Vor 15 Jahren wurde die erste Uniklinik privatisiert. Nun könnte das Land Hessen Asklepios enteignen und das Uniklinikum Gießen/Marburg in öffentliches Eigentum zurückholen - das sagt ein neues Rechtsgutachten. Ein Interview über die Kämpfe am Klinikum Gießen/Marburg und die Perspektive der Beschäftigten.
Mit Wirkung zum 1. Juli 2005 wurden das Universitätsklinikum Gießen und das Universitätsklinikum Marburg durch das Land Hessen zu der neu errichteten Anstalt des öffentlichen Rechts Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) fusioniert. Anfang 2006 übernahm die Rhön-Klinikum AG das UKGM zu 95 Prozent, fünf Prozent der Geschäftsanteile verblieben beim Land Hessen. Das UKGM wurde damit zum ersten privatisierten Universitätsklinikum in Deutschland. Das war vor 15 Jahren. Was hat sich durch die Privatisierung seither verändert?
Bettina: Als die Privatisierung vom damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) bekannt gegeben wurde, war das für Marburg ein großer Schock. Die Beschäftigten in Marburg waren gegen die Privatisierung. In dieser Zeit gab es eine Menge Proteste. So wurde etwa eine Bürgerinitiative gegründet. Wir haben 30.000 Unterschriften gegen die Privatisierung gesammelt und unter anderem eine Demonstration mit über 3.000 Teilnehmer*innen organisiert. Als die Privatisierung kam, wurden viele Stellen abgebaut – ohne dass man sich die Abläufe genauer angeschaut hat. Das haben wir Rasenmäherprinzip genannt. Für Marburg kann ich sagen, dass 2007 allein in der Pflege über 97 Vollzeitstellen reduziert wurden. Auch vor der Fusionierung wurde hier zwar gekürzt. Alles, um die schwarze Null zu halten. Es ging dann aber fleißig weiter.
Johannes: Seit Jahrzehnten gibt es zu wenig Personal in der Pflege. Als wir verkauft wurden und der Neubau entstand, hieß es, dass wir in der Folge weniger Betten hätten und daher mit dem Personal gut auskämen. Wir kommen mit dem Personal aber nicht aus. Denn es sind schon vor der Privatisierung Stellen abgebaut worden. Aufgebaut wurde hingegen nur dort, wo es unbedingt nötig war – etwa wo eine neue Abteilung entstanden ist oder wo gesetzliche Vorgaben eine Mindestmenge an Personal vorschreiben. Zu einer Verbesserung der Personalsituation hat das nicht geführt.
Waren es vor allem Einsparungen in der Pflege?
Bettina: Nein, eingespart wurde auch in anderen Bereichen. 2008 wurde zum Beispiel die Wäscherei in Marburg geschlossen und mit dem Standort Gießen zusammengelegt. Somit sparte man im ersten Schritt Personalressourcen ein. In zähen Verhandlungen haben wir versucht klarzumachen, dass die Wäscherei in Marburg rentabel ist. Aber sie wurde 2008 trotzdem geschlossen. Die Mitarbeiter*innen wurden entweder nach Gießen versetzt. Oder sie wurden über den Sozialfond umgeschult. Die Rhön AG hat schließlich auch eine Servicegesellschaft Gießen Marburg gegründet: Lager, Fahrdienst, interner Transportdienst, Küche, Reinigungskräfte, Hausangestellte und Gärtner*innen – rund 520 Beschäftigte wurden in diese Servicegesellschaft ausgegliedert. Wir haben zwar einen Service-Tarifvertrag für die Servicegesellschaft ausgehandelt, aber das war eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
Johannes: Übrigens wurde die Wäscherei in Gießen dann auch sehr schnell geschlossen mit dem Argument, dass die Maschinen zu alt und das Gebäude marode wären. Seitdem wird unsere Wäsche in Hagen gewaschen. Die Wäsche fährt nun also einmal quer durchs Sauerland und zurück.
Gibt es noch andere Punkte, die zeigen, dass sich die Situation durch die Privatisierung verschlechtert hat?
Johannes: Wir merken das praktisch bei jeder Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber. Die Standardantwort lautet: Das geben die Zahlen nicht her. Die Geschäftsführung schaut auf die Ergebnisse nur in Form von Zahlen, vergleicht, was die Abteilung liefert, und dann kommt immer dieselbe Antwort: Die Zahlen geben das nicht her. Die Situation vor Ort wird nicht berücksichtigt – dass man sich totrennt, keine Luft mehr bekommt und kaum Pausen macht. Es besteht gar nicht die Chance, der Geschäftsführung begreiflich zu machen, dass es manchmal mit den Zahlen auf dem Papier nicht getan ist. Entsprechend gibt es zahlreiche Überlastungen bei den Beschäftigten.
