsstrukturen. Während in Deutschland gewachsene betriebliche Interessenvertretungen mit Betriebsräten und weitgehenden Rechten existieren, gibt es in den Ländern des Südens kaum vergleichbares. Nur ungefähr 3 Prozent der brasilianischen Gewerkschaften haben eine innerbetriebliche Interessenvertretung (Fabrikkommission). Das ist in all den Ländern des Südens, in denen wir arbeiten, ähnlich, es braucht mehr Kreativität und Verhandlungsgeschick, um am Arbeitsplatz aktiv zu werden. Gemeinsame Erfahrungen erleichtern einen Süd-SüdAustausch von Strategien. Es gibt jedoch auch große Unterschiede zwischen den Ländern des globalen Südens. So sind in den Betrieben Kolumbiens ein Großteil oder sogar die Mehrheit der Beschäftigten outgesourct. Das ist in Brasilien noch nicht der Fall. Die VidaViva-Instrumente werden hier sehr unterschiedlich angewendet. In Kolumbien werden sie als Strategie zur Organisierung und Gründung neuer Gewerkschaften genutzt. In Mosambik dagegen gibt es bereits Fabrikkomitees; diese agieren jedoch – wenn überhaupt – sehr hierarchisch. Hier geht es darum, die Beschäftigten stärker zu beteiligen. Wer sind eure Partner im Norden und Süden? In Deutschland arbeiten wir in der Regel direkt mit Betriebsräten oder Betriebsratsgruppen im Metall- und Chemiesektor oder auch dem Einzelhandel. In Mosambik lief der Kontakt zunächst über die Dachverbände. In Brasilien arbeiten wir direkt mit den einzelnen Betriebsgewerkschaften. In Kolumbien bilden 14 Gewerkschaften gemeinsam eine Plattform zur Umsetzung. Wir achten darauf, flexibel agieren zu können. Entscheidend ist, dass AktivistInnen und Gruppen wirklich autonom je nach ihren Bedürfnissen kollektive Prozesse entwickeln können. Wenn Du an Prozesse internationaler Kooperation heute und vor zehn Jahren denkst – gab es Fehler, die Ihr überwunden habt? Sicherlich haben wir Fehler gemacht und daraus gelernt. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Programm, das wir vor 20 Jahren in Brasilien entwickelt hatten: Mit dem sogenannten Kakao-Projekt wollten wir die Organisierung von Beschäftigten entlang der Wertschöpfungskette unterstützen. Das Ziel war klar, aber unsere Strategien erwiesen sich als ungenügend. Wir haben uns damals vor allem auf den Informationsaustausch zwischen Personen und Betriebsgruppen konzentriert, dabei sind aber keine nachhaltigen Mechanismen entstanden. Diese Erfahrung half uns aber beim Aufbau von VidaViva, wo wir darüber hinaus Bildungs- und Organisierungsinstrumente entwickelt haben, die die direkte gewerkschaftliche Aktion der Beschäftigten anregen. Wir unterstützen Aktivitäten, in denen Beschäftigte ihre Erfahrungen und ihr Wissen einbringen und sich als Subjekte artikulieren. Auch wenn dieser Prozess durch uns angestoßen wird, hoffen wir, dass er von den Beschäftigten politisch angeeignet wird und in die alltägliche politische Arbeit eingeht.