Fabian: Ja, der Benchmark ist das wesentliche Instrument, mit dem Stationen untereinander verglichen werden. Personalstellen werden also nicht Bedarf der Patient*innen aus geplant. Die Geschäftsführung bestreitet daher auch, dass es eine Personalbemessung gibt, nach der Stellen berechnet werden. Es gibt deswegen zum Beispiel auch keine öffentlich zugänglichen Stellenpläne. Vielmehr werden einfach Zahlen unterschiedlicher Stationen miteinander verglichen.
Was ist das Problem an den Benchmarks?
Fabian: Du kannst ein Kreiskrankenhaus nicht mit einer Uniklinik vergleichen. Eine Uniklinik hat eine ganz andere Komplexität von Fällen. Hier gibt es besonders schwere Fälle mit hohem Pflegeaufwand. Eine Patientin hat dann beispielweise mehrere Leiden, die behandelt werden müssen. Ein Kreiskrankenhaus hat ganz andere Fälle. Der Pflegebedarf lässt sich nicht gleichsetzen, wenn unterschiedliche Größen verglichen werden. Wenn ich also nicht von den Bedürfnissen der Patient*innen ausgehe, sondern nur irgendeine internistische Station mit einer beliebigen anderen internistischen Station vergleiche.
Johannes: Ich denke, es wird geschaut, mit wie wenig Personal die Arbeit gerade noch geleistet werden kann. Im Vordergrund steht die Maßgabe, mit möglichst wenig Leuten möglichst viel zu leisten.
Man kann sicher sagen, dass die europaweit einmalige Privatisierung eines Universitätsklinikums der Höhepunkt einer neoliberalen Politik war, die das Dogma vertritt, dass Markt und Wettbewerb alles regeln. Aber ist das UKGM ein Einzelfall?
Fabian: Na ja, zum Kontext der Privatisierungen der Unikliniken Gießen und Marburg gehört auch, dass etwa in Lich, einer Kleinstadt bei Gießen, das Kreiskrankenhaus an Asklepios verkauft wurde. Im Landkreis Marburg ist es ähnlich verlaufen. In beiden Landkreisen existieren heute also keine öffentlichen Kliniken mehr. Wenn wir zum Beispiel im Bereich der Geburtshilfe schauen, gibt es keine Wahlfreiheit für Gebärende. Im Kreis Marburg-Biedenkopf gibt es einen gewinnorientierten Anbieter; und im Kreis Gießen gibt es entweder kirchliche, konfessionelle Häuser oder Privathäuser zum Entbinden. Gute Gesundheitsversorgung sieht für mich schlicht und einfach anders aus.
Was habt ihr gegen die Privatisierung des UKGM und die Verschlechterungen gemacht?
Fabian: Es ist eine große Solidarität der Bevölkerung mit den Beschäftigten und ihren Kliniken entstanden sowie das Bewusstsein, dass auch Bürger*innen dafür etwas tun müssen. Unter den Beschäftigten hat sich ein stärkeres gewerkschaftliches Bewusstsein entwickelt. In der groben Linie konnten wir über die Jahre die schlimmsten Pläne verhindern. Mittlerweile gibt es im Wesentlichen zwei Ausgliederungsbereiche: eine Servicegesellschaft und die Reinigung. Eine unserer wesentlichen Auseinandersetzungen ist bis heute, diese Ausgliederungen möglichst einzudämmen bzw. zurückzudrehen. Es ist uns gelungen, einen Teil der Beschäftigten aus der Rhön-Reinigungsgesellschaft wieder auf die tarifpflichtige Ebene des Konzerns zurückzuholen. Aber das ist eine andauernde Auseinandersetzung bis heute. Was aber nicht verhindert wurde, war die Leistungsverdichtung mit dem Stellenabbau. Das hatte zur Folge, dass sowohl die Arbeit als auch deren Ergebnisse schlechter geworden sind. Obwohl in vielen Bereichen natürlich gute Pflege stattfindet, wäre sie ohne die Verdichtung ohne Zweifel besser.
Waren das vor allem betriebliche Auseinandersetzungen?
Bettina: Im Betrieb selber gab es viele Aktionen gegen den Stellenabbau, gegen Leistungsverdichtung und die Forderung, keine weiteren Bereiche auszugliedern. Gleichzeitig wurde uns eine große Solidarität in Marburg und dem Landkreis entgegengebracht. Auch das Marburger Stadtparlament hat in Beschlüssen immer wieder festgehalten, dass die Privatisierung ein Fehler ist und für die Beschäftigten gestimmt. Es gab mehrfach Anträge an die Landesregierung und offene Briefe an den Ministerpräsidenten. In Marburg wurde von Bürger*innen und Ärzt*innen die Initiative Notruf 113 gegründet. Sie hat die Mängel öffentlich gemacht, die Patient*innen im Krankenhaus erleben. Anfang 2012 entstand das «Aktionsbündnis Gemeinsam für unser Klinikum», das die Kirche, die Gewerkschaften, Bürger*innen, Patienten*innen und Parteien auch außerhalb von Marburg zusammenbrachte. Wir sind auf die Straße gegangen, haben mit den Menschen geredet, viele Aktionen gemacht. Wir haben die Politik sofort mit eingebunden und sind in die Öffentlichkeit gegangen. Intern wurde immer diskutiert, wie wir als Arbeitnehmervertretung oder auch als Gewerkschaft nach außen gehen. Wir haben versucht, alle mitzunehmen, und das hat funktioniert. Ich bin sicher: Die Privatisierung des UKGM war ein Testballon für bundesweite Privatisierungen von Universitätskliniken. Dass es so weit nicht gekommen ist, ist ein Erfolg unserer Proteste.
Fabian: Das Besondere am Aktionsbündnis ist – das große Lob geht an die betrieblich Aktiven –, dass sie immer dieses breite Bündnis gesucht haben. Es gab das Bewusstsein, dass man das gemeinsam mit anderen schaffen muss. Auf den Bildern von den Großdemos sind von Autonomen bis zur Kirche alle zu sehen. Wir waren bemüht, uns gegenseitig nicht abzugrenzen. Wir haben das gemeinsame Ziel gesehen und zunächst versucht, die Privatisierung zu verhindern. Das hat zwar nicht geklappt. Aber daraus ist Solidarität mit den Beschäftigten gegen den späteren Stellenabbau entstanden. Das ist der Lernerfolg für mich: Es kann funktionieren, wenn Leute zusammenarbeiten, die vielleicht nicht in jedem einzelnen Punkt einer Meinung sind, die aber einen gemeinsamen Blick auf Gesundheitsversorgung haben. Das Aktionsbündnis ist ein ernst zu nehmender Akteur in der Region geworden. Es findet in beiden Städten, auch jeweils in der Lokalpresse, Widerhall.
Es gab im letzten Jahr neuere Entwicklungen. Ihr habt nicht mehr die Rhön-Klinik AG als Gegnerin, sondern den Asklepios-Konzern, der die Rhön AG aufgekauft hat. Gegen diese Übernahme habt ihr protestiert. Was befürchtet ihr?
Johannes: Für Gießen-Marburg, einen nicht geringen Teil der Rhön AG, ist das derzeit noch etwas schwer abzuschätzen. In Ankündigungen oder Verlautbarungen von Asklepios war aber schon von Synergien die Rede. Da wird man schon ein bisschen vorsichtig und muss nachfragen. Was kann das bedeuten? Synergie hatte meist die Bedeutung, dass mit weniger Leuten die gleiche Arbeit geschafft werden muss. Als Betriebsrat haben wir dem Arbeitgeber daher eine Betriebsvereinbarung zukommen lassen, in der stand, dass es für die nächsten fünf oder sechs Jahre keine Ausgliederung, keine Entlassungen und Ähnliches geben wird. Aber eine Antwort haben wir darauf noch nicht bekommen.
Ihr habt vor Kurzem auch einen offenen Brief an die Landesregierung überreicht. Mit Blick auf die Übernahme geht es um die Sorge, dass Asklepios Ausgliederungen anstreben könnte und arbeitnehmerfeindlich agiert. Was fordert ihr?
Fabian: In erster Linie geht es darum, dass die Inhalte der Vereinbarung zur Trennungsrechnung[1] bestehen bleiben. Das bedeutet, die Übernahme der Auszubildenden, Kündigungsschutz und Ausgliederungsverbot. Uns geht es aber auch um den Erhalt der Ausbildungseinrichtungen wie der Schulen, die es am Uniklinikum gibt, und die Einführung von Personalmindeststandards sowie den Erhalt und eine weitere Verhandlung der Tarifverträge. Die große Sorge ist, dass perspektivisch ein Ausstieg aus den Tarifverträgen drohen könnte. Wir fordern aber auch etwa klare Mindeststandards – zum Beispiel, wie viele Quadratmeter muss eine Kollegin in der Reinigung saubermachen, wie viele Patient*innen muss ein Pfleger auf Station versorgen. Diese Fragen soll die Landesregierung klären und entweder mehr Geld in die Hand nehmen. Oder sie muss politisch dafür einstehen und entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen. Aber auch hier sehen wir ein bisschen Bewegung: Roland Koch hat das Gespräch mit den Beschäftigten noch konsequent verweigert; von Volker Bouffier (CDU) werden Schreiben des Aktionsbündnisses immerhin beantwortet.